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ASIEN/739: Abzugspropaganda - Obama verschleiert Dauerpräsenz in Afghanistan (SB)


Strategischer Brückenkopf für die Kriege von morgen


In Afghanistan herrscht seit 33 Jahren Krieg. Der aktuelle Feldzug der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten begann vor knapp zehn Jahren nach den Anschlägen des 11. September 2001. Die Besatzungsmächte haben derzeit fast 150.000 Soldaten im Land stationiert, darunter auch knapp 5.000 der Bundeswehr. Das mit 100.000 Soldaten größte Kontingent stellen die USA, die am Hindukusch in den längsten Waffengang ihrer Geschichte verstrickt sind, der bereits doppelt so lange wie ihr militärisches Engagement im Zweiten Weltkrieg währt. Ende 2009 hatte US-Präsident Obama die Truppen um gut 30.000 Mann aufgestockt, um einen strategischen Durchbruch im Kampf gegen den einheimischen Widerstand zu erzielen. Zugleich stellte er damals den Beginn des Truppenabzugs im Juli 2011 in Aussicht. Bis 2014 wollen USA und NATO die Verantwortung für die Sicherheitslage an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben, assistiert von schätzungsweise 25.000 US-Soldaten, die auf unabsehbare Zeit im Land bleiben sollen.

Die Vorwandslage des sogenannten Antiterrorkriegs verschleiert die strategische Stoßrichtung der militärischen Präsenz in dieser Weltregion und erklärt den Angriffskrieg und die permanente Okkupation zu einem Akt der Verteidigung westlicher Werte, Sicherheit und Versorgungsinteressen. Der Vorstoß in den Mittleren Osten und den zentralasiatischen Raum richtet sich gegen China und insbesondere Rußland, die als finale Gegenspieler im Kampf um den weltweiten Zugriff auf überlebensnotwendige Ressourcen ins Visier genommen werden. In diesem Zusammenhang ist der Afghanistanfeldzug eine Etappe in Vorbereitung künftiger Kriege. Daraus folgt, daß die USA die Region am Hindukusch dauerhaft unter ihrer Kontrolle halten wollen und zugleich den überwiegenden Teil ihrer Kampftruppen schrittweise abziehen müssen, um Kapazitäten für die nächsten Kampagnen freizusetzen. Weder kann von einem vollständigen Abzug der Besatzungstruppen, noch von einer absehbaren eigenständigen Entwicklung Afghanistans die Rede sein.

Die Kosten der Intervention sind immens. Der Krieg kostet die USA rund 120.000 Milliarden Dollar im Jahr, denen lediglich 18 Milliarden Dollar sogenannter Entwicklungshilfe im Verlauf eines Jahrzehnts gegenüberstehen. Selbst verglichen mit den 22 Milliarden Dollar, welche die US-Streitkräfte alljährlich allein zur Bekämpfung von Rost an ihren Schiffen, Flugzeugen und anderem Kriegsgerät ausgeben, muten die Ausgaben für den Wiederaufbau des Landes absolut unterdimensioniert an. [1] Auch diese Zahlen unterstreichen, daß es in Afghanistan nie um Entwicklung gegangen ist, wobei es ohnehin zeitgenössischer Denkverödung bedarf, um einen Angriffskrieg mit seinen zahllosen Opfern und massiven Zerstörungen allen Ernstes für eine befreiende, humanitäre und entwicklungsfördernde Maßnahme zu halten.

Präsidentensprecher Jay Carney machte dieser Tage klar, worum es den USA in Afghanistan nicht gehe: "Es geht nicht darum, die Taliban zu besiegen", so Carney. Es gehe darum, deren Dynamik zu schwächen, deren Erfolge einzuschränken, was auch gelungen sei, meinte der Präsidentensprecher unter gewolltem Verzicht auf einen angemessenen Realitätsbezug. Die Logik dieser Einlassung liegt auf der Hand: Der erklärte Verzicht auf das ultimative Kriegsziel des Sieges implementiert die Dauerpräsenz der Okkupation. Im Weißen Haus hatte man offenbar gehofft, die Abzugsdebatte mit einer Erfolgsmeldung verknüpfen zu können. Die jüngst publik gewordenen Friedensverhandlungen der USA mit den Taliban sind jedoch bislang über ein Frühstadium nicht hinausgekommen: Angeblich gab es Vorgespräche, aber noch keine offiziellen Treffen.

Der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates räumte vor wenigen Tagen ein, daß in der amerikanischen Öffentlichkeit Kriegsmüdigkeit um sich greife. Der Präsident müsse dies ebenso in seine Überlegungen einbeziehen wie die Bedingungen im Feld in Afghanistan. Einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center zufolge sprechen sich inzwischen 56 Prozent der Bürger für einen schnellen Abzug aus - ein Rekordanteil seit Beginn des Krieges vor zehn Jahren. Unabhängige Wähler sind demnach zu 57 Prozent dafür, bei den Demokraten liegt der Anteil bei zwei Dritteln und selbst unter den Republikanern sei die Zahl der Befürworter eines solchen Schritts von 31 Prozent im vergangenen Jahr auf 43 Prozent gestiegen. [2]

In einer Rede an die Nation nennt Präsident Obama heute konkrete Zahlen zum Truppenabzug aus Afghanistan. Wie Mitglieder der Regierung und des Kongresses vorab ankündigten, sähen die Pläne im Kern vor, die Truppenreduzierung mit dem Abzug von rund 5.000 Soldaten einzuleiten. Bis Ende 2012 und damit rechtzeitig zur Präsidentschaftswahl, bei der sich Obama bei den kriegsmüden Landsleuten um eine zweite Amtszeit bewirbt, sollen die restlichen 25.000 Soldaten abgezogen werden, die im vergangenen Jahr zur Verstärkung an den Hindukusch entsandt worden waren. Dennoch würden anschließend immer noch doppelt so viele US-Soldaten in Afghanistan verbleiben wie bei Obamas Amtsantritt im Januar 2009.

Anfang der Woche hatten die Bürgermeister der größten Städte der USA auf ihrer Jahrestagung eine Resolution verabschiedet, die ein rasches Ende der Kriege in Afghanistan und dem Irak fordert. Die freiwerdenden Gelder müßten statt dessen der Schaffung von Arbeitsplätzen und der Ankurbelung der schleppenden Konjunktur zugute kommen. Diesen Appell unterstrichen vierzehn Bürgermeister bei einem Treffen mit Obama im Weißen Haus. Wie dessen Sprecher Jay Carney im Anschluß erklärte, sei sich der Präsident der laufenden Kriegskosten - "Menschenleben, Verletzungen und Finanzen" - durchaus bewußt. [3]

"Wir sehen das nicht als einen großen Wendepunkt", hatte ein Berater Obamas gestern erklärt, "aber es ist ein wichtiger Moment, mit dem amerikanischen Volk über Afghanistan zu kommunizieren". Was dem vom Falken zur Taube gewandelten Volk schmackhaft gemacht werden soll, nahm Robert Gates bereits am Sonntag auf CNN mit Blick auf Obamas Rede vorweg: "Welche Entscheidung auch immer er trifft, wir werden eine bedeutende Zahl von Soldaten in Afghanistan halten."

Fußnoten:

[1] http://oe1.orf.at/artikel/279837

[2] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/afghanistan_usa_soldaten_1.11009984.html

[3] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,769731,00.html

22. Juni 2011