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ASIEN/700: USA führen vermehrt Luftangriffe in Afghanistan durch (SB)


USA führen vermehrt Luftangriffe in Afghanistan durch

Petraeus lockert offenbar die Gefechtsregeln für die US-Luftwaffe


Als am 23. Juni US-General David Petraeus an die Stelle des von Präsident Barack Obama wegen Respektlosigkeit gegenüber der politischen Führung entlassenen Stanley McChrystal als Oberbefehlshaber der NATO-Streitkräfte in Afghanistan trat, wurde die Frage laut, ob infolge der Personalie eine Änderung der Gefechtsregeln zu erwarten sei. Schließlich strotzte der Rolling-Stone-Artikel, dessen Veröffentlichung den Rücktritt McChrystals nach sich gezogen hatte, von Beschwerden seitens US-Soldaten und Offizieren, die meinten, dessen Aufstandsbekämpfungsstrategie, mit der die "Herzen und Köpfe" der Afghanen erobert werden sollten, weswegen nur im äußersten Notfall geschossen bzw. Luftunterstützung angefordert und gewährt werden dürfe, begünstige die Taliban und setze das Leben der NATO-Truppenteilnehmer zusätzlichen Gefahren aus.

Petraeus, der als CENTCOM-Chef und direkter Vorgesetzter McChrystals die umstrittene Aufstandsbekämpfungsstrategie ausgearbeitet hatte, hat im Sommer gegenüber der Presse wochenlang behauptet, die Schonung der afghanischen Zivilbevölkerung genieße nach wie vor oberste Priorität, eine Lockerung der Gefechtsregeln würde es unter ihm als ISAF-Oberkommandeur nicht geben. Dreieinhalb Monate später sieht die Lage in Afghanistan anders aus. Auch wenn die NATO dies nicht wahr haben will und die Verhältnisse anders schildert, schießt in Südafghanistan die Zahl der Zivilisten, die durch westliche Luftangriffe getötet oder verletzt werden, in die Höhe. Einem am 12. Oktober veröffentlichten Bericht des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes zufolge haben die Ärzte im Regionalkrankenhaus Mirwais in der Provinz Kandahar, wo derzeit die große US-Militäroffensive gegen die Taliban stattfindet, in den Monaten August und September einen Anstieg der Schwerverletzten infolge von Luftangriffen um 100 Prozent gemeldet. Mußten in diesen Monaten des vergangenen Jahres im Traumachirurgiezentrum in Mirwais fünfhundert Menschen behandelt werden, so waren es in selben Zeitraum 2010 eintausend. In einem Artikel, der am selben Tag auf Antiwar.com erschienen ist, wurde Reto Stocker, Leiter der IKRK-Vertretung in der afghanischen Hauptstadt Kabul, dahin gehend zitiert, daß die Verletztenzahlen aus Mirwais lediglich "die Spitze des Eisberges" darstellten.

In einem Artikel, der am 12. Oktober auf dem vielbeachteten Weblog "Danger Room" der Technologiezeitschrift Wired erschienen ist, hat Noah Shachtman anhand der offiziellen Pentagon-Angaben erschreckende Zahlen für die unter Petraeus in den letzten Wochen erfolgte Zunahme der Luftangriffe in Afghanistan präsentiert. Shachtman sprach von einem "regelrechten Luftkrieg über Afghanistan" und machte unter anderem darauf aufmerksam, daß im letzten Monat NATO-Maschinen mehr als 700 Kampfmissionen geflogen sind. Im September 2009 waren es lediglich 257. Das ist eine Steigerung von fast 150 Prozent. Wie drastisch die Eskalation seit Petraeus' Übernahme des Oberbefehls ist, zeigt auch der Vergleich zwischen der Zahl der geflogenen NATO-Kampfeinsätze im vergangenen August - 500 - mit der des ganzen Jahres 2009 - 405. Laut Shachtman handelt es sich bei den 700 geflogenen Kampfmissionen in diesem September um eine der höchsten Monatszahlen des gesamten neunjährigen Afghanistankrieges. Vor diesem Hintergrund ist die Skepsis, die Shachtman von Wired.com und Jason Ditz von Antiwar.com gegenüber der NATO-Behauptung vorbringen, lediglich 88 Zivilisten wären bislang in diesem Jahr in Afghanistan infolge von Luftangriffen ums Leben gekommen, mehr als angebracht.

14. Oktober 2010