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ASIEN/681: WikiLeaks zu Afghanistan - Späte Einsicht oder nächste Verschleierung? (SB)


"Enthüllungen" für ein bislang ignorantes Publikum


Die Analyse und Bewertung des fast neun Jahre währenden Krieges und Okkupationsregimes der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in Afghanistan steht und fällt mit der Ablehnung oder Befürwortung des langfristig angelegten Feldzugs in dieser Weltregion. Wer sich nur dazu durchringen kann, seine Einwände am möglichen Scheitern der Kampagne festzumachen und strategische, taktische oder politische Fehler zu beklagen, macht sich zum Protagonisten einer effizienteren Kriegsführung. Vor diesem Hintergrund ist die Auswertung der fast 92.000 vertraulichen Berichte aus Afghanistan einzuschätzen, die von der Enthüllungs-Website WikiLeaks in der Nacht zu Montag veröffentlicht worden sind. Es handelt sich um Zehntausende bislang geheime Militärakten aus dem Zeitraum von Januar 2004 bis Dezember 2009, die vom Spiegel, der New York Times und dem Guardian zuvor jeweils für sich gesichtet wurden.

Darin enthalten sind größtenteils Meldungen der Truppen aus dem Feld, die zusammengefaßt und direkt weitergeleitet wurden. Viele Berichte konnten nicht verifiziert werden, doch halten die Militärs viele ihrer Quellen, darunter afghanische Informanten und Sicherheitskräfte, für glaubwürdig. Die Chefredakteure der drei Zeitungen hatten vereinbart, besonders sensible Informationen aus dem Geheimmaterial wie etwa die Namen von afghanischen Informanten des US-Militärs oder Informationen, welche die Soldaten in Afghanistan zusätzlichen Sicherheitsrisiken aussetzen könnten, nicht zu veröffentlichen. [1]

Daß die Dokumente ein in dieser Detailfülle bislang ungekanntes und ungefiltertes Bild des Krieges am Hindukusch zeigen, wie der Spiegel behauptet, ist eine eingeschränkte, wenn nicht gar irreführende Sichtweise. Wer sich kritisch mit dem Afghanistankrieg auseinandergesetzt hat, wird in den nun "enthüllten" Informationen kaum etwas finden, was nicht bereits seit Jahren sehr viel umfassender und tiefgreifender publiziert worden ist - allerdings selten oder gar nicht von den Medien westlicher Meinungsführerschaft. Daher kann die nun zur Sensation aufgebauschte Verwertung angeblich bahnbrechender Einblicke allenfalls dazu geeignet sein, ein breiteres Publikum mit gewissen Fakten bekannt zu machen, die man ihm bislang vorenthalten hat.

Dem widerspricht nicht die empörte Reaktion der US-Regierung, die das Monopol der Besatzungsmächte auf dem Feld der Berichterstattung und damit ihre Kriegspropaganda gefährdet sieht und daher WikiLeaks in die Nähe des Geheimnisverrats und der Kollaboration mit dem Feind rückt, um Handhabe zur künftigen Unterdrückung derartiger Enthüllungen zu erwirtschaften. In einer ersten Reaktion erklärte James Jones, der Sicherheitsberater von US-Präsident Barack Obama, die USA verurteilten aufs schärfste die Veröffentlichung von Geheiminformationen durch Einzelne oder Organisationen. Diese Vorgehensweise könne das Leben von Amerikanern und deren Verbündeten gefährden sowie die nationale Sicherheit bedrohen. WikiLeaks habe nichts unternommen, um mit der US-Regierung Kontakt aufzunehmen. Dennoch werde das "unverantwortliche Leck" keinen Einfluß auf das Engagement der USA in Afghanistan und Pakistan haben, "um unsere gemeinsamen Feinde zu besiegen".

Im Versuch, die Bedeutung der Dokumente herunterzuspielen und WikiLeaks zu diskreditieren, versandte das Weiße Haus per E-Mail ein Memo an Journalisten, mit dem die Berichterstattung beeinflußt werden soll. Unter dem Titel "Gedanken zu WikiLeaks" wird die Internetplattform als Organisation eingestuft, die gegen die US-Politik in Afghanistan opponiere. Wie es zu den veröffentlichten Informationen unter anderem heißt, könne es niemanden überraschen, daß sich die US-Regierung Sorgen über die Rolle des pakistanischen Geheimdienstes in der Region macht. Beigefügt ist eine Liste mit entsprechenden Zitaten von Regierungsmitgliedern. Zudem habe Präsident Obama mit seiner neuen Afghanistan-Strategie nicht zuletzt diesen Erkenntnissen Rechnung getragen.

