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EUROTREFF/006: Irland-Krise - Kieran Allen antwortet (SB)


Irland-Krise - Kieran Allen antwortet

Interview mit dem Vordenker der Socialist Workers Party Irlands


Kieran Allen ist langjähriger Dozent für Soziologie am University College Dublin (UCD). Er gehört zum Führungskollektiv der irischen Socialist Workers Party (SWP) und steuert deren alle zwei Wochen erscheinenden Zeitung Socialist Worker regelmäßig Artikel bei. Darüber hinaus hat er mehrere Bücher, darunter "The Politics of James Connolly", "Celtic Tiger" und "Max Weber - Sociologist of Empire" veröffentlicht. Sein neuestes Werk, "Ireland's Economic Crash - A Radical Agenda For Change", ist eine aufschlußreiche, unterhaltsam geschriebene wie zugleich vernichtende Kritik der politischen und wirtschaftlichen Elite Irlands, die nach dem Platzen der von ihnen angeheizten Immobilienblase vor einem Scherbenhaufen steht. Über die politisch-ökonomische Lage in Irland und ihre eventuelle Auswirkung auf den bevorstehenden Volksentscheid zum EU-Reformvertrag sprach der Schattenblick mit Kieran Allen, bei ihm zu Hause im Dubliner Stadtviertel Drumcondra, am 28. Juli.

Irlands Economic Crash

SB: Dr. Allen, Angstmache war eine wesentliche Strategie der Leute, die beim Lissabon-Referendum im letzten Jahr für ein Ja plädiert haben. Wir können beobachten, wie sie jetzt ein zweites Mal benutzt wird, diesmal jedoch begleitet von einem schweren Angriff auf die Löhne, von einer Kürzung der Sozialhilfe etc. etc. Was meinen Sie, wie stehen die Aussichten für einen Gegenschlag seitens der werktätigen Bevölkerung am 2. Oktober?

KA: Ich glaube, die stehen sehr gut. Im Moment wird die Medienberichterstattung über die Lissabon-Kampagne von all diesen "zivilgesellschaftlichen" Pseudogruppen mit unterschiedlichen Namen dominiert, die täglich gegründet werden und jede Menge Aufmerksamkeit erhalten. Dazu kommt die Situation, daß die EU-Kommission loszieht und öffentliche Versammlungen abhält, die sich angeblich nicht in das irische Referendum einmischen, aber in Wirklichkeit Steuergelder dafür verwenden, um für ein Ja-Votum zu werben. Zur gleichen Zeit herrscht allgemein in der irischen Bevölkerung eine erhebliche Furcht wegen der Rezession. Die meisten Zahlen zeigen, daß die Löhne im Privatsektor um vier bis fünf Prozent gedrückt worden sind. Die Menschen haben also Gehaltskürzungen akzeptiert. Aber das kann man nicht ewig mit ihnen machen. Man kann Menschen unter Druck setzen, ihre Erwartungen enttäuschen und sie zwingen, sich zu fügen, aber wenn man dabei bleibt, gibt es am Ende eine soziale Explosion. Eines der Merkmale dieser Explosion könnte in einer Reaktion auf die ständige Erpressung und Drohung bestehen, daß die Menschen tun müssen, was man ihnen sagt und "mit Ja für Lissabon stimmen", und zwar in Form eines zweiten mehrheitlichen Nein.

SB: Als Mitglied der SIPTU [Services, Industrial, Professional and Technical Union] und Dozent am UCD [University College Dublin], wie würden Sie die Atmosphäre unter den Gewerkschaftsmitgliedern - insbesondere im Lichte des kürzlichen Erfolgs des Elektrikerstreiks - und auch unter den Studenten angesichts der allgemeinen Wirtschaftslage sowie des herannahenden Lissabon-Referendums beschreiben?

