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ASIEN/685: Petraeus stellt Abzugspläne Obamas für Afghanistan in Frage (SB)


Petraeus stellt Abzugspläne Obamas für Afghanistan in Frage

US-Militär macht Abzugstermin von Bedingungen abhängig


Als US-Präsident Barack Obama im Juni den von ihm gerade ein Jahr zuvor eingesetzten Oberkommandierenden in Afghanistan, Stanley McChrystal, entließ, tat er dies wegen des offensichtlichen Mangels an Respekt, den der "Runaway General" und sein Stab bei Gesprächen mit Michael Hastings von der Zeitschrift Rolling Stone in Bezug auf ranghohe Mitglieder der eigenen Regierung an den Tag gelegt hatten. Obama hat McChrystal durch dessen eigenen Vorgesetzten General David Petraeus ersetzt. Doch an der Selbstherrlichkeit des US-Militärs gegenüber der zivilen Führung in Washington scheint dies wenig geändert zu haben. Bei diversen Interviews und Medienauftritten in den letzten Tagen hat Petraeus Obamas Termin für den Beginn des Abzugs der amerikanischen Streitkräfte aus Afghanistan im Juli 2011 offen in Frage gestellt und ihn von Bedingungen vor Ort abhängig gemacht.

Das Verhalten des neuen ISAF-Oberkommandeurs riecht nach Insubordination, auch wenn die meisten Medienkommentatoren in den USA, die Petraeus wegen dessen Erfolg bei der teilweisen Befriedung des Iraks 2007/2008 für den genialsten Militärstrategen seiner Generation halten, dies nicht wahr haben wollen. Als im November 2009 Obama dem Drängen von McChrystal nach einer kräftigen Aufstockung der US-Streitkräfte in Afghanistan nachgab und dem Alternativvorschlag von Vizepräsident Joseph Biden bezüglich eines fast kompletten Truppenabzugs bei Fortsetzung des "Antiterrorkrieges" gegen Taliban und Al Kaida hauptsächlich durch den Einsatz von Spezialstreitkräften und raketenbestückten CIA-Drohnen eine Absage erteilte, verließ er sich dabei auf das Versprechen von Petraeus, daß man innerhalb von 18 Monaten den Aufstand soweit in den Griff bekommen haben würde, daß man der neuen afghanischen Armee die Hauptverantwortung für die Sicherheit im Lande übergeben und beginnen könnte, die meisten der amerikanischen Soldaten vom Hindukusch heimzuholen.

In seinem vor kurzem erschienenen Buch "The Promise" über das erste Amtsjahr Obamas berichtet der Autor Jonathan Alter ausführlich über jenes entscheidende Treffen im Weißen Haus, an dem Obama, Biden, Verteidigungsminister Robert Gates, Generalstabschef Michael Mullen, und der damalige CENTCOM-Chef Petraeus teilnahmen. Laut Alter verdächtigten Obama und sein Stab Mullen und Petraeus, daß sie McChrystal zu seiner lautstarken Forderung nach mehr Soldaten animiert hatten. Um dem Treiben ein Ende zu setzen, verlangte Obama bei dem Treffen von seinen führenden Militärberatern, daß sie sich auf den zu beschließenden Kurs einer zeitlich klar begrenzten Truppenaufstockung festlegten. Alter zufolge lief das Gespräch zwischen dem Präsidenten und dem CENTCOM-Chef folgendermaßen ab.

Obama fragte Petraeus: "David, lassen Sie uns Klartext reden. Ich will, daß Sie mir gegenüber ehrlich sind. Können Sie das in 18 Monaten schaffen?"

"Sir, ich bin zuversichtlich, daß wir innerhalb dieses Zeitrahmens die ANA [Afghanische Nationalarmee] ausbilden und ihr die Sache übergeben können", antwortete Petraeus.

"Gut. Kein Problem", sagte der Präsident. "Wenn Sie innerhalb von 18 Monaten das nicht schaffen, was Sie ankündigen, wird sich niemand dafür einsetzen, daß wir bleiben, richtig?"

"Ja, Sir, einverstanden", erklärte Petraeus.

