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ASIEN/743: Folter in afghanischen Gefängnissen - NATO schützt Unkenntnis vor (SB)


Pakt des Verschweigens, Vertuschens und Bestreitens


Allein in den ersten beiden Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurden in den USA etwa 1000 ausländische Staatsbürger willkürlich verhaftet, nicht selten mißhandelt und ins Gefängnis geworfen. Keinem einzigen von ihnen konnte jemals auch nur die Nähe zum "Terrorismus" nachgewiesen werden. Die rechtliche Grundlage für diese Welle gezielter Repression lieferte die Bush-Administration Ende Oktober 2001 mit dem Patriot Act nach, der nur unwesentlich verändert nach wie vor Bestand hat. Dieses Gesetzeswerk hebelt den Rechtsstaat grundlegend aus, indem es unbegrenzte Haft ohne Gerichtsverfahren, Telefonüberwachung ohne richterliche Anordnung, unkontrollierten Zugriff auf private Daten durch die Geheimdienste und Ermittlungen der CIA im Inland legalisiert. Gegner in Afghanistan und im Irak wurden als "feindliche Kämpfer" eingestuft, so daß sie nicht der Genfer Konvention für Kriegsgefangene unterlagen. Man verschleppte sie in Geheimgefängnisse, wo sie gefoltert wurden. Zugleich schuf die US-Regierung die Voraussetzungen, Folterpraktiken für rechtmäßig zu erklären. [1]

Daß der von US-Präsident George W. Bush erklärte "Krieg gegen den Terror" zahlreiche Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte zur Folge hatte, steht außer Frage. Sein Nachfolger Barack Obama hat so gut wie nichts davon zurückgenommen und das repressive Instrumentarium sogar weiter ausgebaut. Im Januar 2009 unterschrieb Obama ein Dekret zur Schließung des Gefangenenlagers Guantánamo, in dem zu diesem Zeitpunkt 245 Menschen inhaftiert waren. Umgesetzt wurde dieses Dekret allerdings bis heute nicht, so daß noch immer 200 Menschen in dem Folterlager festgehalten werden.

Auch deutsche Politiker, Geheimdienste und Polizeikräfte sind an diesen Praktiken beteiligt. Wie die Fälle Murat Kurnaz, Mohammed Haydar Zammar oder Khaled al Masri belegen, führten das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), der Bundesnachrichtendienst (BND) und das Bundeskriminalamt (BKA) Verhöre in Folterstätten durch. Europäische Länder wie Polen und Rumänien betrieben Geheimgefängnisse der CIA. Deutschland sei eines der Länder, so der Ermittler des Europarats zu den illegalen CIA-Aktivitäten Dick Marty, die das gesamte System der Gefangenenflüge aktiv oder zumindest passiv begünstigt haben. Nach Einschätzung der Europäischen Union haben die USA etwa 100 Menschen in Europa entführt und in Staaten geflogen, in denen gefoltert wird. Insgesamt führte die CIA nach EU-Angaben mehr als 1200 solcher Flüge durch - viele EU-Mitgliedsstaaten hätten diese illegale Praxis wissentlich toleriert. Als sich der BND-Untersuchungsausschuß des Deutschen Bundestags von 2006 bis 2009 mit diesem Komplex beschäftigte, verhinderten eingeschränkte Aussagegenehmigungen, verweigerte Dokumente und parteipolitische Interessen eine angemessene Aufklärung. [2]

Nach zehn Jahren Kriegsführung der Vereinigten Staaten und ihrer Verbündeten in Afghanistan sollte die Meldung, daß auch in afghanischen Gefängnissen gefoltert wird, niemanden überraschen. Menschenrechtsorganisationen weisen seit Jahren auf die verheerenden Zustände in afghanischen Gefängnissen und die darin alltäglichen Mißhandlungen hin. Dies gilt um so mehr, als die Zahl der Häftlinge laut einem UN-Bericht von 600 im Jahr 2001 auf heute 19.000 regelrecht explodiert ist. Zu dieser extremen Überbelegung des Gefängnissystems tragen nicht zuletzt Tausende Gefangene bei, die jedes Jahr von der NATO überstellt werden.