KA: Ich fang' mal mit den Gewerkschaften an. Die Rezession ist nun seit einem Jahr in ihrem sicherlich stärksten Ausmaß offensichtlich. Die ersten Menschen, die gegen die Rezession und ihre Folgen gekämpft haben, waren die Rentner, die im letzten Herbst massiv mobilisiert und die Regierung zurückgeschlagen und dazu gezwungen haben, Rentenkürzungspläne zurückzunehmen. Danach geschah dann folgendes: Die Regierung hat sich, ermutigt durch verschiedene neoliberale rechte Medienkommentatoren, erneut formiert und beschlossen, rasch gegen die Gewerkschaften vorzustoßen - in Irland sind heutzutage 80 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder im öffentlichen Sektor beschäftigt -, indem sie im Februar eine Rentenabgabe für alle Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst einführte, die konkret eine Lohnkürzung um rund sieben Prozent für die meisten von ihnen bedeutete.

Die Reaktion der Gewerkschaftsmitglieder war ausgesprochen zornig. Am UCD, wo ich arbeite, stimmten unsere Mitglieder zu 90 Prozent dafür, diese Abgabe mit einem Streik zu beantworten. Leider wollten die Gewerkschaftsführer die sozialpartnerschaftlichen Strukturen beibehalten und haben mit Nachdruck darauf bestanden, mit der Regierung im Gespräch zu bleiben. Trotzdem mußten sie schließlich zu einer großen Demonstration aufrufen, zu der hunderttausend Menschen gekommen sind. Auf dieser Demonstration gab es den allgemeinen Ruf nach einem nationalen Streik. Also waren die Gewerkschaftsführer im Grunde dazu gezwungen, über einen eintägigen Generalstreik für den 30. März abstimmen zu lassen. Und dann - ich will jetzt nicht ins Detail gehen - haben sie ihn abgesagt. Das hat unter den Gewerkschaftsmitgliedern für erhebliche Demoralisierung und wirkliche Desorientierung gesorgt. Bei uns in der Abteilung gab es Menschen, die aus der Gewerkschaft austreten wollten und so weiter.

Aber ich glaube, daß der Zorn der Arbeitnehmer, der im Arbeitskampf durch die Absage des Generalstreiks am 30. März besiegt wurde, seinen Ausdruck in den Kommunalwahlen und den Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni gefunden hat. Das hat sich in eine enorme Zustimmung für Labour übersetzt sowie in eine Reihe von Erfolgen der radikalen Linken, im Falle von Dublin die Wahl von Joe Higgins von der Sozialistischen Partei ins Europaparlament, und die Wahl einer Anzahl von Kandidaten der Allianz "People Before Profit" in verschiedene Kommunalräte. Darüber hinaus erleben wir ein zunächst geringes, aber recht bedeutsames Ausmaß an Arbeitskämpfen, die sich zur Zeit ereignen. Der Elektrikerstreik, auf den Sie sich in Ihrer Frage bezogen haben, scheint erfolgreich gewesen zu sein, aber wir müssen sehen, was weiterhin geschieht. Es hat andere kleinere Auseinandersetzungen gegeben, von denen die Menschen aus den Nachrichtenmedien wahrscheinlich nichts gehört haben. Gestern zum Beispiel war ich auf einer Demonstration von 300 Menschen aus zwei Arbeiterklassegemeinden in Ringsend/East Wall zur Unterstützung der derzeitigen Streikaktionen der Dubliner Werftarbeiter. Wir wissen nicht, wie sich die Dinge auf lange Sicht entwickeln werden, aber es gibt ein Ausmaß an öffentlichem Zorn da draußen, das meiner Meinung nach in nächster Zeit seinen Ausdruck in einer sozialen Explosion finden wird.

Kommen wir nun zu den Studenten: Viele junge Menschen sind in den Boom-Jahren aufgewachsen, mit denen einige traditionelle irische Gewohnheiten wie Trinken, Partys feiern und so weiter stark zugenommen haben. In der Folge hat sich das Studentenleben in den letzten Jahren sehr entpolitisiert. Ein gutes Beispiel dafür ist die Tatsache, daß in meiner eigenen Universität die Führung der Studentenvertretung an Mitglieder der Fianna Fáil-Partei gegangen ist, was ein bißchen ungewöhnlich ist. Dann wiederum ist es auch ein ungewöhnliches Merkmal, daß ich, seit ich am University College Dublin bin, nie erlebt habe, daß eine Frau für den Vorsitz der Studentenvertretung kandidiert. Es ist in vielerlei Hinsicht ein sehr männlich dominiertes, konservatives Gremium. Nun gibt das nicht vollständig wieder, was Studenten empfinden, aber es ist offensichtlich eine Andeutung.

