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EUROTREFF/007: Raymond Deane prangert Außenpolitik der EU an (SB)


Raymond Deane prangert Außenpolitik der EU an

Interview mit einem Verteidiger der Rechte der Palästinenser


Der Komponist Raymond Deane, der abwechselnd in Dublin und Fuerth lebt, zählt in Irland zu den führenden Kritikern des israelischen Umgangs mit den Palästinensern. Er ist Gründungsmitglied des Ireland Palestine Solidarity Committee wie auch Schirmherr der People's Bewegung, die den EU-Reformvertrag ablehnt und für ein Nein beim zweiten Referendum in dieser Frage am 2. Oktober wirbt. Am 28. Juli sprach der Schattenblick mit Raymond Deane in seiner Wohnung im Dubliner Vorort Dún Laoghaire über das Thema der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), die neben den Bereichen Europäische Gemeinschaft (EG) und Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen (PJSZ) die zweite der drei Säulen der EU darstellt.

Raymond Deane

SB: Herr Deane, welches Motiv lag der Gründung der
Ireland Palestine Solidarity Campaign (IPSC) zugrunde?

RD: Ich war in der East Timor Ireland Solidarity Campaign aktiv, die 1992 von einer legendären Figur, einem früheren Busfahrer mit Namen Tom Hyland gegründet wurde. Nachdem die Osttimoresen für die Unabhängigkeit gestimmt hatten und Indonesien 1999 seine Truppen zurückzog, hat die Kampagne mehr oder weniger an Schwung verloren. 2001 hatte Tom das Gefühl, es sei an der Zeit, unsere Anstrengungen neu auszurichten und etwas für Palästina zu tun, weil Ariel Scharon gerade an die Macht gekommen war und das wie eine besonders verhängnisvolle Entwicklung aussah. Die israelische Propagandamaschine war in Irland sehr mächtig, und es wurde ihr in jeder Hinsicht sehr wenig entgegengehalten. Also gründeten Tom und noch ein paar andere von uns im November 2001 die Irland-Palästina-Solidaritätskampagne. So fing das an. Ich hatte bereits großes Interesse an der Palästinafrage, mindestens seit dem Golfkrieg 1991, als ich in Paris lebte und einige Araber, darunter nicht nur Palästinenser, kennenlernte, die meine Ansichten über das Thema sehr verändert haben. Als es also darum ging, von der Osttimorfrage zu etwas anderem überzugehen, schien Palästina logisch. Dann verschlechterte sich Toms Gesundheit, und er beschloß, nicht weiterzumachen. Also habe ich das von ihm übernommen und wurde zum Vorsitzenden der IPSC gewählt, der ich ungefähr drei Jahre geblieben bin.

SB: War die Bewegung Ihrer Meinung nach erfolgreich? Sind die Ziele, die Sie sich zu Beginn gesetzt haben, erreicht worden?

RD: Das Ziel, das wir uns gesetzt haben, war in erster Linie das der Gegenpropaganda, und in dieser Hinsicht sind wir ganz schön erfolgreich gewesen. Derzeit gibt es wahrscheinlich wenige Länder, in denen es die israelische Propaganda so schwer hat wie in Irland. Aber da wir natürlich von den Mainstream-Medien keine Unterstützung bekommen, hat die israelische Propaganda hier noch immer ein gewisses Maß an Erfolg. Dennoch, meine ich, repräsentieren wir die Gegengeschichte so weit, wie es in unserer Macht liegt. Wie anders kann man Erfolg messen? Wir haben ganz sicher nicht Palästina befreit. Aber wir haben die Palästinafrage bei den Menschen wachgehalten und nicht zugelassen, daß die israelische Sicht die irischen Medien dominiert. Von dem Standpunkt aus gesehen waren wir recht erfolgreich.

SB: Sind Sie je in Palästina gewesen und wenn ja, könnten Sie uns Ihre Eindrücke von der dortigen Lage schildern?

