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ASIEN/818: Streit um afghanische Präsidentenwahl verschärft sich (SB)


Streit um afghanische Präsidentenwahl verschärft sich

Schlittert Afghanistan wieder in den Bürgerkrieg zurück?



Auf ihrem Gipfeltreffen am 4. und 5. September in der walisischen Hauptstadt Cardiff sollten die Staats- und Regierungschefs der NATO den neuen afghanischen Präsidenten der großen Öffentlichkeit präsentieren. Schließlich plant die nordatlantische Militärallianz ihren Kampfeinsatz am Hindukusch bis Ende dieses Jahres zu beenden und nur noch ein kleineres Kontingent an Beratern und Elitesoldaten für den Antiterrorkampf zurückzulassen. Doch aus der feierlichen, semi-offiziellen Übergabe Afghanistans an den Nachfolger Hamid Karsais wird nichts, denn es gibt einen solchen nicht. Seit der Stichwahl im Juni streiten sich die beiden Bewerber, Ex-Außenminister Abdullah Abdullah, der halb Paschtun und halb Tadschike ist, und Ex-Finanzminister Aschraf Ghani, dessen beide Eltern Paschtunen waren, um die Auszählung. Ein Rückfall Afghanistans in den Bürgerkrieg steht zu befürchten.

Abdullah, der bereits bei der Präsidentenwahl 2009 vom damaligen Amtsinhaber Karsai, der ebenfalls Paschtune ist, durch Betrug um den Sieg gebracht wurde, lag nach der ersten Runde mit 54 Prozent der abgegebenen Stimmen deutlich vor Ghani, der nur 32 Prozent erzielt hatte. Doch bei der Stichwahl am 14. Juni geschah etwas seltsames. Obwohl landesweit weniger Menschen als bei der ersten Runde im April an die Urne gingen, verzeichneten die Wahllokale in den von den Paschtunen dominierten Bezirken im Osten und Süden Afghanistans eine ungewöhnlich hohe Stimmenabgabe. Nach dem Zwischenergebnis, das am 7. Juli bekanntgegeben wurde, lag Ghani mit rund einer Million Stimmen vorne.

Angesichts eines derart drastischen Umschwungs liegt der Verdacht nahe, daß nicht alle der 8,1 Millionen Stimmen bei der Stichwahl regulär abgegeben wurden, sondern daß es hier zu massiven Manipulationen gekommen ist. Die Mitarbeiter Abdullahs, der sich energisch gegen den erneuten Betrug wehrt, haben seitdem zahlreiche Hinweise präsentiert, daß in den paschtunischen Siedlungsgebieten Wahlfälschung im großen Stil zugunsten Ghanis betrieben wurde. Tatsächlich sieht alles danach aus, daß mit der Duldung von Mitarbeitern der afghanischen Wahlkommission Ghanis Anhänger auf lokaler Ebene die Urnen mit gefälschten Stimmzetteln vollgestopft haben. Hinter der plumpen Aktion steckt offenbar die mangelnde Bereitschaft der Paschtunen, die in Afghanistan seit jeher die größte Bevölkerungsgruppe darstellen, die Macht mit den Tadschiken, Usbeken und Hasarah zu teilen bzw. das höchste Amt im Staat von einem Vertreter einer anderen Ethnie besetzen zu lassen.

Als Abdullah angesichts der nicht zu übersehenden Betrügereien im Juli mit der Gründung einer eigenen Parallelregierung drohte, schaltete sich die US-Regierung als Vermittlerin ein. Präsident Barack Obama redete per Telefon Abdullah und Ghani ins Gewissen, während US-Außenminister John Kerry zu Krisengesprächen mit den beiden Kontrahenten nach Kabul eilte. Es kam dabei folgende Lösung heraus: erstens sollte unter Aufsicht der Vereinten Nationen ein Teil der Stimmen neu ausgezählt und ihre Gültigkeit überprüft werden; zweitens sollte nach der Verkündung des Endergebnisses, egal wie es ausfiel, eine Regierung der nationalen Einheit gebildet und der Zweitplazierte mit dem Posten des Premierministers bedacht werden.

An der Umsetzung dieser Lösung hapert es jedoch. Ghani und die Wahlkommission wollen die Neuauszählung nur im geringen Ausmaß durchführen, damit der Kandidat der Paschtunen doch noch seinen zweifelhaften Sieg nach Hause fahren kann. Wegen des laufenden Streits, welche Wahlzettel überprüft werden sollten und welche nicht, ist es in den Räumlichkeiten der Wahlkommission, wo alle Urnen gelagert sind, bereits mehrmals zu Handgreiflichkeiten zwischen den Getreuen Abdullahs und Ghanis gekommen. Aus Unzufriedenheit mit dem schleppenden, undurchsichtigen Verlauf der Auszählung hat Abdullah am 27. August seine Mitarbeiter abgezogen und damit gedroht, das amtliche Endergebnis nicht zu akzeptieren. Damit ist die für den 2. September - rechtzeitig zum NATO-Gipfel - geplante Amtseinführung eines neuen afghanischen Präsidenten ins Wasser gefallen.

Nun steht Afghanistan wieder am Rande des Bürgerkrieges. Die Taliban, die sich hauptsächlich aus der paschtunischen Bevölkerung rekrutiert, befinden sich weiterhin auf dem Vormarsch. Im Raum Kundus im Norden, wo die letzten Bundeswehrsoldaten stationiert sind, sowie in der südlichen Provinz Helmand liefern sie sich seit Tagen heftige Kämpfe mit den staatlichen Streitkräften. Weite Teile der Provinz Kandahar, die im Süden an Pakistan grenzt, befinden sich bereits unter der Kontrolle der Taliban. Läßt sich der Streit zwischen Abdullah und Ghani nicht beilegen, steht Afghanistan eine Wiederauflage des Bürgerkrieges zwischen der Nordallianz, diesmal vertreten durch Abdullah, Usbek-Warlord Raschid Dostum und anderen, auf der einen Seite und den Paschtunen - die Taliban, Gulbuddin Hekmatyars Hisb-e-Islami, sowie Karsai, Ghani und deren Stammesangehörigen - auf der anderen bevor. Sollte es hierzu kommen, stellte sich die berechtigte Frage, wozu das 13jährige NATO-Militärengagement in Afghanistan überhaupt gut gewesen war.

29. August 2014