Mehr als ein halbes Jahr später sieht die Welt ganz anders aus. Auf die Truppenaufstockung der NATO antworten die Taliban mit verstärkten Angriffen und Anschlägen. Die Zahl der getöteten Zivilisten, Aufständischen sowie Soldaten der NATO und der afghanischen Armee steigt rasant an (Dies kann sich für die ausländischen Truppen nur negativ auswirken, denn wie eine Anfang August veröffentlichte Studie des US-regierungseigenen National Bureau of Economic Research belegt, treiben Verluste bei der Zivilbevölkerung junge Männer in den Aufstand). Die von McChrystal für den Sommer angekündigte Großoffensive auf die Taliban-Hochburg Kandahar mußte bis auf weiteres verschoben werden, nachdem die Eroberung der Gegend um die Kleinstadt Mardschah in der Provinz Helmand nicht den gewünschten, langfristigen Erfolg mit sich gebracht hat. Nichtsdestotrotz will Petraeus plötzlich von den früheren Zusicherungen gegenüber Obama nichts mehr wissen, sondern tingelt durch die Studios der Nachrichtenredaktionen der großen US-Fernsehsender und stellt öffentlich den Abzugstermin des eigenen Präsidenten in Zweifel. Die Fernsehauftritte von Petraeus haben Bob Herbert in dessen Kolumne in der New York Times am 17. August zu der aus verfassungmäßiger Perspektive beunruhigenden Frage "Wer hat hier das Kommando?" veranlaßt.

Während Obama im Kampf um die Präsidentenwahl 2012 den Irak und Afghanistan als Beispiele seiner überlegenen, weil im Vergleich zu der von George W. Bush angeblich durchdachteren Sicherheitspolitik vorweisen und deshalb halbwegs befriedet haben will, verfolgt das US-Militär eigene Ziele. Auch wenn der Krieg gegen die Aufständischen in Afghanistan im klassischen Sinne nicht mehr zu gewinnen ist, soll aus Sicht von Amerikas Generälen auf jeden Fall alles vermieden werden, was als eine militärische Niederlage à la Vietnam interpretiert werden könnte. Deshalb versucht das US-Militär dieser Tage in den Medien die Taliban als besonders frauenfeindlich und brutal darzustellen, während man gleichzeitig die Bemühungen von Präsident Hamid Karsai um Kontakt zu den "gemäßigten" Aufständischen unterstützt. Und während Petraeus die von den eigenen einfachen Soldaten kritisierten Gefechtsregeln beibehält, die größtmögliche Schonung der Zivilbevölkerung bei Gefechten und Schießereien mit den Aufständischen vorschreiben, sorgen weiterhin die nächtlichen Razzien der Spezialstreitkräfte der NATO und die Drohnenangriffe des Pentagons für viele tote Unschuldige. Ob die Erfolge solcher Maßnahmen im Sinne der angeblich hohen Anzahl der getöteten Taliban-Anführer ihre kontraproduktiven Auswirkungen, was die steigende Ablehnung der ausländischen Truppenpräsenz betrifft, aufwiegen, darf bezweifelt werden.

Vor dem Hintergrund der afghanischen Parlamentswahlen, die am 18. September stattfinden sollen, hat Präsident Karsai am 17. August ein Dekret erlassen, demzufolge alle privaten Sicherheitsdienste in Afghanistan verboten werden sollen. Karsai beklagt zurecht, daß die Unsummen, die für die Bezahlung der rund 40.000 Söldner ausgegeben werden, besser in den Aufbau der afghanischen Armee und Polizei investiert wären. Würde das Dekret Karsais in die Tat umgesetzt werden, machte dies die Fortsetzung der NATO-Mission in Afghanistan schwer bis unmöglich. Schließlich schützen private Militärdienstleistungsunternehmen nicht nur Quartiere der Nicht-Regierungsorganisationen und deren Mitarbeiter, sondern auch Militärstützpunkte und begleiten sogar die Nachschubkonvois der NATO.

Vielleicht ist der Vorschlag Karsais ein Signal an die Taliban, daß er deren Forderung nach Abzug der ausländischen Besatzer Rechnung tragen will. Interessant ist jedenfalls die Tatsache, daß am 16. August, wenige Tage nach der Ankündigung Karsais, die Taliban auf einer Website in Internet der NATO die Einrichtung einer gemeinsamen Kommission vorgeschlagen haben, welche Fälle von zivilen Opfern infolge von Kampfhandlungen untersuchen soll. Das berichtete am 17. August die britische Tageszeitung Guardian unter der Überschrift "Taliban call for joint inquiry into civilian Afghan deaths considered". Die Anregung, ginge der ISAF-Oberkommandeur Petraeus auf sie ein, könnte zur Entstehung der allerersten offiziellen Kontaktfläche zwischen den ausländischen Militärs und dem Aufstand in Afghanistan führen und - wer weiß - eventuell die Umsetzung von Obamas Abzugsplänen doch noch möglich machen.

17. August 2010