RD: Ich war dort nur zweimal. Das erste Mal 1993, als ich mit meiner Schwester für ein paar Wochen durch den Nahen Osten reiste. Zu der Zeit lebte sie in Jordanien, wo sie gerade einen Kurs an der Universität absolviert hatte. Ich bin also über Beirut nach Amman geflogen. Und ich erinnere mich daran, daß ich im Flugzeug das Buch "An Evil Cradling" von Brian Keenan über seine Zeit als Geisel im Libanon gelesen habe. Wie Sie sich vorstellen können, ließ mich das ganz schön schaudern, weil ich gerade auf dem Weg in diese Region war. Von Jordanien aus sind meine Schwester und ich nach Syrien gereist und von dort in den Libanon und von dort nach Israel, in die besetzten Gebiete und nach Gaza.

Ich hatte erst wenige Jahre zuvor überhaupt ein Interesse an der Frage entwickelt und gerade zum ersten Mal Noam Chomsky gelesen. Ich habe sein Buch "Deterring Democracy" kurz nach den Ereignissen gelesen, die die Menschen den 'ersten Golfkrieg' nennen, ein Begriff, den ich nicht benutze. Man kann also sagen, daß dieser Ausflug in den Nahen Osten - zum ersten Mal die Ruinen von Beirut zu sehen, die zu der Zeit noch in einem entsetzlichen Zustand waren, die palästinensischen Flüchtlingslager einschließlich Sabra und Schatila zu besuchen, und dann weiterzufahren und den außerordentlichen Kontrast zwischen dem westlichen Komfort in Israel und dem verfallenen Zustand der besetzten Gebiete zu sehen, die zudem unter der Besetzung und den Übergriffen durch die israelischen Soldaten litten - insgesamt eine sehr wichtige Erfahrung für mich war.

SB: Gerade um 1993 herum gilt als eine Zeit, in der man große Hoffnungen in den sogenannten Nahostfriedensprozeß setzte. Es kam Geld von der EU. Die Wirtschaft in den palästinensischen Territorien erfuhr, relativ gesprochen, eine Art Aufschwung, die palästinensische Führung war aus Tunis zurückgekehrt ...

RD: Nein, zu der Zeit war das noch nicht der Fall. Die Oslo-Verträge wurden erst im September 1993 unterzeichnet. Meine Schwester und ich haben den Nahen Osten in der ersten Hälfte des Jahres bereist. Die Erste Intifada lief noch, als wir die besetzten Gebieten besuchten. Aber sie lag in den letzten Zügen, und die ganze Oslo-Farce sollte gerade ihren Anfang nehmen. Es war eine Zeit, auf die sich die Palästinenser jetzt mit ihrem wundervollen Sinn für Ironie als 'Goldenes Zeitalter' beziehen. Sie zwinkern immer mit den Augen, wenn sie es sagen. Wenn man den ganzen elenden Zustand bedenkt, der das 'Goldene Zeitalter' ausmachte, und das mit dem vergleicht, was jetzt dort ist - wenigstens konnte man sich damals relativ frei bewegen. 2005 bin ich als Gast der Palästinensischen Autonomiebehörde dorthin zurück, und es war furchterregend. Und es ist seitdem soviel schlimmer geworden. Wir haben versucht, nach Gaza hineinzugelangen und hatten auch tatsächlich die Genehmigung, aber als wir am Grenzübergang ankamen, haben sie uns dort fünf Stunden herumsitzen lassen, bevor sie uns erzählten, sie hätten noch nie von uns gehört, was offenkundig der Unwahrheit entsprach. Es war einfach eine ihrer kleinen Tricksereien. Aber das an sich war schon eine wichtige Erfahrung.

SB: Sie sind also auf der zweiten Reise nicht nach Gaza hineingelangt?

RD: Nein, diesmal nicht.

SB: Und Ihre Eindrücke von der Westbank?

RD: Nun, noch einmal gesagt: Es ist unglaublich, wie schnell sich die Dinge verändern. 2005 war die Lage ganz anders als heute. Wir waren in Albira einquartiert, das außerhalb von Ramallah liegt und eine Art Schaukasten für die Palästinensische Autonomiebehörde darstellte. Ramallah ist sehr lebhaft. Ich mochte es gern und fand es sehr liebenswürdig. Roger Cole von der Peace And Neutrality Alliance (PANA) und ich wohnten in diesem großen Luxushotel, und soweit ich es übersehen konnte, waren wir so ungefähr die einzigen Gäste dort. Morgens, als wir also zum Frühstück herunter kamen, gab es diese Leckereien in unglaublichen Mengen, was hieß, daß wir allein aus Bergen uns von Gott-wer-weiß-was etwas herauspicken durften.