Grob gesagt hat es über die vergangene Periode hinweg eine allgemeine Entpolitisierung der Studentenschaft gegeben, hauptsächlich infolge des Booms, einer gewissen Party-Kultur und auch aufgrund einer sehr instrumentalisierenden Herangehensweise an Bildung im allgemeinen. Im Verlauf des letzten Jahres hat eine geringe Veränderung eingesetzt, weil Studenten jetzt mit der Wiedereinführung von Gebühren konfrontiert sind, die als Studentenkredit nach dem Abschluß abbezahlt werden müssen. Dieses Schema ist zum Teil dem australischen System abgeguckt. Ich gehe davon aus, daß diese Pläne zu einem Anwachsen des politischen Interesses auf seiten der Studenten führen.

SB: In der laufenden Debatte über die aktuelle Wirtschaftskrise haben viele Kommentatoren nahegelegt, daß Irland durch seine Mitgliedschaft beim Euro vor einem ähnlichen Schicksal wie Island bewahrt wurde. In diesem Fall wird häufig die Auswirkung der niedrigen Zinsen nicht bedacht, die von der Europäischen Zentralbank in den letzten paar Jahren mit Hinblick darauf diktiert wurden, die Konjunktur in Frankreich und Deutschland anzukurbeln, was anscheinend die Blase in der irischen Banken- und Baubranche verstärkt hat. Hätte Irland noch das Punt [irische Währung] und die Kontrolle über die eigene Geldpolitik gehabt, wäre es vielleicht möglich gewesen, diese Blase durch die Erhöhung der Zinsen zu schrumpfen oder den Wechselkurs für das Punt zu senken. Zudem wird die Tatsache übersehen, daß die großen irischen Banken aufgrund von Irlands Mitgliedschaft in der Eurozone in der Lage waren, wesentlich höhere Kredite aufzunehmen, als es möglich gewesen wäre, wenn Irland die eigene Währung behalten hätte. Wie ist Ihre Einschätzung zu diesen beiden speziellen Sachverhalten?

KA: Also ich habe keinen Einwand dagegen, daß Irland den Euro hat. Sicher ist etwas Wahres dran, an dem, was Sie sagen, aber es ist eine Frage des Gewichts, das man diesen speziellen Aspekten beimißt und wohin die Analyse einen führt. Die meisten Länder der Welt, sei es inner- oder außerhalb der Eurozone, erleben zur Zeit einen massiven wirtschaftlichen Absturz. Deshalb würde ich mich nicht auf den Euro als primären Grund festlegen. Grob gesagt ist der Crash die Folge einer Krise des Kapitalismus, die zu einer Überproduktion führt, sinkende Gewinne nach sich zieht und den Versuch, das zu kompensieren, indem man zum einen die Löhne drückt - d.h. den Lebensstandard der Arbeitnehmer - und zum anderen Gelegenheiten für finanzielle Spekulationen schafft. Deshalb bin ich der Meinung, daß dieser Aspekt wichtiger ist als die Frage, welche Währung ein Land hat.

Sie haben natürlich recht, daß die irischen Banken die Möglichkeit hatten, ihre Reserven auf niedrigstem Niveau zu halten und enorme Summen auf dem Bankenkreditmarkt aufzunehmen, nachdem sie 1999 dem Euro beigetreten waren. In dem Sinne förderte also die Mitgliedschaft in der Eurozone die unglaubliche Gier der irischen Banken. Als wir noch das irische Punt hatten, waren sie etwas eingeschränkter in Hinsicht auf die Summen, die sie leihen konnten. In den letzten Jahren hingegen konnten sie riesige Summen auf den europäischen Geldmärkten aufnehmen. Aber ich möchte noch einmal betonen, daß die Hauptdynamik nicht aus dem Wechsel der Währung rührte, sondern eher aus dem Wandel der makroökonomischen Umstände. Von 1995 bis 2001 erfreute sich die irische Wirtschaft einer hohen Produktivität und eines hohen Wachstums, und von da an - ob es eine bewußte Entscheidung war oder ob die Menschen da hineingestolpert sind - wurde ein anderes Modell verfolgt, das im Kern darin bestand, durch Immobilienspekulationen die Verbraucherausgaben anzuregen. Ich würde behaupten, daß es eine Allianz zwischen den Banken, der größten politischen Partei Fianna Fáil und den privaten Baugesellschaften war, die dieses Modell propagiert hat. Und eines der Mittel dabei war, daß der Staat - sehr bewußt, das war kein Zufall - beschlossen hat, ein Regime extrem geringer Regulation zu erlauben, das es den Banken möglich machte, diese enormen Kredite im Ausland aufzunehmen, um den irischen Immobilienboom anzuheizen, während die Reserven gering gehalten wurden. Dies ist einer der Hauptgründe dafür, daß die Krise hier schlimmer ist als anderswo.

