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ASIEN/579: Obama auf der Suche nach einer Afghanistan-Strategie (SB)


Obama auf der Suche nach einer Afghanistan-Strategie

Truppenaufstockungspläne des Pentagons ins Stocken geraten


Zwei Tage vor der Ankunft Richard Holbrookes, des Sondergesandten der neuen US-Regierung von Präsident Barack Obama, in Kabul hat die Taliban den vielleicht spektakulärsten Anschlag in der afghanischen Hauptstadt seit dem Einmarsch westlicher Streitkräfte in Afghanistan im Oktober 2001 durchgeführt. Fast zeitgleich griffen bewaffnete Männer, unter ihnen Selbstmordattentäter, das Justizministerium, das Bildungsministerium und eine Behörde des Strafvollzugsystems an. Es kam zu Kämpfen und Geiselnahmen. Stundenlang waren in der Stadt Schüsse und Explosionen zu hören. Am Ende waren 26 Menschen tot und mehr als 60 verletzt. Angesichts eines solchen von den Taliban angerichteten Ausmaßes an Gewalt am hellichten Tag in der Hauptstadt Afghanistans, die aus Sicht der USA und ihrer NATO-Verbündeten als sicherster Ort im Lande gilt, fühlt man sich an die Angriffe der Vietkong auf Saigon im Rahmen ihrer Tet-Offensive erinnert. Auch wenn der Vergleich nicht ganz paßt - die Tet-Offensive dauerte Monate und kostete Tausenden von Menschen das Leben - läßt der organisatorisch komplizierte Mehrfach-Anschlag der Taliban in Kabul erkennen, daß sich die ausländischen Streitkräfte in Afghanistan langfristig so wenig werden halten können, wie einst die Amerikaner in Vietnam.

Bis sich in Washington diese Erkenntnis durchsetzt, kann es noch lange dauern. Schließlich zogen die USA erst sieben lange Jahre nach der Tet-Offensive ihre letzten Soldaten aus Südvietnam ab. Die Niederlage in Vietnam gilt aus Sicht von Amerikas Militaristen als Schmach, den man Pazifisten und Vaterlandsverrätern an der Heimatfront zu verdanken habe und kein zweites Mal über sich ergehen lassen werde. Zu dieser verbohrten Sichtweise bekannte sich der angebliche Liberale Obama in seiner Anttrittsrede auf den Stufen des Kapitols am 20. Januar, als er davon sprach, amerikanische Soldaten hätten über die Jahrhunderte ihr Leben für die Freiheit gegeben, und in diesem Zusammenhang die Schlacht von Khe Sanh in einem Atemzug mit denen von Concord, Gettysburg und der Normandie nannte. Durch diese rhetorische Geste hat Amerikas neuer Hoffnungsträger den damaligen Völkermord in Südostasien auf die gleiche moralische Stufe wie den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, den US-Bürgerkrieg und den Zweiten Weltkrieg erhoben und sie damit quasi rehabilitiert.

Im Wahlkampf hatte sich Obama dafür stark gemacht, US-Streitkräfte aus dem Irak abzuziehen und sie nach Afghanistan zu verlegen. Dort sollen sie die wiedererstarkten Taliban bezwingen, das Al-Kaida-"Netzwerk" lahmlegen und Osama Bin Laden, den mutmaßlichen Drahtzieher der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001, endlich zur Strecke bringen, selbst wenn sie dabei die Rückzugsgebiete des afghanischen Widerstandes in der Grenzregion Pakistans angreifen müßten. Ende 2008, Anfang 2009 war davon vielfach die Rede, das Pentagon wolle zu diesem Zweck die Zahl der US-Soldaten in Afghanistan von derzeit 30.000 auf mehr als 60.000 verdoppeln und erwarte ähnliche Truppenaufstockungen seitens der NATO-Verbündeten. Als Zeichen der Entschlossenheit von Amerikas neuem Präsidenten wurde die Tatsache gedeutet, daß mit dessen Einverständnis am 23. Januar die CIA per Drohne Raketen auf ein pakistanisches Dorf abfeuerte und 22 Menschen tötete. Unter den Getöteten sollen einige Taliban-Mitglieder gewesen sein. Ob dies stimmt, weiß man nicht. Sicher dagegen ist, daß der Angriff nicht wenige Frauen und Kinder das Leben kostete und deshalb in der pakistanischen Öffentlichkeit für Empörung sorgte.

Nichtsdestotrotz scheint in den letzten Tagen bei Obama die anvisierte Truppenaufstockung in Afghanistan an Dringlichkeit nachgelassen zu haben. Hierfür kann es mehrere Gründe geben. Am 2. Februar haben bewaffnete Taliban-Anhänger eine strategisch wichtige Brücke über eine Schlucht im Khyber-Paß, über den der größte Teil des Nachschubs für die NATO-Streitkräfte am Hindukusch von der Hafenstadt Karatschi nach Afghanistan per Lastwagen transportiert wird, gesprengt. Am selben Tag hat Kirgistans Präsident Kurmanbek Bakijew die Schließung des Luftwaffenstützpunktes Manas für das US-Militär, über den das Pentagon viel Personal und nicht wenig Ausrüstung nach Afghanistan transportiert, bekanntgegeben.

