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BERICHT/001: Zurück zu meinen Wurzeln - Vortrag einer Kolumbianerin in Hamburg (SB)


Nach 40 Jahren - Eine Exil-Kolumbianerin kehrt zu ihren Wurzeln zurück

Dia-Vortrag und Reisebericht am 20. August 2010 in Hamburg

Die Referentin Blanca, eine in Hamburg lebende Kolumbianerin - © 2010 by Schattenblick

Die Referentin Blanca, eine
in Hamburg lebende
Kolumbianerin

© 2010 by Schattenblick
Wenn Kolumbien hierzulande Schlagzeilen macht oder das Interesse der Medienwelt auf sich zieht, geht es im allgemeinen um die "große Politik", steht der unlängst vollzogene Wechsel im Präsidentenamt von Álvaro Uribe zu Juan Manuel Santos auf der Tagesordnung oder, mit einer gewissen Brisanz angesichts der latenten und im Zuge der mit Washington vereinbarten sieben US-Militärstützpunkte geschürten Kriegsgefahr in der Region, die jüngste Krise im Verhältnis der politisch so konträren Nachbarstaaten Kolumbien und Venezuela. Als schlagzeilenträchtig werden desweiteren die Geiselnahmen der "Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens" (FARC) erachtet. Auch die - allerdings nicht selten erfolglosen - Bemühungen, durch Verhandlungen zu einem Gefangenenaustausch zwischen inhaftierten Angehörigen dieser Linksguerilla gegen die von ihr festgesetzten Soldaten oder Zivilisten zu kommen, finden noch einen medialen Widerhall. Doch wie sieht das Leben der "einfachen" Menschen im heutigen Kolumbien aus?

Kolumbien, so viel wissen die meisten Menschen hierzulande, ist seit langer Zeit ein Bürgerkriegsland, dessen Bewohner sich nichts mehr wünschen als Frieden, einen Frieden, unter dem zunächst einmal ein Ende der Kampfhandlungen verstanden wird, aber auch ein Ende des politischen Mordens durch paramilitärische Gruppen. Es ist beileibe kein Geheimnis, sondern Dokumenten wie beispielsweise einem im Juni in Genf veröffentlichten Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation (ILA) zu entnehmen, daß in Kolumbien sehr viele Gewerkschafter umgebracht werden. Mit 48 von weltweit 101 solchen Morden im vergangenen Jahr weist das Land die höchste Mordrate der Welt an Gewerkschaftern auf. Nach Ansicht des in Brüssel für die mit Kolumbien geschlossenen Freihandelsverträge zuständigen EU-Kommissars De Gucht stellt die vom Deutschen Gewerkschaftsbund vorgebrachte Kritik daran, daß zwei Dritteln der Arbeitnehmer in Kolumbien die elementarsten Arbeits- und Sozialrechte vorenthalten werden, kein großes Problem dar, erklärte er doch im Februar, die kolumbianischen Behörden hätten Fortschritte bei den Menschen- und Arbeitsrechten erreichen können; außerdem mache es keinen Sinn, Kolumbien zu isolieren.

Diese Anmerkungen mögen an dieser Stelle genügen, um plausibel zu machen, wie problematisch sich das in den hiesigen Medien gezeichnete Kolumbienbild für all jene darstellt, die die massiven Eigeninteressen der europäischen Staaten wie auch der USA an einer ihnen zugeneigten Regierung in Bogotá in Rechnung stellen und in Erwägung ziehen, in welch umfassendem Ausmaß die Durchsetzung dieser Hegemonialinteressen in dem nur scheinbar fernen Lateinamerika in der allgemeinen Berichterstattung ihren Niederschlag und Ausdruck finden könnten. Auf diese Weise sensibilisiert, könnten sich politisch Interessierte, die in Erfahrung bringen wollen, wie sich die sozialen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse in dem Bürgerkriegsland Kolumbien aus Sicht dort lebender Menschen, die keinen Zugang zu den in der Hand einer kleinen Elite befindlichen Medien des Landes haben, darstellen, vor ein großes Problem gestellt sehen, da, von wenigen Ausnahmen abgesehen, in Presse und Kulturbereich derartige Informationen äußerst rar gesät sind.

Der Veranstaltungsort in der Dillstraße im Hamburger Universitätsviertel - © 2010 by Schattenblick

Der Veranstaltungsort in der Dillstraße im Hamburger Universitätsviertel
© 2010 by Schattenblick

In Hamburg nun gelang am Freitag, dem 20. August 2010 der Versuch, auf einer Veranstaltung in den Räumlichkeiten des Koordinationsrates der Iranerinnen und Iraner in Hamburg e.V. [1] in der unweit der Hamburger Universität gelegenen Dillstraße diesem Informations- oder vielmehr Desinformationsproblem entgegenzutreten. Unter dem Titel "Regreso a mis raices", zu deutsch "Zurück zu meinem Wurzeln", hielt die seit 40 Jahren in Deutschland lebende Kolumbianerin Blanca einen Diavortrag über die von ihr im vergangenen Herbst durchgeführte oder vielmehr durchlittene erste Rückkehr nach genau 40 Jahren in ihr Heimatland. Wie die Exil-Kolumbianerin berichtete, hat sie in diesen fünf Wochen fast nur geweint, weil der Schmerz über die Verhältnisse, obwohl sie ihr aus der Kindheit noch vertraut waren, so intensiv war. Gleichwohl nutzte sie die Reise, um neben dem eigentlichen Zweck, nämlich dem Besuch der von ihr und anderen von Hamburg aus unterstützten Projekte für Straßenkinder, Eindrücke zu sammeln, Gespräche zu führen und Fotos zu erstellen.

Auf dieser Basis entstand ein Reisebericht, der angesichts dieser Umstände, aber auch der klaren Stellungnahme der berichtenden "Hamburger" Kolumbianierin, ein sehr politischer wurde. Blanca erteilte dem Paramilitarismus und Staatsterrorismus, wie sie es nannte, in ihrem Heimatland eine ebenso klare Absage wie den dortigen Militärstützpunkten der US-Streitkräfte. Diesen Standpunkt teilt sie sicherlich mit vielen in- wie ausländischen Kritikern der regierenden Elite Kolumbiens, sei es unter der Präsidentschaft Uribes oder unter der von Santos und damit dem Sproß einer Familie, die seit 200 Jahren zur obersten Oligarchie des Landes gehört und dessen Geschicke bestimmt.