Sollte es sich tatsächlich um Schnee von gestern handeln, wie das Weiße Haus behauptet, ist allerdings nicht nachzuvollziehen, mit welchem Ingrimm WikiLeaks zu einer Bedrohung für die nationale Sicherheit hochstilisiert wird. Dieser innere Widerspruch in der Argumentation unterstreicht das ungebrochene Bestreben, den Informationsfluß zu kontrollieren und die Deutungshoheit zu beanspruchen, da andernfalls der fiktive Charakter der vorgehaltenen Kriegsgründe zutage treten könnte.

Den veröffentlichten Akten ist zu entnehmen, daß der pakistanische Geheimdienst nach Einschätzung der US-Regierung der "vermutlich wichtigste außerafghanische Helfer der Taliban" ist. So seien Abgesandte des ISI nicht nur zugegen, wenn sich Aufständische zum Kriegsrat treffen, sie hätten sogar Mordbefehle wie jenen gegen den afghanischen Präsidenten Hamid Karsai erteilt. Vor allem in Berichten aus den Jahren 2004 bis 2007 wird deutlich, daß der Geheimdienst die Taliban unterstützt und deren Kämpfern in Pakistan Unterschlupf gewährt hat. Eine direkte Verbindung zur Al Kaida konnte indessen nicht nachgewiesen werden. [2]

Natürlich wurden von pakistanischer Seite die Vorwürfe entschieden zurückgewiesen. So bezeichnete Pakistans Botschafter in den USA, Husain Haqqani, die Veröffentlichung der Geheimdokumente als "unverantwortlich", da sie nicht die "tatsächlichen Gegebenheiten" widerspiegelten. Die USA, Afghanistan und Pakistan seien "strategische Partner", die militärisch wie politisch das Terrornetzwerk Al Qaida und die Taliban bekämpften. Nach den Worten des pakistanischen Botschafters in Washington setzen auch Geheimdienst und Streitkräfte seines Landes die Regierungspolitik effektiv um.

Brisanter als der seit Jahren geäußerte Verdacht hinsichtlich des pakistanischen Geheimdienstes ist die Bestätigung, daß Hunderte afghanische Zivilisten bei bislang nicht bekannten Aktionen der internationalen Truppen getötet worden sind. In den Dokumenten sind 144 Zwischenfälle mit 195 zivilen Todesopfern aufgelistet. Auch wird noch einmal bestätigt, daß insbesondere die US-Eliteeinheit Task Force 373 gezielt Jagd auf mutmaßliche Aufständische macht und häufig eigenständig entscheidet, ob sie die Zielpersonen festsetzt oder tötet. Dabei kommt es immer wieder vor, daß Zivilisten ermordet werden, so geschehen auch am 17. Juni 2007, als bei einem Raketenangriff auf eine Koranschule sieben Kinder starben. Viele dieser Fälle seien bislang geheimgehalten worden. [3]

Zudem finden sich in den Unterlagen Hinweise darauf, daß die Taliban mit modernsten Waffen ausgerüstet sind und unter anderem Luftabwehrraketen gegen Hubschrauber der internationalen Truppen einsetzen. Beispielsweise wurden in der Provinz Helmand mehrere Helikopter mit Raketen abgeschossen, was von der NATO und den US-Streitkräften nicht offiziell bestätigt worden ist. Auch werden die afghanischen Sicherheitskräfte in den Unterlagen "als hilflose Opfer" der Taliban beschrieben.

Mit großer Erleichterung dürfte die Bundesregierung festgestellt haben, daß laut den von den drei Zeitungen veröffentlichten Berichten keine Hinweise auf weitere, bislang nicht bekannte Übergriffe deutscher Soldaten auf die Zivilbevölkerung gefunden wurden. Dies beweist einmal mehr, wie effektiv die KSK ihr klandestines Kriegshandwerk verrichten. Da kann man die Kritik verschmerzen, die deutschen Truppen seien unvorbereitet in den Krieg gezogen, zumal man mit diesem Einwand bei der Bundeswehr mehr oder weniger offene Türen einrennt. Wenn ferner davon die Rede ist, im Einsatzgebiet der deutschen Truppen im Norden Afghanistans habe die Zahl der Kampfhandlungen ebenso stark zugenommen wie die Zahl der Anschläge, stellt sich wiederum die Frage, was daran geheim gewesen sein soll, wo es doch selbst die Berliner Spatzen von den Dächern des Regierungsviertels pfeifen.