Dennoch schützt die NATO-geführte internationale Afghanistan-Schutztruppe (ISAF) angesichts eines aktuellen UN-Berichts über weit verbreitete Folterpraktiken in afghanischen Gefängnissen blankes Erstaunen vor und versucht den Eindruck zu erwecken, sie werde den Sachverhalt prüfen und umgehend Abhilfe schaffen. Warum die Foltervorwürfe der ISAF höchst ungelegen kommen, liegt auf der Hand, trüben sie doch das Blendwerk einer geordneten Übergabe der Verantwortung an die afghanischen Sicherheitskräfte. So bezeichnete ein Vertreter der Besatzungstruppe die aktuelle Meldung als großen Rückschlag.

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und der afghanische Präsident Hamid Karsai hatten auf dem NATO-Gipfel in Lissabon im vergangenen Jahr eine Vereinbarung unterzeichnet, der zufolge der Kampfeinsatz der ISAF bis Ende 2014 beendet werden soll. Zugleich vereinbarten die NATO und Afghanistan jedoch eine "langfristige Partnerschaft" über das Ende des Kampfeinsatzes hinaus, in deren Rahmen die Militärallianz eine "unterstützende Rolle" spielen soll. Um zu verschleiern, daß ein vollständiger Abzug nie vorgesehen war und eine zeitlich unbegrenzte Okkupation mit einem reduzierten Kontingent nach dem Muster des Iraks längst beschlossene Sache ist, hielt man die Schutzbehauptung vor, es gelte zu verhindern, daß die Taliban ihren Umsturzversuch auf die Zeit nach dem Abzug verlegen.

Da paßt es schlecht ins Bild westlicher Propaganda, wenn die Nachricht die Runde durch alle Medien macht, daß afghanische Haftanstalten die Hölle auf Erden für die Insassen sind. Die britische BBC beruft sich in ihrer aktuellen Meldung auf einen bislang unveröffentlichten UN-Bericht, dem zufolge Folter in Gefängnissen der afghanischen Polizei und des Geheimdienstes NDS "alltäglich und systematisch" praktiziert wird. In den Provinzen Herat, Khost, Laghman, Kapisa und Takhar wurden Gefangene des Geheimdienstes offenbar mit Gummischläuchen geschlagen, mit Elektroschocks traktiert und sexuellen Übergriffen ausgesetzt. [3]

Da sich unter den Folteropfern auch Häftlinge befinden, die von den NATO-Truppen an die Gefängnisse überstellt wurden, sieht sich die ISAF zu einer Reaktion gezwungen. Ein NATO-Sprecher erklärte gegenüber der BBC, er könne zu den Vorwürfen keine Stellung nehmen, da ihm der UN-Bericht nicht vorliege und er keine Details kenne. Man müsse zunächst die Beobachtungen des ausstehenden Berichts der UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) verifizieren, habe jedoch die Überstellung von Gefangenen an afghanische Haftanstalten in den genannten Provinzen "vorsorglich" ausgesetzt. Zudem sei der Transfer von Häftlingen an zwei Einrichtungen der afghanischen Polizei in Kundus und Tarin Kot gestoppt worden. In die Unruheprovinz Kandahar habe man schon zuvor keine Gefangenen mehr gebracht.

In Afghanistan sind derzeit rund 140.000 ISAF-Soldaten stationiert, die ihre Gefangenen zunehmend an die afghanische Justiz überstellen. Allerdings hatten die USA erst kürzlich die Übergabe der Kontrolle über die riesige Parwan-Haftanstalt nördlich von Kabul an die afghanischen Behörden von 2012 auf frühestens 2014 verschoben. Grund zu gravierenden Bedenken gab nicht etwa die Sorge um die Unversehrtheit der Gefangenen: Wie ein US-Vertreter nach Angaben der Washington Post erklärte, hänge die Verschiebung mit Bedenken zusammen, die afghanischen Behörden könnten der Aufgabe nicht gewachsen sein und gefährliche Aufständische entkommen lassen. [4]

Wie die UN-Mission in Afghanistan erklärte, habe sie sich bereits bezüglich der Foltervorwürfe mit der afghanischen Regierung in Verbindung gesetzt. Diese nehme die Erkenntnisse sehr ernst und schlage eine Reihe von Abhilfemaßnahmen vor, so UN-Sprecher Dan McNorton in Kabul. "Unsere Erkenntnisse legen nahe, daß die Mißhandlung von Gefangenen weder institutionalisiert, noch in Einklang mit der Politik der afghanischen Regierung erfolgt. [5]