Der besondere Stellenwert ihres Berichts lag zudem in dem persönlichen Zeugnis, das sie mit der Schilderung ihrer Reiseeindrücke und politischen Einschätzungen ablegte. Zwar ließe sich gegen eine solche Form der Vermittlung einwenden, der Bericht sei subjektiv und durch eine objektive, vermeintlich neutrale Instanz nicht in jedem Punkt zu verifizieren oder auch zu widerlegen. Da sich ein solcher Vorwurf, nicht minder begründet, auch gegenüber den vorherrschenden Medien Kolumbiens wie auch der westlichen Auslandspresse formulieren ließe, hat sich die SB-Redaktion in Kenntnis dieser Problematik entschlossen, diesem Reisebericht den ihm unserer Meinung nach schon aufgrund des vorherrschenden medialen Ungleichgewichts gebührenden Stellenwert einzuräumen, um Interessierte zu eigenen Fragestellungen und weiterführenden Recherchen zu ermutigen.

Der Vortrag fand beim Koordinationsrat der Iranerinnen und Iraner in Hamburg e.V. statt - © 2010 by Schattenblick

Der Vortrag fand beim Koordinationsrat der
Iranerinnen und Iraner in Hamburg e.V. statt

© 2010 by Schattenblick

Doch bevor wir mit dem Bericht über den eigentlichen Diavortrag beginnen, sei an dieser Stelle angemerkt, in welch freundlicher und zugewandter Atmosphäre diese von zwischen 30 und 40 Interessierten besuchte Veranstaltung vonstatten ging. Dafür zeichnete - selbstverständlich neben der Referentin Blanca - auch Frau Zaman Masudi vom Koordinationsrat der Iranerinnen und Iraner mitverantwortlich wie auch die übrigen Mitglieder dieses Vereins, die der Veranstaltung aufs beiläufigste die Note ihrer Anonymität zu nehmen verstanden und Besuchern alsbald den Eindruck vermitteln, "zu Gast bei Freunden" zu sein. Im Verlauf des Veranstaltungsabends, bei dem sich an den eigentlichen Dia-Vortrag nach einer kurzen Pause eine angeregte Frage- bzw. Diskussionsrunde anschloß, wurde seitens der Veranstaltenden wie auch der Teilnehmenden auch bei kontroversen politischen Anschauungen der gebotene wechselseitige Respekt an keiner Stelle verletzt.

Zaman Musudi richtete zu Beginn begrüßende Worte an die Anwesenden und beantwortete sogleich die naheliegende, wenngleich noch von keinem Besucher formulierte Frage danach, warum ein von iranischen Flüchtlingen gegründeter Verein eine Veranstaltung durchführt, bei der es um die Lebensverhältnisse armer und vertriebener Menschen in einem lateinamerikanischen Land wie Kolumbien geht. Die Antwort ist denkbar einfach und doch ein wenig beklemmend für Durchschnittsdeutsche, denen, so es sie denn tatsächlich gibt, nachgesagt werden kann, daß sie sich zwar für die eigenen Belange, jedoch nicht die anderer Menschen interessieren und engagieren: Da die aus dem Iran oder auch Afghanistan stammenden Vereinsmitglieder selbst Flüchtlinge sind, wissen sie aus eigenem Erleben nur zu gut, was Verfolgung, Flucht und Vertreibung bedeuten, und so stellt es für sie eine Selbstverständlichkeit dar, mit ihren Möglichkeiten andere Flüchtlinge, woher und aus welchen Gründen auch immer sie nach Hamburg gekommen sein mögen, zu unterstützen.

Begrüßende Worte der Gastgeberin: Zaman Masudi vom Koordinationsrat - © 2010 by Schattenblick

Begrüßende Worte der Gastgeberin: Zaman Masudi vom Koordinationsrat
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Die Referentin Blanca berichtete gleich zu Beginn ihres Vortrags, welches in Kolumbien leider alltägliche Trauma sie 1969 als Zwölfjährige erlebt hatte und beantwortete damit auch zugleich die Frage, warum sie und ihre Familie damals sofort das Land verlassen mußten. Die Familie war aus einem kleinen Ort in der Nähe des Urwalds in die Stadt gezogen und hatte dort einen kleinen, wie wir sagen würden, Tante Emma-Laden betrieben. Eines Tages, als Blanca gerade allein im Laden war, kam ein Jugendlicher hereingerannt, ein vierzehnjähriger Junge, der auf der Flucht vor seinen Verfolgern Schutz suchte und sich verstecken wollte. Blanca, ebenfalls noch ein Kind, glaubte jedoch, er wolle den Laden ausrauben und verwehrte ihm, dem väterlichen Geheiß, niemals die Kasse aus den Augen zu lassen, folgend, den so dringend hervorgebrachten Wunsch nach Wasser.

Als der Junge schließlich wieder auf die Straße lief, sah Blanca, wie - in ihrer Erinnerung im Zeitlupentempo - ein Jeep mit dessen schwerbewaffneten Verfolgern nahte. Vor ihren Augen schossen sie den Jungen nieder. Dieser Mord an einem Jugendlichen, einem Kind noch, wie es in Kolumbien beileibe nicht nur in jenen Jahren alltäglich war, hatte zur Folge, daß Blanca als einzige Zeugin dieses Verbrechens ihres Lebens an diesem Ort und in diesem Land nicht mehr sicher war. Dieses Trauma, wie Blanca es nannte, war nicht nur überaus schockierend und einschneidend für sie und ihre Familie, sondern sollte in der Folge auch ihr, wenn auch erst sehr viel später entwickeltes politisches Bewußtsein bestimmen. Dazu sagte sie:

Durch meine eigenen Erfahrungen - Armut, Hunger, Gewalt, Ungerechtigkeit, Diskriminierung, Rassismus - habe ich mein politisches Bewußtsein entwickelt. Vor zweieinhalb Jahren habe ich mit ein paar Freunden einen Hilfsverein für Kolumbien gegründet. [2] Auf den Tag und die Uhrzeit genau, als ich das Land vor 40 Jahren verließ, habe ich Kolumbien wieder betreten. Ich betrat meine Wurzeln.