Doch auch wenn die Palästinensische Autonomiebehörde diese positive Vorderansicht bot, konnte nichts den wirklichen Verfall der Städte und Dörfer verstecken. Unsere Gastgeber der PA haben uns ein Flüchtlingslager gezeigt, das sich einen Steinwurf entfernt von Ramallah befand, Al-Am'ari. Es war richtig heruntergekommen, und die Menschen hatten furchtbare Geschichten zu erzählen. Es gab dort einen riesigen deutschen Bulldozer; die Deutschen verlegten Abwasserrohre. Ich erinnere mich, daß ich so für mich dachte: "Die Deutschen unterstützen bedingungslos den Unterdrücker, aber sie schicken ihre Bulldozer, um das Abwassersystem für die Unterdrückten zu reparieren." Das faßte für mich irgendwie die Lage zusammen, weil der ruinenhafte Zustand ganz offensichtlich durch die israelische Unterdrückung verursacht war, die nicht ohne die Unterstützung genau der Deutschen, die dann dort waren und versuchten, einen Teil der Folgen zu beseitigen, hätte stattfinden können.

SB: Sind Sie, als Sie dort waren, in Kontakt mit antizionistischen Gruppen oder Menschen aus der israelischen Bevölkerung gekommen, die die Not der Palästinenser zu lindern versuchen?

RD: Ja. Ich habe das Alternative Information Centre (AIC) besucht, das sich in West-Jerusalem befindet. Das ist eine ganz außergewöhnliche Organisation, geleitet von Michel Warschawski, der in Frankreich geboren ist und ursprünglich orthodoxer Jude war. Ich glaube, daß er vielleicht sogar Seminarist war. Aber das hat sich ziemlich schnell geändert, nachdem er sich in Israel niedergelassen und sich dort in einen linken, antizionistischen Aktivisten verwandelt hat. Er ist noch immer sehr aktiv. Ich bin ihm bei mehreren Gelegenheiten begegnet, auf Treffen der Europäischen Solidaritätskampagnen oder auf dem Europäischen Sozialforum in Paris und London. Also bin ich bei ihren Büro vorbeigekommen, einfach nur, um es zu sehen, und war sehr beeindruckt von den regen Aktivitäten dort. Sie hatten ungefähr zehn Schreibtische in dem Raum, und da waren all diese bienenfleißigen, jungen Leute. Ich habe ein Interview mit einem jungen Ökonomen namens Shir Hever gemacht, der in der Zwischenzeit ziemlich bekannt geworden ist. Wir hatten eine sehr interessante Diskussion über den Aufruf zu einem Boykott Israels und darüber, ob eine solche Maßnahme eine gute Idee wäre oder nicht.

SB: Und denken Sie, daß sich aus dem sogenannten Engagement der Administration Barack Obamas in Sachen Nahostkrise irgendeine Art von Lösung ergeben wird?

RD: Ich bin der ganzen Sache gegenüber sehr, sehr skeptisch eingestellt, weil Obama keine der Voraussetzungen geändert hat, mit denen die USA an die Frage herangehen. Die derzeitige Situation erinnert mich an die alte Anekdote vom Rabbi und der Ziege. Kennen Sie die?

SB: Nein, die kenne ich nicht.