Am 8. Februar meldete die Londoner Sunday Times, Obama hätte eine von Verteidigungsminister Robert Gates für Anfang Februar geplante Bekanntgabe der Entsendung von 17.000 Angehörigen der US-Armee und -Marineinfanterie nach Afghanistan vorerst verschoben. Anlaß der überraschenden Entscheidung des Weißen Hauses soll Obamas Unzufriedenheit mit der derzeitigen Strategie der US-Generalität in Afghanistan bzw. mit dem völligen Fehlen derselben gewesen sein. In dem Sunday-Times-Artikel mit dem Titel "Obama puts brake on Afghan surge" schrieben Sarah Baxter and Michael Smith: "Bei seinem ersten Treffen mit Gates und den Vereinigten Stabchefs im vergangenen Monat im "Tank", einem sicheren Konferenzzimmer im Pentagon, zeigte sich der Präsident über die fehlende Strategie besorgt. Er fragte: 'Wie sieht das Endziel aus?' und hat keine überzeugende Antwort erhalten."

Beim linken Flügel der Demokraten hat Obamas Entscheidung, sich erst einmal gründlich über die verschiedenen Handlungsoptionen in Afghanistan informieren zu lassen, Erleichterung ausgelöst. Die Kriegsgegner unter den Parteikollegen des Präsidenten in Repräsentantenhaus und Senat befürchten, daß sich Obama in Afghanistan genauso verheddern könnte, wie seinerseits Lyndon B. Johnson in Vietnam. In einer Meldung vom 8. Februar zitierte die Nachrichtenagentur Associated Press die eindringliche Warnung, die der australische Aufstandsbekämpfungexperte, Oberst a. D. David Kilcullen, den in den letzten Jahren sowohl die damalige US-Außenministerin Condoleezza Rice als auch General David Petraeus, seinerseits Oberbefehlshaber im Irak, heute CENTCOM-Chef, zu Rate gezogen haben, vor kurzem in Sachen Truppenaufstockung vor dem außenpolitischen Ausschuß des Senats in Washington ausgesprochen hatte: "Man muß sich nur vor Augen führen, wie wir in Vietnam verfahren sind: wir eskalierten das Ganze, stürzten den Präsidenten, übernahmen die Verantwortung für das Problem, versuchten, es zu lösen und stellten fest, daß wir es nicht lösen, daß wir es uns nicht leisten konnten. Deshalb meine ich, daß wir extrem vorsichtig sein sollten, bevor wir uns dazu verpflichten, die Sache soweit zu eskalieren, daß wir keinen Rückwärtsgang mehr einlegen können."

Am 9. Februar hat Kilcullen auf seinem in militärischen Kreisen vielbeachteten Blog namens Small Wars Journal die Raketenangriffe der CIA auf mutmaßliche Taliban-Ziele in Pakistan wegen der negativen öffentlichen Auswirkungen als kontraproduktiv bezeichnet und sich gegen die weitere Verwendung dieser Maßnahme - es sei denn um einen unmittelbar bevorstehenden Anschlag zu verhindern - ausgesprochen. Interessanterweise hat gleich am nächsten Tag Robert Gibbs, der Sprecher des Weißen Hauses, bekanntgegeben, daß Präsident Obama eine Arbeitsgruppe unter der Leitung von Bruce Riedel eingesetzt hat, welche die Politik der USA in Afghanistan und Pakistan einer Generalüberprüfung unterziehen soll.

Riedel war 26 Jahre lang Analytiker bei der CIA und hat als Südasienexperte des Nationalen Sicherheitsrats drei Präsidenten beraten. Der Autor des neuen Buchs "The Search for Al Qaeda - Its Leadership, Ideology and Future", arbeitet seit 2006 für die den Demokraten nahestehende Denkfabrik Brookings in Washington, gilt als Pragmatiker, der eine politische Lösung der komplizierten Probleme in Südasien einer militärischen vorzieht, und hat sich schon in der Vergangenheit gegen CIA-Raketenangriffe auf Ziele in Pakistan ausgesprochen. Riedel, der bei seiner neuen Aufgabe dem neuen Nationalen Sicherheitsberater General James Jones unterstellt ist und vollen Zugang zu Präsident Obama hat, soll bis zum NATO-Gipfel Anfang April die neue Strategie Washingtons für Afghanistan und Pakistan ausgearbeitet haben. Man kann nur hoffen, daß diese eher der Forderung von Afghanistans Präsidenten Hamid Karsai nach einer Versöhnung mit "gemäßigten" Taliban, als den Wünschen der Generäle nach mehr Soldaten und Ausrüstung entspricht.

12. Februar 2009