SB: Ein weiterer Aspekt des Euro betrifft die Behauptung, die täglich in allen Zeitungen aufgestellt wird, daß Irland seine Lohnkosten senken muß, um wieder wettbewerbsfähig zu werden. Ein weiterer Aspekt des Euros, der häufig von jenen übersehen wird, die jenes Argument bringen, ist, daß die Mitgliedschaft in der Eurozone die irischen Produkte und Dienstleistungen im Vereinigten Königreich und in den Vereinigten Staaten von Amerika teuer gemacht hat, also in den zwei Ländern, mit denen Irland den Großteil seines Handels abwickelt; und deren Währungen, das Pfund Sterling und der Dollar, fallen schon seit einiger Zeit im Wert gegenüber dem Euro. Das deutlichste Beispiel für diesen Sachverhalt ist die riesige Zahl von Menschen, die aus der Republik über die Grenze nach Nordirland fahren, um einzukaufen, weil dort die Preise viel niedriger sind.

Dr. Kieran Allen

KA: Ich kann dem Argument nicht folgen, daß die Lohnkosten im diesem Land hoch sind. Das Ausmaß, in dem diese Behauptung in den sogenannten liberalen irischen Medien fast wie ein Mantra wiederholt wird, erinnert mich an die frühere Sowjetunion und die vergeblichen Versuche von Ein-Parteien-Staaten, die Regierungslinie unters Volk zu bringen. Haben wir hohe Lohnkosten? Nein, wir haben keine hohen Lohnkosten und hatten sie auch nicht in Zeiten des Booms und der Vollbeschäftigung. Was wir haben, ist eine Wirtschaft mit hoher Inflationsrate, was bedeutet hat, daß die Werktätigen einen Ausgleich für die steigenden Lebenshaltungskosten brauchten. Wenn man sich die Zahlen einmal ansieht, stellt man fest, daß die irischen Löhne noch immer etwa 10 Prozent unter dem EU-15-Durchschnitt liegen; das ist der durchschnittliche Lohn der ursprünglichen 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Noch dazu haben irische Arbeitnehmer weniger Ferien, und die irischen Arbeitgeber erfreuen sich der niedrigsten Sozialabgaben in Europa.

Es stimmt also nicht, daß der durchschnittliche Arbeitslohn in Irland sehr oder zu hoch ist, ob nun in Euro gemessen oder nicht. Man könnte einwenden, daß die Mitgliedschaft in der Eurozone zum Preisanstieg beigetragen hat und deshalb auch zu der Immobilienblase, aber ausschlaggebend ist meiner Meinung nach, daß die Eliten beschlossen haben, die arbeitende Bevölkerung für die Krise bezahlen zu lassen, statt der Leute, die sie verursacht haben. Da sie aufgrund der Euro-Mitgliedschaft nicht die Zinsen erhöhen können, sind sie entschlossen, den Lebensstandard der Lohnempfänger zu senken. Das ist der Grund, warum sie Lohnkürzungen als wesentliche "Lösung" für die Krise gewählt haben. Sie haben die Löhne im öffentlichen Bereich über eine Rentenabgabe gekürzt, und im Privatsektor läuft eine sehr aktive Kampagne, um auch dort die Entlohnung der Arbeitnehmer zu senken.