RD: Nein? Ein armer Mann kommt zum Rabbi und sagt: "Ich bin in einer furchtbaren Lage. Meine Frau, mein Kind und ich - meine Frau erwartet nun ein weiteres Kind - haben keinen Platz in unserem winzigen Verschlag. Was sollen wir tun?" Und der Rabbi sagt: "Kauf einen Esel und laß ihn mit dir leben." Der Kerl geht also los und kauft einen Esel und quartiert ihn irgendwie bei seiner Frau und seinem Kind mit ein. Und wie zu erwarten war, wird die Lage schlechter und schlechter. Die Frau hat inzwischen das zweite Kind bekommen, also sind sie nun vier Menschen plus ein Esel. Und der Kerl geht zurück zum Rabbi und sagt: "Sieh, Rabbi, es ist unerträglich. Ich kann da nicht leben. Keiner von uns kann da leben. Wir haben nicht einen Zentimeter, um uns zu bewegen!" Und der Rabbi sagt: "Gut, kauf' eine Ziege und nimm' sie mit auf!" Also geht er gehorsam los, kauft eine Ziege und quetscht die Ziege mit in seinen kleinen Verschlag, und sie leben dort eine Zeitlang in völligem Schmutz und Elend, bevor er wieder zurück zum Rabbi geht und sagt: "Ich bin am Ende meiner Kräfte!" Und der Rabbi sagt: "In Ordnung, nimm' den Esel raus!" Also entfernt er den Esel. Nach einer Weile kommt er zum Rabbi zurück und sagt: "Die Dinge werden jetzt ein bißchen besser." Woraufhin der Rabbi sagt: "In Ordnung, nimm die Ziege raus!" Also geht er nach Hause und entfernt die Ziege. Kurze Zeit später besucht er den Rabbi und sagt: "Vielen Dank, du bist so ein weiser Mann. Jetzt haben wir dieses wundervolle Haus wieder. Es sind nur meine Frau und zwei Kinder, und wir haben soviel Platz, wir kennen uns selbst nicht wieder!"

Das ist das Prinzip, das zur Zeit zur Anwendung kommt. Es war üblich, daß jedes Jahr die US-EU-Achse - wie ich sie nenne - von neuem wiederholte, die Siedlungen seien illegal und müßten aufgelöst werden. Unter Bill Clinton hörten sie auf damit, von der Illegalität der Siedlungen zu sprechen. Jetzt ist das Thema der Diskussionen die Siedlungserweiterung. Und alle sagen: "Ist das nicht wunderbar, Obama macht Krach, daß der Siedlungsausbau gestoppt werden soll", während sich die Dinge die ganze Zeit verschlimmern. Der letzte Ausspruch dazu ist, daß sie möglicherweise zu einer Lösung kommen werden, in der man Israel erlaubt, in einer illegalen Siedlung 3.000 Häuser fertigzubauen, bevor der Ausbau eingefroren wird. Was die Menschen nun zu akzeptieren bereit sind, ist so dermaßen weit entfernt von internationaler Legalität, und dennoch tönen sie, daß dies ein wundervolles Ergebnis ist. Also halte ich wirklich nicht viel von dem, was vor sich geht. Ich denke, daß das, was sie gerade als einen Kompromiß bezeichnen, oder was sie als Kompromißlösung bezeichnen werden, die man erreicht, wird den Israelis nicht all das geben, was sie wollen, aber es wird ihnen eine Menge und den Palästinensern fast gar nichts geben. Und früher oder später sind wir wieder an dem Punkt angelangt, wo es angefangen hat, nur daß es schlimmer ist. Weil es immer schlimmer ist, wenn Hoffnungen geweckt und dann zerstört werden.

SB: Also betrachten Sie möglicherweise die jüngsten Berichte über US-israelische Spannungen als nicht besonders glaubhaft oder als reine PR?

RD: Ich glaube schon, daß es Spannungen gibt, genauso wie es Spannungen zwischen der Regierung von George Bush senior and Jitzchak Schamir gegeben hat. Am Ende war das absolut nicht von Bedeutung. Ich glaube auch nicht, daß das hier etwas bedeutet - die Israel-Lobby in den USA ist zu mächtig. Es ist als PR sehr nützlich für die Amerikaner, den Eindruck zu erwecken, daß sie hart mit den Israelis umspringen und daß die Israelis rebellieren. Aber die Israelis rebellieren, wenn sie nur 99% statt 100% von dem bekommen, was sie sich vorstellen. So ist das nichts als Augenwischerei und Tünche.

SB: Was ist Ihre Einschätzung zur Rolle der EU und Irlands in dieser speziellen Situation?

