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ASIEN/609: Bundeswehr definitiv im Afghanistankrieg angekommen (SB)


Stanley McChrystal fordert weitere deutsche Operationen im Norden


Die militärische Strategie der Besatzungsmächte im Afghanistankrieg erschöpft sich in einem mit bloßer Waffengewalt nach eigenem Eingeständnis nicht zu beendenden Verdrängungsprozeß, wie ihn jeder asymmetrische Konflikt auszeichnet. Die in direkter Konfrontation weit unterlegenen Kräfte des Widerstands weichen massiven Operationen aus und verlagern ihre Aktivitäten in andere Landesteile, die zuvor als relativ ruhig galten. Folglich wird auch das Kontingent der Bundeswehr im Norden in direkte Kampfhandlungen einbezogen, wie dies zuletzt in einer gemeinsam mit afghanischen Sicherheitskräften vorgetragenen Großoffensive in der Region der Fall war, an der nach Angaben des Verteidigungsministeriums rund 300 deutsche Soldaten beteiligt waren.

Daß dies erst der Auftakt einer rasant beschleunigten bundesdeutschen Kriegsbeteiligung am Hindukusch war, unterstreicht die aktuelle Forderung des Oberbefehlshabers der internationalen Schutztruppe in Afghanistan, General Stanley McChrystal, der von der Bundeswehr mehr Einsätze gegen die Taliban verlangt. Er sei besorgt über die Lage im Raum Kunduz, sagte er "Spiegel Online". Das Einsatzgebiet in Nordafghanistan habe mittlerweile die "volle Aufmerksamkeit" der internationalen Truppe. Die Taliban wollten im Norden eine Enklave aufbauen und würden dabei aus dem Süden unterstützt. [1]

Daß Teile des afghanischen Widerstands aus dem Süden abgewandert sind, kann niemanden überraschen, hatte doch die dortige Offensive der US-Marines und britischen Truppen das Ziel, die Region von Taliban zu säubern. Wie lange derselbe angestrebte Effekt nach der Operation "Adler" unter deutscher Beteiligung im Norden anhält, wird skeptisch eingeschätzt. Zwar teilte der Gouverneur der Provinz Kundus noch vor einer Woche mit, der besonders gefährliche Distrikt Char Darah sei von Taliban befreit. Nun berichtete der Verwaltungschef dieses Distrikts jedoch, daß die Anführer der Taliban zu Beginn der Operation in die Nachbarprovinz und andere Gebiete geflohen seien, während die anderen Kämpfer einfach ihre Waffen versteckt hätten und mit der lokalen Bevölkerung verschmolzen seien. Jetzt seien die Entflohenen zurückgekehrt und nähmen gemeinsam mit den anderen, die ihre Waffen wieder hervorgeholt hätten, den Kampf erneut auf. [2]

Die Realität des Guerillakriegs gegen die Besatzungstruppen straft die Behauptung Lügen, man habe es durchweg mit "den Taliban" zu tun, die in der Bevölkerung keinerlei Rückhalt hätten und sich nur durch Gewalt gegenüber den ortsansässigen Afghanen behaupten könnten. Diese ideologisch begründete und pauschalisierende Charakterisierung des Gegners ist der westlichen Propaganda geschuldet, die nach wie vor eine Befreiung, Befriedung und Stabilisierung des Landes vorhält, de facto aber seit Jahren einen völkerrechtlich illegitimen Angriffskrieg führt.

Eingestandenermaßen geht es derzeit in erster Linie darum, die Durchführung der Wahlen am 20. August unter Umständen zu gewährleisten, die man als regulär ausgeben kann. Nahziel bleibt die Aufrechterhaltung einer Statthalterregierung in Kabul, die als Marionette der Alliierten deren dauerhafte Präsenz rechtfertigt und unterstützt. Die Versuche, durch Absprachen mit einzelnen Gruppierungen des Widerstands eine Waffenruhe bis zum Urnengang zu erwirken, dürfte mehr oder minder gescheitert sein. Jedenfalls hat die Führung der Taliban nicht nur eine Beteiligung an derartigen Verhandlungen dementiert, sondern darüber hinaus die Afghanen vor wenigen Tagen sogar aufgefordert, die Waffen in die Hand zu nehmen und die Wahlen zu verhindern.

Der Verwaltungschef in Char Darah konnte Operationen wie jener der Bundeswehr insofern etwas abgewinnen, als sie seiner Ansicht nach zur kurzfristigen Zerstreuung der Taliban beitragen. Bis zu ihrer Rückkehr und neuen Formation dauere es einige Wochen, weshalb eine weitere Offensive kurz vor den Wahlen geeignet sein könnte, die Abstimmung in seinem Distrikt durchzuführen.

Landesweit haben ISAF-Truppe und US-Streitkräfte soeben eines der verlustreichsten Wochenenden seit Beginn des Krieges im Jahr 2001 erlebt. In der inzwischen wieder als gefährlich eingestuften Provinz Kundus zählt der Distrikt Char Darah zu einem der riskantesten Einsatzgebiete der Besatzungskräfte, was zwangsläufig auch für deutsche Soldaten gilt. Auch wurden bei einem schweren Anschlag in der westafghanischen Stadt Herat mindestens zwölf Menschen getötet und 20 weitere verletzt, unter letzteren auch der Polizeichef des Distrikts Andschil. Je näher der Wahltermin rückt, um so heftiger scheinen die Kämpfe zu eskalieren.

Wie General Stanley McChrystal nach einem Gespräch mit deutschen Offizieren erklärte, habe es bei der jüngsten Operation unter Beteiligung der Bundeswehr sicherlich einige Erfolge gegeben. Man dürfe darüber jedoch nicht vergessen, daß eine einzelne Mission niemals dauerhafte Effekte erzielen wird. Daher dürfe man im Kampf gegen die Taliban keinesfalls nachlassen: "Wenn wir nicht präventiv die Situation bestimmen, werden wir von der Lage überrollt."

Sollte es bislang noch Zweifel gegeben haben, was die deutschen Soldaten am Hindukusch vorhaben, so dürften diese nun ausgeräumt sein: Die Bundeswehr ist im Afghanistankrieg angekommen, der acht Jahre nach seinem Beginn heftiger denn je tobt.

Anmerkungen:

[1] Afghanistan: Isaf-Chef fordert mehr Einsätze der Bundeswehr (03.08.09)
http://www.stern.de/politik/ausland/:Afghanistan-Isaf-Chef-Einsätze- Bundeswehr/707890.html

[2] Taktik der afghanischen Taliban gegenüber Bundeswehr. "Unsichtbar machen, wenn der Feind kommt" (03.08.09)
http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan1070.html

3. August 2009