Marsch der Indios auf Bogotá im September 2009 - © Blanca

Marsch der Indios auf Bogotá im September 2009
© Blanca

Und obwohl die Referentin, wie sie erklärte, eigentlich nie wieder nach Kolumbien zurückkehren wollte, veranlaßte sie diese Projektarbeit im September vergangenen Jahres schließlich doch dazu, mit diesem aus der Not der schlimmen Kindheitserlebnisse gefaßten Lebensmotto zu brechen. Gleich die ersten Dias, die sie ihrem interessiert zuhörenden und von der Ernsthaftigkeit des Geschilderten sofort eingenommenem Publikum präsentierte, zeigten einen Protestmarsch kolumbianischer Ureinwohner oder, wenn man so will, kolumbianischer Indianer, auf die Hauptstadt Bogotá. 109 Indios, erläuterte Blanca, waren auf diesem Marsch getötet worden. Als sie damals Kolumbien mit dem Bus verlassen hatte, so erzählte sie anläßlich dessen, hatte sie zum ersten Mal Indianer gesehen; bis dahin habe sie nicht einmal gewußt, daß sie in einem Land lebt, in dem es Ureinwohner gibt.

Selbstverständlich nahmen die Straßenkinder und die von dem von der Referentin mitgegründeten Hamburger Verein unterstützten Projekte einen großen Raum bei der nun folgenden Darbietung der oftmals schon allein aufgrund der für sich bzw. gegen die Armutsverhältnisse Kolumbiens sprechenden und deshalb beklemmenden Bilder ein. Es waren Bilder, die kaum einer weiteren Erläuterung bedurften, zeigten sie doch schonungslos und ungeschminkt das Leben dieser Kinder unter erbärmlichsten Bedingungen, so beispielsweise in einem der ärmsten Viertel der Hauptstadt Bogotá, einem Barrio, in dem Blanca das von den "Demokratischen Frauen" betriebene Straßenkinderprojekt besuchte. Hier erhalten rund 180 Kinder, die ohne Wasser und ohne Strom auf der Straße leben, eine Mahlzeit, hier können sie sich tagsüber aufhalten. Der Andrang ist so groß, daß die Kinder, wenn die Tagesstätte morgens öffnet, Schlange stehen müssen, um eingelassen zu werden.

Ohne Worte - vom Dia abfotographiert - © Blanca

Ohne Worte - vom Dia abfotographiert
© Blanca

In diesem Viertel der Hauptstadt Bogotá, einem auf einem Berg gelegenen Barrio, gibt es weder Wege noch einen Platz, wo sich Kinder aufhalten oder spielen könnten. So bleiben sie den ganzen Tag in der Tagesstätte, wo sie die meiste Zeit auf dem Fußboden liegen und schlafen. Sie dürfen nicht nach draußen, weil die Gefahr besteht, daß auch sie "verschwinden" könnten. Die meisten von ihnen sind Kinder von Vertriebenen, von denen es in Kolumbien rund fünf Millionen gibt. Gegen Abend patrouillieren Gangster mit der MP im Anschlag die Gegend, so daß kein normaler Mensch sich hier noch frei bewegen kann. Doch auch tagsüber ist es, so Blancas Bericht, sehr, sehr gefährlich. Sie selbst konnte nur in Begleitung einer der hier tätigen Tagesmütter und zweier weiterer, männlicher Begleiter dieses Viertel betreten, sonst wäre auch sie wohl auch nie wieder aufgetaucht. Ausländische Journalisten können dieses Gebiet überhaupt nicht betreten.

Die Zustände, unter denen die Straßenkinder hier leben müssen, waren für Blanca ein Schock. Sie mußte, was ihre sie begleitende Mutter nicht verstehen konnte, sehr viel weinen. Die Begegnung mit dieser Realität war für sie auch deshalb so schlimm, weil sie hier in Deutschland, wo sie lebt, seit sie 13 ist, ein völlig anderes Leben führt. Armut, Erniedrigung und Diskrimierung kannte sie noch aus ihrer eigenen Kindheit, doch der Schmerz darüber war jetzt für sie als Erwachsene noch viel intensiver. Für die hier lebenden Straßenkinder steht unterdessen zu befürchten, daß sie die Betreuung durch die Tagesmütter - in der Kindertagesstätte paßt eine Tagesmutter auf 20 Kinder auf - verlieren. Die kolumbianische Regierung will die Einrichtung der Tagesmütter abschaffen. Viele von ihnen haben schon ihren Job verloren, drei sind sogar schon ermordet worden, weil, wie Blanca erläuterte, sie sich gegen die Schließung dieser Projekte wehren.

Auf einem weiteren Dia war das Konterfei eines verschwundenen Jungen zu sehen. Es hing hinter dem vergitterten Fenster eines Hauses und war nur undeutlich zu erkennen. Dafür gibt es Gründe, ist es doch verboten bzw. gefährlich, um nicht zu sagen lebensgefährlich, politische Plakate, Parolen oder Mitteilungen in den Straßen sichtbar aufzuhängen. Auch die Vermißtenanzeigen verschwundener Kinder und Jugendlicher dürfen nicht gezeigt werden. Sobald die paramilitärischen Milizen solche Fotos oder Plakate sehen, schießen sie in die Fenster hinein. Blanca erklärte, warum immer wieder Jugendliche wie der hier gezeigte Zwölfjährige "verschwinden" und erläuterte, was es mit den "falsos positivos" (zu deutsch in etwa: Gefälschte Belege) auf sich hat. Zehn- bis 14jährige Kinder, zumeist Kinder von Vertriebenen, werden von den Paramilitärs eingesammelt. Ihnen wird versprochen: Wir haben Arbeit für euch. Doch sie finden den Tod, werden in Uniformen der Guerilla gesteckt und der Regierung als getötete Aufständische präsentiert. Auf diese Weise kassieren die Paramilitärs Prämien von bis zu 500 Dollar oder können einen höheren Rang in ihrer Organisation erlangen.