Ihr Argument ist, daß man die Löhne senken muß, um die Exporte zu erhöhen, was dann wiederum zu mehr Arbeitsplätzen führen würde. Aber das Argument ist Unsinn. Wenn eine Friseuse in Monaghan ihren Angestellten alle Löhne kürzt, heißt das nur, daß sie weniger Geld zum Ausgeben in den örtlichen Läden haben. Und wenn alle kleinen Unternehmen das gleiche tun, bedeutet das möglicherweise, daß die Inhaber der örtlichen Läden Leute entlassen müssen. Seit den 30er Jahren ist wohlbekannt, daß man durch Lohnkürzungen die Nachfrage senkt, was wiederum eine Deflationsspirale in Gang setzt. Entkommt Irland dieser Spirale, wenn es seine Exporte erhöhen kann? Das hängt natürlich von der Weltwirtschaft ab. Wir wissen nicht, was passieren wird, und ich wäre auf keinen Fall so optimistisch wie die irische Elite, daß die grünen Keime der Erholung bereits anfangen zu sprießen. Auch wenn die Weltwirtschaft sich erholt, garantiert das allein nicht eine Zunahme der irischen Exporte. Sieht man sich die irischen Exporte an, entdeckt man jedenfalls, daß es exakt die Sektoren mit den höchsten Löhnen sind, die verarbeitende und pharmazeutische Industrie, die 75 Prozent davon ausmachen. Dies sind Bereiche mit einem hohen Grad amerikanischer Investitionen in Technologie, Maschinen etc. Das also hat das hohe Maß an Exporten bewirkt, nicht niedrige Löhne. Die niedrigsten Löhne in der irischen verarbeitenden Industrie findet man in der Textilindustrie, die, nicht überraschend, auch die niedrigste Exportrate aufweist. Die Logik ihres Plädoyers für niedrige Löhne hält also einer näheren Untersuchung nicht stand. Aber dann sind die Leute, die dieses Argument benutzen, auch weniger an Logik interessiert, sondern in erster Linie daran, die Armen stellvertretend für ihre eigenen Fehler zahlen zu lassen.

SB: Ein Argument, das den Menschen vorgehalten wird, die im Lissabon-Referendum mit Nein stimmen, ist, daß das angesichts der Mittel des Strukturausgleichsfonds und der Hilfen, die Irland von der EU im Laufe der Jahre erhalten hat, ein gewisses Maß an Undankbarkeit bedeutet. Joschka Fischer, der frühere Außenminister und Chef der deutschen Grünen, hat in einem Interview mit dem deutschen Fernsehen in Hinblick auf den Strukturfonds kürzlich gesagt, daß dieser nicht allein deshalb in deutschem Interesse wäre, weil er helfen würde, Märkte in den anderen EU-Ländern zu erschließen, sondern deutsche Unternehmen seien auch die Hauptprofiteure der Verträge, die für die geleistete Arbeit geschlossen werden. Können Sie das für Irland bestätigen?

KA: Ich weiß nicht, ob deutsche Unternehmen die Hauptprofiteure des EU-Strukturfonds in Irland waren, deshalb kann ich Fischers Aussage nicht bestätigen. Wenn ich mich recht erinnere, wurden etwa acht Milliarden Euro an Strukturhilfen in Irland ausgegeben, aber ich habe mir nicht die genaue Verteilung der Verträge und der Gelder angesehen. Um zur Hauptfrage zurückzukehren, nämlich der, ob die Iren dankbar für die Strukturhilfen sein sollten: Merkwürdigerweise habe ich diese Andeutung von ein paar Deutschen gehört, die ich im Verlaufe der Kampagne gegen den Lissabon-Vertrag getroffen habe, es ist also offensichtlich ein Argument, das kursiert. Auf jeden Fall wird das nicht die irischen Wähler dahingehend beeinflussen, daß sie mit Ja stimmen, weil Menschen es nicht mögen, wenn man ihnen erzählt, daß sie dankbar sein sollen. Wir haben das Empire in diesem Land erlebt und die Briten, die uns weisgemacht haben, daß wir für die Eisenbahnen und all die wunderbaren Dinge, die sie gebaut haben, dankbar sein sollten. Es ist unehrlich, Leuten etwas zu schenken und ihnen dann zu erzählen, daß sie dankbar sein sollen. Im Ergebnis kommt das nicht sehr gut an. Ich sehe keinen Grund, auch nur für irgend etwas dankbar zu sein, und auf jeden Fall dreht sich das Lissabon-Referendum nicht um EU-Strukturfonds oder Dankbarkeit Brüssel gegenüber; es ist eine Abstimmung darüber, welche Art EU die Menschen in Zukunft haben wollen.