RD: Wie gesagt, ich verwende den Begriff der US-EU-Achse. Wir hören häufig diese Phrasen, daß die EU so wichtig ist, weil sie eine Alternative, ein Gegengewicht zur US-Außenpolitik bildet. Das war besonders in den Jahren von Bush jun. der Fall, als sich angeblich diese große Kluft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten aufgetan hat. Völliger Unsinn! In der Ära von George W. Bush hat sich die Außenpolitik der USA und der EU angenähert wie nie zuvor - insbesondere in Hinsicht auf den israelisch-palästinensischen Konflikt. Die Rolle der Europäer ist es, Israel politisch bedingungslos zu unterstützen, während sie sich den Palästinensern gegenüber wohltätig erweisen. Die EU-Mitgliedstaaten gewähren den Palästinensern absolut keine politische Unterstützung, stellen sicher, daß internationales Recht keine Anwendung findet und daß das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs über die Illegalität der Mauer absolut keine positiven Konsequenzen für die Palästinenser nach sich zieht.

Die Europäer verstecken sich hinter dem Argument, daß Deutschland Israel unter keinen Umständen irgend etwas anderes zumuten kann, als bedingungslose Unterstützung. Aber das ist für alle anderen EU-Länder - einschließlich Irland - nur eine Entschuldigung dafür, weiter mit Israel Handel zu treiben und es noch enger in die Arme zu schließen. Mehrere aufeinander folgende irische Außenminister haben es auf die eine oder andere Weise geschafft, sich den Ruf zu erwerben, am pro-palästinensischsten in der Europäischen Union zu sein, weil sie gelegentlich mit der einen oder anderen Phrase hervortreten oder etwas sagen, was wie die richtige Sache klingt, und dadurch manchmal den Verlauf der EU-Außenministertreffen etwas verlangsamen, wo sonst alle darauf aus sind, die nächste Stufe der verbesserten Beziehungen zu Israel zu erreichen. Die Iren stecken gewissermaßen ihre Zehen in die Speichen des Rades und verzögern alles ein wenig, das aber nur, um dann am Ende zurückzustecken und das zu unterstützen, was der Rest ihrer Kollegen im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik unternimmt. Die Iren erwecken gern den Eindruck, sie seien in diesen Fragen ein bißchen unabhängig, aber es ist reine Rhetorik, und am Ende ist irische Außenpolitik Israel und Palästina gegenüber deutsche Außenpolitik Israel und Palästina gegenüber, was aus meiner Sicht bedeutet, daß die Iren sich daran beteiligen, die Palästinenser zu Sündenböcken für Deutschlands frühere Verbrechen an den Juden zu machen. Das ist eine außergewöhnliche und extrem entwürdigende Situation für dieses Land.

SB: Welche Resonanz hat die Notlage der Palästinenser in der irischen Bevölkerung im Gegensatz zu dem, was auch immer die Regierung sagt?

Raymond Deane

RD: Eine immense, wenn man die Möglichkeit dazu gibt. Sie müssen bedenken, daß unsere Mainstream-Medien, insbesondere das nationale Radio- und Televisionsnetzwerk RTÉ, die Palästinafrage fast völlig ignoriert. Sogar vor kurzem, als die irische Friedensnobelpreisträgerin Mairead Corrigan Maguire mit einer Gruppe internationaler Aktivisten von den Israelis auf hoher See entführt, in Israel ins Gefängnis gesteckt und dann deportiert wurde - obwohl sie ursprünglich gar nicht beabsichtigt hatten, ins Land einzureisen - wurde darüber in den irischen Medien praktisch nichts berichtet. Im irischen Fernsehen gab es fast nichts darüber. Am Ende, als Mairead Corrigan McGuire schließlich freigelassen wurde, hat die private Fernsehstation TV3, nicht RTÉ, eine einstündige Diskussion mit ihr gesendet, die natürlich von ein paar Zionisten einschließlich des israelischen Botschafters ausbalanciert werden mußte, die ihre Lügen erzählten. RTÉ hat ganz am Ende ein oder zwei Kurzberichte zustandegebracht, aber es war sehr peinlich für sie, denn wie kann man über die Freilassung einer irischen Friedensnobelpreisträgerin aus einem israelischen Gefängnis berichten, wenn man es zuvor nicht der Mühe wert fand, zu berichten, daß sie illegal inhaftiert wurde?

Das ist also das Dilemma. Das ist es, was die palästinensische Frage aus dem öffentlichen Bewußtsein fernhält. Die Menschen in Irland haben ebensowenig wie die Bürger im Rest Europas oder des Westens einen allgemein frei verfügbaren Zugang zu Informationen über die Vorgänge. Wenn sie ihn haben, dann sind ihre Empörung und ihr Schrecken aufrichtig und leidenschaftlich, und die Mehrheit der ganz normalen Menschen, denen meine Kollegen und ich begegnen, hat das wirkliche Empfinden, daß den Palästinensern abscheuliches Unrecht angetan wird.