Plakat in Kolumbien mit der Aufschrift: Gringos raus aus Kolumbien - © Blanca

Gringos raus aus Kolumbien
© Blanca

Auf weiteren Fotos zeigte Blanca politische Parolen, wie sie ungeachtet der damit verbundenen Gefahren von den Menschen immer wieder ausgehängt werden, und erklärte deren Bedeutung. Mit den Worten "Impfe dich, die Schweinepest ist unter uns" sei beispielsweise der (inzwischen nicht mehr amtierende) Präsident Uribe gemeint gewesen. "US-Stützpunkte raus aus Kolumbien" stand ebenso geschrieben wie "Gringos raus aus Kolumbien und ganz Lateinamerika", aber auch "Wir wollen eine Lösung, keine Attacken". Der Slogan "Wähle nicht die Waffe, die dich tötet" war im Zusammenhang mit dem Bestreben Uribes zu verstehen, für sich durch eine Verfassungsänderung eine dritte Amtszeit zu ermöglichen, was inzwischen durch eine Entscheidung des Obersten Gerichtshofs Kolumbiens verhindert wurde. Dies hatte zur Folge, daß Manuel Santos, der frühere Verteidigungsminister und Wunschkandidat Uribes, an dessen Stelle kandidierte und die diesjährige Präsidentschaftswahl, bei der nach Angaben internationaler Beobachter in aller Offenheit Stimmen gekauft und Wähler durch die Paramilitärs eingeschüchtert wurden, gewinnen konnte.

Auf weiteren Dias waren Straßenhändler und ihre kleinen Stände zu sehen. Dazu erläuterte Blanca, daß diese Händler Schutzgeld an die Paramilitärs zahlen müssen und daß niemand etwas dagegen machen könne. Es ist ein offenes Geheimnis, daß diese Gruppen in Kolumbien nichts zu befürchten haben. Sie wurden, so schilderte Blanca die historischen Zusammenhänge, 1982 vom späteren Präsidenten Uribe ins Leben gerufen. Ehemalige Todesschwadrone der Mafia bzw. der Drogenhändler wurden militärisch ausgebildet. Auf einem anderen Bild war ein Straßenhändler mit einem Karton zu sehen. Viele von ihnen, oft die ganze Familie, sammeln Kartons auf den Straßen ein, um ein bißchen Geld zu verdienen. Für eine Tonne Karton gibt es gerade einmal 100 Pesos, was nicht einmal für ein Bus-Ticket reicht. Eine ganze Familie muß einen Tag lang sammeln, um 500 Pesos zusammenzubekommen.

Während ihrer fünfwöchigen Reise konnte Blanca auch mit einem Repräsentanten der für die indigenen Völker Kolumbiens zuständigen Behörde sprechen. Dieser habe ihr geschildert, wie gegenwärtig die Kirche gerade in den Dörfern der Indigenen ist und daß diesen die Gefahr drohe, ihre eigene Kultur und sogar ihre Sprache zu verlieren. Eine weitere Tragödie liegt darin, daß viele der jungen Frauen aus den Dörfern in die Stadt gehen und sich dort prostituieren (müssen). Die Diskriminierung der Ureinwohner Kolumbiens ist schlimmer denn je. So traf Blanca beispielsweise auf ihrer Reise zu den eigenen Wurzeln in einem sehr reichen Stadtteil eine indianische Mutter, die mit ihrem Kind auf der Straße lebte. Indianer werden in dieser Umgebung nirgends auch nur eingelassen, sie dürfen keine Läden betreten und keine Verkehrsmittel benutzen. Diese Menschen werden schlimmer als Straßenhunde behandelt, empörte sich Blanca, denn Hunden werfe man noch einen Knochen hin.

Die Referentin Blanca während ihres Vortrags - © 2010 by Schattenblick

Die Referentin Blanca während ihres Vortrags
© 2010 by Schattenblick

Ein weiteres Foto zeigte ein Denkmal von Jorge Eliécer Gaitán. Vor diesem habe sie, so erzählte Blanca, der ihre Ergriffenheit an dieser Stelle noch immer anzumerken war, voller Ehrfurcht gestanden. Um verständlich zu machen, warum Gaitán von ihr wie auch von vielen anderen Menschen in Kolumbien noch heute verehrt wird, hatte die Referentin einen kleinen Text vorgelesen und erläuternd kommentiert. Jorge Eliécer Gaitán war im Jahre 1948 vor den seinerzeit bevorstehenden Präsidentschaftswahlen auf offener Straße erschossen worden. Er war der Kandidat der Liberalen Partei gewesen und hatte sich schon als Bürgermeister von Bogotá bei den Armen und Entrechteten einen Namen gemacht durch seine Bemühungen, ihr schweres Los zu lindern.

Über ihn ist bis auf den heutigen Tag die Anekdote erhalten geblieben, wie er 1948 während der Wahlkampagne mit seinem konservativen Gegner zusammengetroffen sei und diesen gefragt habe, womit er sein Geld verdiene. Mit seinem Land, habe dieser geantwortet, und auf Gaitáns wiederholte Frage, woher er bzw. sein Vater bzw. dessen Vater usw. denn das Land gehabt hätten, hätte sein Kontrahent schließlich zugegeben, daß seine Familie es den Ureinwohnern genommen hatte. Der Überlieferung zufolge soll Gaitán daraufhin gesagt haben, daß seine Partei das genaue Gegenteil vorhabe, nämlich den Ureinwohnern das Land zurückzugeben. Doch dazu sollte es nicht kommen, denn noch bevor Gaitán, womit zu rechnen gewesen war aufgrund der großen Zustimmung für ihn unter der armen Bevölkerung, Präsident werden konnte, wurde er am 9. April 1948 ermordet. Blanca beschrieb die Bedeutung dieses Politikers folgendermaßen:

Jorge Eliécer Gaitán wurde am 9. April 1948 hier in Bogotá mitten am hellichten Tag ermordet. Gaitán war ein Präsidentschaftskandidat der Liberalen Partei. Als Anwalt setzte er sich für die arme Bevölkerung ein, besonders für eine gerechtere Landverteilung. Als Bürgermeister von Bogotá 1936, als Kulturminister 1940-42 und als Arbeitsminister 1943-44 war er für eine Serie wichtiger, sozialer Reformen verantwortlich. Von großer Bedeutung in dieser Zeit war seine großangelegte Alphabetisierungskampagne.