SB: In welchem Ausmaß meinen Sie, ist sich die irische Wählerschaft des neoliberalen Schubs, den der Lissabon-Vertrag mit sich bringt, bewußt, oder verbinden einige die EU primär mit progressiver Gesetzgebung auf den Gebieten der Rechte Behinderter und des Umweltschutzes?

KA: Nun, der Lissabon-Vertrag, der einen bestimmten Typus neoliberaler Wirtschaftsordnung vorschreibt, ist ein ziemlich kompliziertes Dokument. In der breiten irischen Bevölkerung ist das Wissen um ökonomische Zusammenhänge nicht zuletzt deshalb nicht sehr ausgeprägt, weil die Menschen ständig von angeblichen Experten in den Medien mit der Einheitsparteilinie bombardiert werden. Und trotzdem und auch trotz der Tatsache, daß die überwiegende Mehrheit der Menschen Naomi Kleins letztes Buch "Schock-Doktrin" wohl nicht gelesen hat oder Noam Chomskys Kritik des Neoliberalismus und so weiter, gibt es allgemein ein Bewußtsein in der Bevölkerung, daß die EU sich in den letzten Jahren in einer Art und Weise entwickelt hat, die dem Arbeitnehmerrecht nicht förderlich gewesen ist. Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs im Fall Laval und im Fall Viking, die der Niederlassungfreiheit der Unternehmen in der EU den Vorrang vor den Arbeitnehmerrechten einräumen, haben vielen Menschen die Augen geöffnet. Und wenn man die Abstimmungsmuster über den Lissabon-Vertrag im letzten Jahr untersucht, wird sehr deutlich, daß besonders Mitglieder der werktätigen Klasse mit Nein zur EU stimmten.

Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern haben die Iren wahrscheinlich ein recht hohes Maß an Wissen über die EU, aber das sagt noch nicht viel aus, weil die meisten Menschen in der EU es vorziehen, nichts über die Brüsseler Institutionen zu hören. Im Verlauf der letztjährigen Kampagne ist es der Nein-Seite gelungen, ein Bewußtsein für die neoliberalen Aspekte des Lissabon-Vertrags und seine möglicherweise negativen Auswirkungen auf die Arbeitnehmerrechte zu schaffen. In der aktuellen Kampagne wird die Nein-Seite, besonders die Menschen, mit denen ich zu tun habe, erhebliches Gewicht darauf legen, zu erklären, in welcher Hinsicht die Bestimmungen des Lissabon-Vertrags genau den Dingen entsprechen, die überhaupt erst zur Entstehung der weltweiten Rezession geführt haben. Damit meine ich zum Beispiel, die verschiedenen Artikel, welche die Kontrolle der Kapitalbewegungen einschränken. Ähnliche Maßnahmen bildeten einen Hauptfaktor für den Aufstieg der Hedgefonds. Die Tatsache, daß der irische Kommissar und frühere Fianna Fáil-Finanzminister Charley McCreevy einer der Hauptvertreter der Idee war, daß man Hedgefonds nicht regulieren sollte, ist etwas, das wir den Leuten sehr deutlich machen werden.

Ein weiteres Thema, das wir auf den Tisch bringen wollen, ist die Rolle der Europäischen Zentralbank, die sich ihrem Mandat nach allein um Preisstabilität bemüht und keinen Auftrag hat, sich um Vollbeschäftigung zu bemühen. Die EZB sorgt munter für Liquidität, d.h. sie verteilt das Geld der Steuerzahler im europaweiten Bankensystem, tut aber nichts, um zum Beispiel ein Programm zu schaffen, das die europäische Wirtschaft ankurbelt und aus der Rezession herausbringt.

Einer der Gründe dafür, daß die Menschen in diesem Land zu leiden haben, liegt in der EU-Regel, daß die Verschuldung eines Landes drei Prozent des Bruttosozialproduktes nicht überschreiten darf. Kürzlich haben sich die Regierung in Dublin und die EU-Kommission auf ein Paket geeinigt, mit dem Irlands Haushaltsdefizit, das seit dem letzten Jahr aufgrund von Steuerrückzahlungen und gestiegenen Sozialleistungen sprunghaft gewachsen ist, bis 2013 auf dieses Niveau zurückgebracht werden soll. Um dieses Ziel zu erreichen, werden massive Haushaltskürzungen vorgenommen. Die Ursache für all diese Angriffe auf die werktätige Bevölkerung und ihren Lebensstandard ist also die einseitige Antwort der irischen Regierung auf die Wirtschaftskrise - eine Antwort, die von der EU-Kommission aktiv unterstützt wird.