SB: Sicherlich waren zur Zeit der israelischen Offensive in Gaza im Dezember und im Januar viele Leute sehr aufgebracht, und die Medienberichterstattung sowohl über die Militäroperationen als auch über die weltweiten Demonstrationen dagegen wurde nicht völlig ausgeblendet.

RD: Das wurde sie nicht, das stimmt. Das war auch nicht der Fall während des Libanon-Kriegs 2006 und auch nicht während der Operation Schutzschild auf der Westbank 2002. Jedesmal, wenn massive Scheußlichkeiten geschehen, gibt es eine sparsame Berichterstattung. Die Tatsache, daß es Menschen gibt, die jeden Tag der Woche in der Hölle leben, wird größtenteils mit Hilfe unserer Regierungen hier in der Europäischen Union von den Menschen ferngehalten. Man erweckt den Eindruck, daß die Israelis häufig diese schrecklichen Greuel begehen und daß die Menschen dazwischen ein normales Leben führen. Tatsache ist, daß die Israelis jede Minute des Tages diese Abscheulichkeiten begehen und daß die Palästinenser ein Leben in der Hölle führen.

SB: Dieser falsche Eindruck hat einige Leute dazu veranlaßt, die Gaza-Offensive mit dem Argument zu verteidigen, die Israelis hätten etwas unternehmen müssen, weil die Bewohner von Sderoth täglich unter Raketenbeschuß litten - ein Einwand, der völlig ignoriert, was die Menschen im Gazastreifen auch jeden Tag der Woche durchmachen.

RD: Eine Behauptung, die viel die Runde gemacht hat, war, daß die Gaza-Invasion stattfand, nachdem die Hamas den Waffenstillstand gebrochen hatte, obwohl es in Wirklichkeit Israel war, das den Waffenstillstand brach - solche Falschdarstellungen von Ereignissen sind ein weiterer Standardtrick der Israelis; dabei können sie sich auf die schweigende Mitarbeit der Mainstream-Journalisten weltweit verlassen. Das ist ziemlich schockierend.

SB: Sie haben vorhin die US-EU-Achse erwähnt. In welcher Hinsicht ist EU-Außenpolitik, insbesondere im Fall des Nahen Ostens, von der USA diktiert?

RD: Diktieren die USA die europäische Außenpolitik? Ich weiß nicht, ob ich eine so starke Formulierung dafür wählen würde. Menschen, die in einer Diktatur leben, haben keine Wahl. Die Europäer aber finden sich mit dem Diktat der USA ab, weil es bequem und profitabel für sie ist. Der sogenannte Atlantizismus ist völlig freiwillig. Natürlich stehen gewaltige finanzielle Interessen dahinter, z.B. das Interesse europäischer Waffenkonzerne an einer größeren Zusammenarbeit mit dem Pentagon. Das und der Einfluß der NATO in Europa sind größtenteils die Ursache für die freiwillige Unterordnung der Außenpolitik der Europäischen Union unter die der Vereinigten Staaten.

SB: Dann würden Sie also wahrscheinlich mit jenen übereinstimmen, die einwenden, daß der Lissabon-Vertrag Teil der Entstehung eines möglichen größeren transatlantischen Blocks zwischen EU und NATO ist.

RD: Ganz eindeutig. Man muß sich nur die Gründung der EU genauer ansehen. Man hört immer die Geschichte, daß die EU gegründet wurde, um Frieden zwischen Frankreich und Deutschland zu schaffen. Also, ich glaube, das war ein Nebeneffekt und zwar ein sehr guter Nebeneffekt, aber es war ganz sicher nicht das Ausgangsmotiv für die Gründung der EU. 1949, bevor die ursprüngliche Gemeinschaft für Kohle und Stahl überhaupt existierte, gründeten einflußreiche Kalte Krieger in den USA wie William Donovan, Allen Dulles etc. eine Organisation mit Namen "American Committee for a United Europe", die von der CIA zusammen mit der Ford- und der Rockefeller-Stiftung finanziert wurde und Geld im Nachkriegseuropa verteilte, um die Idee eines föderativen europäischen Staates als Teil der NATO zu propagieren und so der angeblichen sowjetischen Gefahr entgegenzutreten. Die Europäische Union war also ursprünglich eine Blockstruktur aus dem Kalten Krieg und ist eine solche geblieben.