Im Jahre 1948 herrschte ein Klima der Unruhe. Die öffentliche Ordnung war in einigen Landesteilen zusammengebrochen. Gaitán nutzte diese explosive Situation und rief zu gewaltigen Protestmärschen gegen die Regierung auf. "Der Marsch des Schweigens" oder "Der Marsch der Fackeln" sind der Bevölkerung noch heute in Erinnerung geblieben.

Für die Anhänger Gaitáns bestand kein Zweifel, daß die Konservativen für die Ermordung verantwortlich waren. Seine Ermordung stürzte Kolumbien in die tiefste Krise seiner Geschichte. Der sogenannte Bogotázo, der daraufhin folgte, forderte 3.000 Tote. Der anschließende Bürgerkrieg, Liberale gegen Konservative, die sogenannte "Violencia", dauerte zehn Jahre und kostete 200.000 Menschenleben. Hier hat die bewaffnete, revolutionäre Armee Kolumbiens (FARC) ihren Ursprung.

Der historische Entstehungszusammenhang der FARC ist heute nicht unbedingt jedem geläufig. Der Bürgerkrieg in Kolumbien begann mit Gaitáns Ermordung und währt nun schon über 60 Jahre. Gaitáns Todestag gilt vielen als Geburtsstunde eines Staatsterrorismus lange vor der Gründung der FARC, in deren bloßer Existenz die kolumbianische Regierung die Wurzeln des heutigen Konflikts verortet sehen möchte. Diese Sichtweise ist historisch schwer zu belegen, hatte doch die Ermordung des Hoffnungsträgers Gaitán unmittelbar einen politischen und sozialen Aufstand ausgelöst, zu dessen Niederschlagung die regierende Oligarchie alsbald das Militär eingesetzt hatte. Blancas Mutter hatte diese Zeit noch selbst miterlebt und konnte bestätigen, daß damals die Hauptstadt Bogotá in Flammen gestanden hatte. Da die Polizei der Aufständischen nicht Herr werden konnte, wurde das Militär nach Bogotá geschickt. In wenigen Stunden gab es Tausende Tote. Zehn Jahre lang wütete das Militär und führte Krieg gegen die eigene Bevölkerung. Der Widerstand gegen das Regime hatte sich alsbald aufs Land und die Bauern ausgeweitet. Die regierenden Konservativen ließen Linke wie Liberale verfolgen.

In einem lateinamerikanischen Land darf ein Denkmal zu Ehren Simon Bolívars hoch zu Pferde nicht fehlen. Blanca erläuterte ihren aufmerksamen Zuhörern die Bedeutung Bolívars, des Namensgebers der Nachbarrepublik Venezuela und der dortigen Bolivarischen Revolution. 1810 hatte Simon Bolívar fünf Länder Lateinamerikas befreit. Im Zuge seines Kampfes gegen die Spanier war er auch hier in Hamburg gewesen und hatte Strafgefangene für diesen Krieg rekrutieren können. Die damaligen Hansestädter leerten ihre Gefängnisse und gaben ihm zehn Schiffe mit ehemaligen Häftlingen mit, die, die Freiheit vor Augen, für Bolívar gegen die Spanier kämpften. Der große Traum Bolívars, so fuhr Blanca fort, nämlich ein einziges, geeintes Lateinamerika, blieb (damals) jedoch unerfüllt. Er wurde, so ihre Begründung, von damaligen Mitstreitern, die mehr Macht wollten, verraten und starb schließlich an Typhus.

Im heutigen Kolumbien sind viele Menschen ohne Hoffnung. Schon vor zwei Jahren lebten rund vier Millionen Vertriebene in den Slums der Großstädte. Heute, so schätzte Blanca, ist ihre Zahl auf fünf Millionen angestiegen. Die in Hamburg lebende Kolumbianerin beschrieb in ihrem Diavortrag, wie diese Vertreibungsmaßnahmen vonstatten gehen und welchen Hintergrund sie haben. Dabei entschuldigte sie sich fast bei möglicherweise anwesenden Menschenrechtsaktivisten für das, was sie zu berichten hatte. Demnach kommen in die Gebiete, aus denen die dort lebenden Menschen vertrieben werden sollen, zuerst Angehörige von Menschenrechtsorganisationen, um, wie sie es formulierte, die Lage zu prüfen und zu sehen, wie die Situation in den jeweiligen Dörfern ist. Dann kommt das Militär und erklärt den Dorfbewohnern, daß sie hier besser verschwinden sollten, verbunden mit der Androhung, daß andernfalls in drei Tagen die Paramilitärs kämen.

Sobald dies geschieht, wird, von Hubschraubern aus, sofort geschossen auf Mensch und Tier. Wenn die Paramilitärs gelandet sind, treiben sie die Dorfbewohner zusammen und erschießen ein oder zwei von ihnen, um die übrigen zur Flucht zu zwingen. Anschließend werden, um eine spätere Rückkehr der Einheimischen zu verhindern, alle Hütten niedergebrannt. Die Vertriebenen schlagen sich bis in die Städte durch, in deren "Kloaken" sie zu leben sich gezwungen sehen - in Hütten aus Plastik, ohne alles, was ein Mensch zum Leben braucht. Doch nicht einmal hier läßt man sie gewähren. Die Regierung kommt und sagt, so Blancas erschütternde Schilderung, hier könnt ihr nicht bleiben. Und so kommen Panzer. Es gibt Schätzungen, denen zufolge dem Staatsterrorismus in Kolumbien, wie das inoffizielle Zusammenwirken mit paramilitärischen Organisationen genannt wird, bereits 15.000 Menschen zum Opfer gefallen sind.