SB: Wenn Sie über die Leute sprechen, mit denen Sie in der Nein-zu-Lissabon-Kampagne zusammenarbeiten werden, nehme ich an, meinen Sie die Socialist Workers Party.

KA: Die Socialist Workers Party ist Teil einer breiteren Gruppierung, die sich People Before Profit Alliance nennt; mit ihnen werde ich vorrangig zusammenarbeiten.

SB: Könnten Sie uns vielleicht einmal in zwei unterschiedlichen Szenarien darlegen, wie sich die Dinge Ihrer Meinung nach im Falle eines Nein oder im Falle eines Ja zu Lissabon am 2. Oktober in Irland entwickeln werden?

KA: Die Eliten aus Politik und Wirtschaft hier sind - trotz ihrer Behauptung, sie wollten das irische Votum respektieren - wieder auf uns zugekommen, wie sie es auch nach dem Nizza-Referendum getan haben, um uns zu sagen, wir müßten noch einmal abstimmen, damit sie die Antwort bekommen, die sie haben wollen. Wenn sie beim zweiten Mal nicht erfolgreich sind, denke ich, ist es nicht realistisch, daß sie eine dritte Abstimmung erzwingen können. Wenn es also ein mehrheitliches Nein gibt, ist das das Ende des Lissabon-Vertrags. Das wäre für die Menschen in Europa ein sehr positiver Ausgang, weil sie dann die Chance hätten, die politische Agenda der EU wieder für sich zu beanspruchen und zu hinterfragen, ob eine neoliberale Wirtschaftsordnung oder ein militarisierteres Europa wirklich nötig sind. Das Nein-Votum wäre also ein demokratisches Signal über ganz Europa hinweg.

Wenn es zu einer Zustimmung kommt, nun, dann wird die europäische Elite mit dem Integrationsprojekt fortfahren, das eine größere neoliberale Dominanz der Märkte, eine erhöhte Militarisierung und stärkere bürokratische Zentralisierung beinhaltet, was alles der Schaffung eines europäischen Superstaates dient. Doch auch wenn sie die Verfassung in Form des Lissabon-Vertrages durchbekommen, bleibt es bei dem Problem einer wachsenden Interessendivergenz zwischen den großen EU-Staaten - ein Problem, das die aktuelle wirtschaftliche Rezession verschlimmert hat. Während sie also die Verfassung durchsetzen mögen, löst das nicht ihre Probleme.

SB: Sie haben gerade ein Buch mit dem Titel "Ireland's Crashed Economy" veröffentlicht. Was wäre Ihre alternative Vision für die irische Wirtschaft oder umfassender, für die europäische Wirtschaft?

KA: Meine alternative Vision für die irische Wirtschaft oder auch die europäische Wirtschaft bringt die Abschaffung des Kapitalismus mit sich. Der Kapitalismus ist außer Kontrolle und nicht in der Lage, mit den ökologischen Problemen des Planeten fertigzuwerden. Zur Zeit durchläuft er eine große Phase der Unruhe. Auch wenn am Ende dieser spezifischen Krise eine Erholung steht, wird das auf Kosten von Millionen Menschen gehen, die arbeitslos werden, und großes soziales Leid nach sich ziehen. Weitere, künftige Wirtschaftskrisen sind unvermeidlich. Mir scheint also, daß der Kapitalismus am Ende ist, zumindest in der Hinsicht, einem großen Teil der Bevölkerung eine anständige Lebensmöglichkeit zu bieten. Was wir brauchen, ist eine andere Art Wirtschaftssystem, ein sozialistisches, wenn Sie so wollen. Meiner Meinung nach wäre das eine Wirtschaftsform, bei der die Bedürfnisse der Bevölkerung und nicht die Profite privater Unternehmen das Hauptkriterium sind.