Bundesaußenminister Guido Westerwelle rang sich die obligatorischen Worte gebotener Zurückhaltung ab, man müsse zunächst genau prüfen und auswerten, was der Bericht möglicherweise an neuen Erkenntnissen biete. Dann fügte er mit vor opportunistischem Stolz geschwellter Brust hinzu, er sehe sich jedenfalls in seiner Haltung bestärkt, daß er die Lage in Afghanistan nie beschönigt und immer gesagt habe, dort handle es sich um eine außerordentlich ernste Situation. Dennoch sei der Einsatz notwendig, weil es um die Sicherheit in Europa und in Deutschland gehe. Ins selbe Horn der Genugtuung stieß ein Sprecher des Verteidigungsministeriums mit den Worten, die Veröffentlichung sei "bemerkenswert", enthalte aber nach einer ersten Einschätzung "nichts Neues im Sinne eines Nachrichtenwertes". Über die Einsätze der Task Force 373 im Kommandobereich der Bundeswehr sei das Parlament laufend unterrichtet worden.

Daß die letztgenannte Behauptung haarsträubend war, fiel selbst den Grünen auf. Wie deren sicherheitspolitischer Sprecher Omid Nouripour erklärte, sei es nach der Lektüre der US-Dokumente verstörend, wie wenig die Bundesregierung das Parlament über die Aktivitäten von amerikanischen Spezialkräften im deutschen Gebiet unterrichtet hat: "Wir fordern von der Bundesregierung umgehende Aufklärung, was sie über die Aktionen weiß, wir werden mit aller Kraft auf Antworten drängen." Wenngleich gegen diese Forderung nichts einzuwenden ist, hätte an dieser Stelle ein Wort grundsätzlichen Zweifels am Kriegseinsatz in Afghanistan nicht geschadet, an dessen Gestaltung sich auch die Grünen mit Feuereifer beteiligen.

Wohin der Hase laufen soll, deutete unterdessen der demokratische US-Senator John Kerry an. "Wie illegal auch immer diese Dokumente ans Licht gekommen sind, so werfen sie doch ernste Fragen zur US-Politik gegenüber Pakistan und Afghanistan auf", erklärte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses. Die Dokumente könnten die Herausforderungen des Einsatzes verdeutlichen, um die Politik entsprechend anzupassen. Pakistan für die Hemmnisse des Kriegszugs verantwortlich zu machen, ohne dessen Legitimität im geringsten in Frage zu stellen, ist eine Stoßrichtung, die weiter zuzuspitzen die jüngste "Enthüllung" geradezu nahelegt.

Unwirsch polterte der britische Außenminister William Hague am Rande des EU-Außenministertreffens in Brüssel: "Wir verbringen unsere Zeit nicht damit, Enthüllungen anzuschauen, wir setzen die international abgestimmte Strategie fort. Ich hoffe, daß solche Veröffentlichungen nicht die Atmosphäre vergiften!" Diese Ohrfeige für die konzertierte Aktion von WikiLeaks und den drei Zeitungen war offenbar der Befürchtung geschuldet, daß die Bürger an der Heimatfront nach mehr als acht Kriegsjahren womöglich doch noch wissen wollen, was in Afghanistan tatsächlich vor sich geht, und ihren Regierungen die Unterstützung für diesen räuberischen Waffengang entziehen.

Anmerkungen:

[1] Afghanistan-Protokolle. Weißes Haus attackiert WikiLeaks (26.07.10)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,708516,00.html

[2] WikiLeaks-Enthüllungen: Das Desaster in Afghanistan (26.07.10)
http://www.stern.de/politik/ausland/wikileaks-enthuellungen-das-desaster-in-afghanistan-1587066.html

[3] Afghanistan-Dokumente. Geheimoperationen fordern Hunderte zivile Opfer (26.07.10)
http://www.welt.de/politik/ausland/article8649995/Geheimoperationen-fordern-Hunderte-zivile-Opfer.html

26. Juli 2010