Ernste Worte - Blanca trägt vor - © 2010 by Schattenblick

Ernste Worte
© 2010 by Schattenblick
In ihren historischen Ausführungen ging die engagierte Kolumbianerin anläßlich eines präsentierten Plakates auch auf die "Unión patriótica" ein, eine Ende der 1990er Jahre gegründete patriotische Einheitsfront, zu der sich politische Organisationen und die FARC zusammengeschlossen hatten und die auch erste Wahlerfolge bei der Bevölkerung zu verzeichnen hatte. Doch innerhalb von drei Jahren seien fünftausend ihrer Mitglieder getötet worden in einem, so die Referentin, Akt der Staatskriminalität. Viele politische Morde - auch an Gewerkschaftern - geschehen auf offener Straße, und so ist es in Kolumbien üblich, sich vor Demonstrationen mit den Worten zu verabschieden: Vielleicht sehen wir uns nicht wieder. Bei uns kriegt man Blei, wenn man auf eine Demo geht, ist Blanca zufolge ein weiteres geflügeltes Wort in ihrem Heimatland.

Ein für Kolumbien einschneidender Zeitpunkt war das Jahr 2000, wurde doch in ihm in den USA der "Plan Colombia" ins Leben gerufen. Ihm widmete die Referentin ihre besondere Aufmerksamkeit, um zu verdeutlichen, wie sehr der scheinbar innenpolitische Konflikt ihres Landes mit den Interessen Washingtons zusammenhängt. Ihre Kernthese lautete, daß es sich bei diesem Plan keineswegs, wie behauptet wird, um Maßnahmen zur Drogenbekämpfung bzw. um eine Unterstützung derartiger Operationen der kolumbianischen Regierung durch die USA handelt, sondern um einen "Kriegsplan gegen die Bevölkerung" (Kolumbiens). Um zu erläutern, welche wirtschaftlichen wie strategischen Interessen auf Seiten Washingtons durch den Plan Colombia verfolgt werden, führte die Referentin aus:

Der "Plan Puebla-Panama" beinhaltet im wesentlichen einen Plan zum Ausbau vielfältiger Verbindungswege, um das Freihandelsabkommen ALCA umzusetzen. Dieses Freihhandelsabkommen sollte abgeschlossen werden. Doch alle Länder haben Nein gesagt, außer Mexico, Peru und Kolumbien. Die übrigen lateinamerikanischen Länder haben nicht unterschrieben. Um diesen Plan durchzusetzen, haben sie "Plan Colombia" entworfen und militärisch auch durchgesetzt. Doch der Plan Colombia hatte keinen Erfolg. Ich werde gleich noch etwas zu den sieben Militärstützpunkten sagen. Die geplanten Verbindungswege, um das Freihandelsabkommen ALCA umzusetzen, führen das kolumbianische Öl vom Orinoco-Becken, also Kolumbien, über Panama nach Puebla in Mexico direkt nach Texas in den USA.

Um die Sicherheit dieser Verbindungswege zu garantieren, werden Paramilitärs eingesetzt, die die gesamte Strecke der Ölpipelines mit Einschüchterungen, Vertreibungen und Massakern zupflastern. Diese Strategien werden von der kolumbianischen Regierung durchgeführt und direkt von den USA finanziert. Vor Ort werden die einheimischen Paramilitärs von US-Marines, CIA-Agenten und Folter- und Nahkampfspezialisten des israelischen Mossad, also dem Geheimdienst, ausgebildet. Durch die intensive Nutzung des Paramilitarismus hat die CIA den militärischen Widerstand in Mittelamerika gebrochen.

Der von der Referentin bestrittenen Behauptung, der Plan Colombia diene der Drogenbekämpfung, setzte sie die These entgegen, daß dieser Plan der Militarisierung des gesamten Kontinents diene und daß dies Gesundheitsschäden für Menschen weit über die Grenzen Kolumbiens hinaus zeitige. Dazu führte sie aus, daß unter der Maßgabe vermeintlicher Drogenbekämpfung weite Flächen, beispielsweise in Orinoco im Amazonasbecken, aus der Luft mit mutierten Vernichtungspilzen besprüht werden. Durch diese Besprühungen werden jedoch ganze Ökosysteme zerstört und Flüsse vergiftet. Auch auf die betroffenen Menschen haben die Pilzmutationen verheerende Auswirkungen. Es treten vermehrt Krebserkrankungen auf, Kinder erblinden, auch Hautablösungen und Fehlgeburten zählen zu den katastrophalen Folgen. Im Norden Kolumbiens allerdings, wo die Paramilitärs das Sagen haben, finden solche Sprühaktionen nicht statt, obwohl - oder gerade weil - hier Drogen angebaut werden. In diesem Zusammenhang erwähnte Blanca den Fall eines in der Drogenbekämpfung tätigen kolumbianischen Offiziers, der selbst beim Kokainschmuggel erwischt wurde und eine Bagatellstrafe von fünf Monaten Haft auf Bewährung erhielt.

Die sich "Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens" (FARC) nennende Linksguerilla des Landes wiederum soll sich, Blancas Angaben zufolge, wesentlich in den Erdöl- und Bananenanbaugebieten bewegen. Die FARC werde nicht nur militärisch, mit Unterstützung der USA durch den Plan Colombia, bekämpft, sondern auch medial. Dazu gehöre, so die These der Referentin, die Behauptung, die FARC sei eine Narco-Guerilla, womit unterstellt werde, daß sie sich über Drogengeschäfte finanzieren würde. Blanca brachte ihr Unverständnis darüber zum Ausdruck, daß diese Medienpropaganda sogar von Linken ungeprüft übernommen wird und kritisierte, daß diese Lügen nicht recherchiert werden. So werde einfach gesagt, daß es sich bei der FARC um Drogenhändler handeln würde, dabei seien es Bauern und einfache Familien, die auch nicht "Bananenguerilla" genannt werden, wenn sie in Bananenanbaugebieten präsent sind.