Wir müssen die Hauptzentren der Industrie und des Dienstleistungssektors zu öffentlichem Eigentum machen. Angesichts der jüngsten Ereignisse auf den Geldmärkten sollte offensichtlich sein, daß man nicht zulassen kann, daß Banken von Privatpersonen geleitet werden, die nur daran interessiert sind, Gewinne zu erwirtschaften. Aus dem Grund sollten Kreditanstalten zusammen mit den großen Industriekonzernen in öffentlicher Hand sein. Wir brauchen einen neuen Maßstab für Produktivität, der nicht auf einem System von Managern basiert. Der moderne Kapitalismus - im öffentlichen wie im privaten Sektor - hat ein Modell hervorgebracht, demzufolge man meint, eine größere Produktivität dadurch zu erreichen, daß es Vorstandsvorsitzende gibt, denen enorme Summen gezahlt werden und die umgeben sind von einer Truppe von Managern, denen auch enorme Summen gezahlt werden, und jeder notiert jeden Tag ununterbrochen all das, was er im Verlauf des Tages tut. Das ist Unsinn; alles was dabei rauskommt, sind Stapel von Papier.

Ich glaube, daß eine andere Gesellschaft eine wäre, in der die Arbeitnehmer in der jeweiligen Industrie das Sagen haben - etwas, das aus sich heraus die Produktivität von Millionen Menschen freisetzen würde, denen im kapitalistischen System erzählt wird, daß sie dafür bezahlt werden, sich abzuplagen und nicht dafür, zu denken. Deshalb ist eine Form des Sozialismus, die auf der Führung der Arbeiterschaft beruht, von hoher Wichtigkeit. Das wäre natürlich etwas ganz anderes als die Gesellschaftsform, die in den Ländern des früheren Ostblocks existierte, die in einer staatskapitalistischen Tyrannei bestand und auf der Unterdrückung der Menschen basierte. Letztlich braucht man eine Planwirtschaft. Der Begriff Planwirtschaft wird im öffentlichen Bewußtsein häufig mit der früheren Sowjetunion assoziiert. Dort wurde die Planung, wenn man das so nennen kann, unter der Anweisung des Politbüros der Kommunistischen Partei durchgeführt; der Gesellschaft wurden Ziele aufgezwungen und der Hauptzweck der Planung war nicht, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, sondern eine Kriegswirtschaft, einschließlich der Konstruktion von Atomwaffen, zu entwickeln, um mit dem Westen mithalten zu können. In der Folge wurden große Mengen der gesellschaftlichen Ressourcen in die Schwerindustrie und die Waffenindustrie umgeleitet.

Planung in einer sozialistischen Gesellschaft bedeutet, die Bedürfnisse der Menschen zum Ausgangspunkt zu nehmen und ihnen zu erlauben, die Entscheidungen darüber zu treffen, welches die Schwerpunktbereiche gesellschaftlicher Investitionen sein sollen, und sich dann über alle möglichen Koordinationsmodelle und demokratische Strukturen zu einigen, wie diese Zeile erreicht werden sollen - sei es auf Industrie- oder auf Gemeindeebene. Als letztes möchte ich noch erwähnen, daß man immer Gefahr läuft, wie ein utopischer Irrer zu erscheinen, wenn man die eigene Vision darlegt. Ich weiß nicht, ob sich die Menschen für die Zukunft eine Entwicklung hin zum Sozialismus wünschen, aber was ich sicher weiß, ist, daß sich immer mehr Menschen im Kampf gegen das gegenwärtige ökonomische System wiederfinden werden, und ich denke, daß wir eine sehr wichtige Phase der Geschichte erleben, in der sich einiges verändern wird.

SB: Kieran Allen, vielen Dank für das Interview.

Das von James Gandon entworfene, 1791 vollendete Custom House in Dublin ... steingewordenes Symbol jener Prosperität, die nur zehn Jahre später durch die politische und wirtschaftliche Union mit Großbritannien für Irlands Hauptstadt jäh zu Ende ging.

Das von James Gandon entworfene, 1791 vollendete Custom House in
Dublin ... steingewordenes Symbol jener Prosperität, die nur zehn Jahre
später durch die politische und wirtschaftliche Union mit Großbritannien
für Irlands Hauptstadt jäh zu Ende ging.

31. August 2009