Was von diesem Pakt des Verschweigens, Vertuschens und Bestreitens zu halten ist, dokumentiert eine Staatsaffäre in Kanada. Im Jahr 2006 erhoben Menschenrechtsorganisationen den Vorwurf, daß Gefangene, die von den kanadischen Besatzungstruppen an die afghanischen Behörden übergeben wurden, daraufhin schweren Mißhandlungen ausgesetzt waren. Die Regierung Premierminister Stephen Harpers wies den Vorwurf entschieden zurück, und bei Unterzeichnung eines zweiten Transferabkommens mit Kabul im Jahr 2007 wurden angeblich wirksame Sicherheitsklauseln in den Vertrag aufgenommen. Im Herbst 2009 sagte jedoch der hochrangige kanadische Diplomat Richard Colvin vor einem parlamentarischen Ausschuß aus, daß während seiner Zeit als Stellvertreter des Chefdiplomaten der kanadischen Botschaft in Kabul in den Jahren 2006 und 2007 wahrscheinlich alle an die örtlichen Sicherheitskräfte überstellten Gefangenen gefoltert worden seien. [6]

Colvin legte detailliert seine Bemühungen dar, die Regierung in Ottawa und die militärische Führung darüber zu informieren, daß Gefangene sexuell mißbraucht, geschlagen, gestochen, verbrannt und auf andere Weise gequält wurden. Man habe seine Warnungen jedoch ignoriert und ihm befohlen, seine Vorwürfe einzustellen. Die Regierung bediente sich der nationalen Sicherheitsgesetze, um ihn mundtot zu machen. Nach der Anhörung vor dem Parlamentsausschuß ging man zudem dazu über, seine Glaubwürdigkeit in Zweifel zu ziehen. So behauptete Verteidigungsminister Peter MacKay, Colvins Angaben beruhten auf Hörensagen, Informationen aus zweiter oder dritter Hand, wenn sie nicht ohnehin direkt von den Taliban stammten. Afghanische Gefangene entbehrten jeder Glaubwürdigkeit, da es sich bei ihnen um Leute handle, die Schulkindern Säure ins Gesicht schütten und Busse in ihrem eigenen Land in die Luft sprengen.

Die konservative Regierung gab damals nur einen einzigen Fall im November 2007 zu, bei dem man den Transfer aus Sicherheitsgründen nicht vorgenommen habe. Hingegen räumte der Oberfehlshaber der kanadischen Streitkräfte, General Walter Natynczyk, ein, daß man mehrfach Gefangene nicht an die afghanische Regierung überstellt habe, weil man um ihre Sicherheit fürchtete. Die Kontroverse löste damals eine schwere politischen Krise in Kanada aus. Unter Verweis auf die nationale Sicherheit weigerte sich die Regierung, Dokumente zu veröffentlichen, die Aufschluß über die Stichhaltigkeit der von Colvin erhobenen Vorwürfe geben könnten. Die Opposition erzwang schließlich im Juni 2010 einen Kompromiß. Die Dokumente sollten zunächst von ausgewählten Abgeordneten auf ihre Relevanz hin geprüft werden. In einem zweiten Schritt würden sie dann an Experten weitergeleitet, die entschieden, welche Akten veröffentlicht werden könnten, ohne die nationale Sicherheit zu gefährden. Dieser doppelte Filter von ausgewählten Parlamentariern und Sicherheitsexperten bei der Prüfung der Dokumente sorgte letztendlich dafür, unverfängliches Material zu produzieren, das die kanadische Regierung für einen fabrizierten Unschuldsbeweis benötigte.

Fußnoten:

[1] http://kurier.at/nachrichten/4149513.php

[2] http://www.tagesschau.de/inland/lochbiehler100.html

[3] http://www.sueddeutsche.de/politik/foltervorwuerfe-in-un-bericht-nato-stoppt-haeftlingstransfers-in-afghanische-gefaengnisse-1.1139922

[4] http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,784914,00.html

[5] http://www.nytimes.com/2011/09/07/world/asia/07kabul.html

[6] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/repr1426.html

7. September 2011