Die Referentin geht auf Fragen aus dem Publikum ein - © 2010 by Schattenblick

Die Referentin geht auf Fragen
aus dem Publikum ein

© 2010 by Schattenblick
In über der Hälfte Kolumbiens - das gesamte Land ist in etwa viermal so groß wie Deutschland - soll diese irreguläre Armee präsent sein. Auf Nachfragen aus dem Publikum stellte die Referentin klar, daß die FARC diese Gebiete keineswegs unter ihrer Kontrolle haben, sondern daß es sich bei diesen Regionen um Kampf- und Kriegsgebiete handelt, in denen keine Landwirtschaft entwickelt, keine Armutbekämpfung greifen und kein sozialer Aufbau betrieben werden und gedeihen kann, weil die einfache Bevölkerung immer wieder in diesen Krieg hineingezogen wird. Sei es, daß die Anbauflächen - Stichwort: Plan Colombia - immer wieder besprüht werden, sei es, daß die Elektrizität abgeschnitten wird, damit die Landbevölkerung nicht kommunizieren und Informationen austauschen kann. Allen Anwesenden war an dieser Stelle der Wunsch, es möge doch endlich Frieden in Kolumbien geben, deutlich anzumerken.

Blanca brachte diesen seit so langer Zeit und ungeachtet vielfacher Vermittlungs- und Verhandlungsbemühungen bislang völlig ungelösten Konflikt mit den Worten auf den Punkt: Es ist ein Krieg, in dem es um Essen und Wasser und um den Hunger geht. Sie sprach auch die Haltung der USA an, die in Lateinamerika, so wie es US-amerikanische Kinder schon in der Schule lernen, ihren Hinterhof sehen. So soll es beispielsweise in Kolumbien ein riesiges Wasserreservoir geben, durch das sechs Milliarden Menschen 200 Jahre lang versorgt werden könnten, das aber von den USA als "ihr" Wasser beansprucht und mit einem Ring von Militärstützpunkten umgeben wurde.

Lateinamerika scheint jedoch in vielfältiger Hinsicht das Objekt der Begierde der westlichen Welt zu sein. Nicht nur die Verfügung über Menschen und Ressourcen sowie die Kontrolle über die Staaten, Gesellschaftssysteme und Regierungen dieses Kontinents scheinen auf der Agenda Washingtons weit oben zu stehen. Auch im Ringen um die wirtschaftliche Vorherrschaft ist Lateinamerika als Handelspartner und Absatzmarkt für die USA von großem Interesse, wie die Referentin mit ihren weiteren Ausführungen zum Plan Colombia zu verdeutlichen suchte:

Seit der Einführung des Plan Colombia vor elf Jahren, also 1999, wurden mehrere tausend US-Militärangehörige damit beauftragt, Landebahnen und Militäranlagen in Form eines Gürtels um Brasilien zu errichten. Das Ziel der US-Außenpolitik ist in Wahrheit, eine Reihe von kleineren, beweglichen Militärstützpunkten auszubauen. In Palanquero [3] beispielsweise können fünf Flieger landen, da kommen dann Panzer und ein paar tausend Soldaten heraus. Das heißt, man kann damit sofort einen Krieg anfangen, irgendwo in irgendeinem Land, und das alles unter dem Vorwand des Plan Colombia.

Damit soll die Arbeit der Militärs und der Geheimdienste vor Ort erleichtert werden. Der Plan Colombia wird als Täuschungsmanöver benutzt, um der Weltöffentlichkeit ein falsches Bild der Tatsachen zu liefern. Dieses neue Konzept der amerikanischen Militärs trägt den Namen "Global En Route Strategy". Es beinhaltet als vorrangiges Ziel die enge Zusammenarbeit mit regionalen Regierungen wie Uribe und den jetzigen Diktatoren. Von der Installation von Radaranlagen und Überwachungssystemen sowie der Nutzung von zivilen Einrichtungen wie Flug- und Seehäfen erhoffen sich die US-Militärs die Möglichkeit einer noch schnelleren und effizienteren Militärinvasion in der ganzen Region. Aus Palanquero zum Beispiel kann ein Flieger, der dort schon stationiert ist, in ein anderes Land fahren, Venezuela oder Ecuador, und dort sofort einen Krieg anfangen, auch über die Landesgrenzen hinaus.

Die Auswirkungen der neuen Strategie der US-Militärs steht in direktem Zusammenhang mit den innen- und handelspolitischen Entwicklungen in Venezuela und Brasilien der letzten Jahre. Das zunehmende Interesse Chinas an Lateinamerika, insbesondere an den Ölstaaten Venezuela und Brasilien, hängt unmittelbar mit der bevorstehenden Ölkrise zusammen. Diese neuen Kooperationen zwischen China und Lateinamerika werden in Washington mit großer Sorge beobachtet. China ist seit zwei Jahren Handelspartner Nummer 1 Brasiliens. Durch die Milliardeninvestitionen Chinas in Lateinamerika tobt seit Jahren ein heftiger, wirtschaftlicher Krieg zwischen den USA und der Volksrepublik China um die Einflußnahme in Lateinamerika.

Die hier angesprochene Option einer schnellen Intervention oder Kriegführung seitens der USA hatte vor kurzem zu einer politischen Krise zwischen den Nachbarländern Kolumbien und Venezuela geführt. Ausgelöst durch den inzwischen ehemaligen Präsidenten Uribe war es zu einem Abbruch der diplomatischen Beziehungen gekommen, nachdem der scheidende Staatschef Kolumbiens kurz vor Ablauf seiner Amtszeit gegen Venezuela den Vorwurf erhoben hatte, im Grenzgebiet bis zu 2.500 FARC-Kämpfer zu behergen. Den aktuellen und nachprüfbaren Beweis war Uribe schuldig geblieben. Gleichwohl hielten die Menschen in diesen beiden Ländern, aber auch der gesamten Region, im Bilde gesprochen den Atem an angesichts der Gefahr, daß aus dieser augenscheinlich absichtlich herbeigeführten Krise möglicherweise sogar ein Krieg entfacht werden könnte. Diese akute Gefahr ist inzwischen beigelegt, die Präsidenten beider Staaten, Chávez und nunmehr Santos auf kolumbianischer Seite, haben direkt miteinander gesprochen und die beiderseitigen Beziehungen normalisiert.

Doch was heißt schon normalisiert in diesem Kontext? Blanca erinnerte in diesem Zusammenhang daran, daß der jetzige Präsident Santos, nachdem durch das Veto des kolumbianischen Obersten Gerichtshofs die von Uribe angestrebte dritte Amtszeit verhindert worden war, nach Washington beordert worden sei und dort mit US-Außenministerin Clinton gesprochen und bei dieser Gelegenheit versprochen habe, nicht nur die FARC, sondern auch Venezuela und Ecuador zu vernichten, sollte er Präsident werden. Zu Uribes Vorstoß, Venezuela unmittelbar vor dem Ende seiner Amtszeit so massiv zu beschuldigen, daß daraus eine ernste diplomatische Krise erwuchs, merkte die Vortragende an, daß Uribe damit von einer Untersuchung über ein Massengrab habe ablenken wollen, dessen Ergebnisse am selben Tag veröffentlicht wurden. An dieser Untersuchung, bei der es um einen Fundort mit 2000 anonym bestatteten Leichnamen ging, sind international renommierte Journalisten und sogar EU-Parlamentarier beteiligt gewesen. Sie alle wurde von Uribe diffamiert mit Begriffen wie "alles Terroristen" oder auch der Behauptung, sie seien "alle FARC-Anhänger".

Daß es zu einer weiteren, womöglich sogar militärischen Eskalation zwischen Venezuela und Kolumbien (vorerst) nicht gekommen ist, führte Blanca auf die Stärke der FARC zurück. Diese habe trotz der Rückschläge der vergangenen Jahre neuen Zulauf auch unter jungen Menschen gewonnen. Dies wisse auch die Regierung in Bogotá, so die These der Exil-Kolumbianerin, weshalb Bogotá davon Abstand genommen habe, Venezuela anzugreifen und Soldaten dorthin zu schicken. In den zurückliegenden beiden Jahre seien mehr und mehr Studenten zur FARC übergelaufen, weil immer mehr junge Studenten getötet worden seien. Allein in diesem Jahr seien bereits 35 solche Morde geschehen.

Als Studenten sich mit Einkaufstüten maskierten, schilderte die Referentin einen aktuellen Vorfall, um unerkannt ihre Reden halten zu können, hieß es alsbald, es seien Guerilleros. Sie kamen der an sie gerichteten Forderung, sich zu demaskieren, nicht nach, nachdem sich niemand gefunden hatte, der ihnen hätte garantieren wollen, daß keiner von ihnen hinterher gefangengenommen oder "verschwinden" würde. Es waren Studenten, betonte Blanca noch einmal und verwies anhand dieses Beispiels auf den großen Einfluß der in- wie auch ausländischen Medien, die solche Informationen nicht bis hierher transportieren würden. Ungeachtet des massiven Vorgehens des Militärs gäbe es in Kolumbien einen starken Widerstand, was Blanca damit zu erklären suchte, daß viele Menschen zu der Auffassung gelangt seien, nichts mehr zu verlieren zu haben. Sie schilderte das Beispiel einer Mutter, die auf einer Demonstration ungeachtet der damit verbundenen großen Gefahren Essen verkaufte, um das Geld für den Sarg ihrer schwer nierenkranken Tochter, die sterben werde, zu verdienen.

Ein Fazit aus alldem zu ziehen, erwies sich am Ende dieses interessanten wie gleichermaßen aufwühlenden Reiseberichts als nicht erforderlich, hatte doch der engagierte Vortrag der Referentin sowie die anschließende angeregte und durchaus auch kontrovers geführte Diskussion bei wohl allen Anwesenden eine Nachdenklichkeit erzeugt und hinterlassen, die ein längerfristiges Interesse sowie die Bereitschaft, sich mit einem so schwierigen, bislang völlig ungelösten und vielschichtigen Konflikt zu konfrontieren, geweckt bzw. bestärkt haben dürfte. Dies hätte die - wie auch immer geartete - Erfüllung des nur zu verständlichen Wunsches nach einer schnellen Antwort oder Lösung wohl kaum zu leisten vermocht. So wurde entsprechend der "Schwere der Kost" der zur Sprache gebrachten Problematik dieser Abend mit einer angeregten Debatte zur Begründbarkeit des bewaffneten Widerstands der unteren Gesellschaftsschichten gegen die herrschenden Verhältnisse zum Ausklingen gebracht.

Blanca mit Zaman Masudi in den Räumen des Koordinationsrates der Iranerinnen und Iraner in Hamburg e.V. - © 2010 by Schattenblick

Blanca mit Zaman Masudi
© 2010 by Schattenblick


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Anmerkungen der SB-Redaktion:

[1] Der Koordinationsrat der Iranerinnen und Iraner in Hamburg e.V. ist ein gemeinnütziger Verein von Flüchtlingen aus dem Iran, die in Hamburg Zuflucht und Asyl gefunden haben und sich aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen in Hamburg für Flüchtlinge und Migranten aus aller Welt einsetzen. Zu der Vereinsarbeit gehört neben Informationsveranstaltungen, kulturellen und politischen Treffen auch das "Frauenprojekt Perspektiven", das sich speziell an Flüchtlingsfrauen wendet und ihnen Beratung, Integrations- und Fortbildungsmöglichkeiten anbietet. Dieses Projekt wird von der Hamburger Behörde für Soziales, Familie und Verbraucherschutz, dem Europäischen Flüchtlingsfonds und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge unterstützt.

[2] Der Hamburger Verein "Engel ohne Heimat e.V." leistet Hilfe für Kinder in Kolumbien und unterstützt dort tätige Projekte wie das Sozialwerk San Mateo und den Verein "Mujeres democraticas" (Demokratische Frauen) in der Hauptstadt Bogotá.

[3] Palanquero ist der größte US-Luftwaffenstützpunkt in Kolumbien.


2. September 2010