Die Idee, daß die EU eine Alternative zu den USA darstellt, ist Unsinn. Das sogenannte europäische Sozialmodell ist eine reformistische Verfeinerung des Turbokapitalismus, wie er in den Vereinigen Staaten vorherrscht, aber vom Grundsatz her existieren die EU und die USA in einem Zustand des Coopetition. Der Begriff ist eine Verschmelzung von Cooperation [Zusammenarbeit] und Competition [Wettbewerb]. Es ist wie zwei Schachspieler, die spielen, sich gegenseitig zu schlagen, und nur einer von ihnen kann gewinnen. Aber sie akzeptieren dabei die Regeln, wie die Steine gesetzt werden dürfen, und den ganzen dazugehörigen Rest. Ihr Wettbewerb auf dem Brett bestätigt also die Spielregeln. Und das ist das Wesen des Kooperationswettbewerbs zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union - und Japan auch, nebenbei gesagt. Obendrein gibt es die NATO, die unter Lissabon eine noch zentralere Rolle beim sogenannten europäischen Projekt spielen soll - allein, ich verwende den Begriff nie auf diese Weise; ich sage nie Europa, wenn ich über die Europäische Union spreche.

SB: Wenn man die Richtung bedenkt, die die EU nimmt, und die Bedeutung der NATO dabei, auf die Sie hingewiesen haben, ist eines der interessantesten Themen in Zusammenhang mit dem Einigungsprozeß die Frage, ob die Türkei schließlich Vollmitglied werden soll oder nicht. Die Türkei ist NATO-Mitglied und spielt natürlich eine sehr starke geopolitische Rolle im Nahen Osten, nicht zuletzt, weil sie ein Verbündeter Israels ist. Man könnte im Nahen Osten sogar von einer Achse zwischen Amerika, Türkei und Israel sprechen. Glauben Sie, daß die Türkei je der EU beitreten wird? Welche Auswirkungen könnte das haben? Könnte eine Weigerung, der Türkei den EU-Beitritt zu erlauben, negative Folgen für die westeuropäischen Bemühungen haben, mit ihrer Hilfe die eigene Macht östlich des Bosporus zu projizieren und Zugang zu den Energieressourcen Zentralasiens zu gewinnen?

RD: Ich bin kein Türkei-Experte, bin mir aber im klaren darüber, daß es sich um ein faszinierendes und sehr wichtiges Land handelt. Die Vereinigten Staaten haben in den Fünfzigern diese Achse, welche die Türkei, Israel und den Iran, damals unter dem Schah-Regime, umfaßte, geschaffen. Später ist der Iran aus der Achse herausgebrochen, und die Vereinigten Staaten sind seitdem um so bemühter, die Türkei bei der Stange zu halten. Aus dem gleichen Grund haben die Vereinigten Staaten ein so großes Interesse daran, daß die Türkei der Europäischen Union beitritt. Das ist ein Bereich, in dem Brüssel und Washington sich uneins sind, weil die bisherigen EU-Mitgliedsstaaten die Türkei, grob gesagt, nicht haben wollen, hauptsächlich, weil es sich um ein muslimisches Land handelt. In der Frage der türkischen EU-Mitgliedschaft kommen schnell eine Menge sehr häßlicher und sehr atavistischer Einstellungen hoch. Die Leute erinnern sich weit zurück an die Belagerung Wiens durch die Türken etc.

SB: Da ist nicht nur der islamische, sondern auch der pantürkische Aspekt zu bedenken. Während der jüngsten, gewalttätigen Unruhen in der westchinesischen Provinz Xinjang kritisierte der türkische Präsident sehr vehement die Pekinger Behörden, anscheinend, um die pantürkischen Gefühle und Kräfte im eigenen Land zu beschwichtigen. Es sieht so aus, als wäre die EU gern in der Lage, die Türkei zu benutzen, ohne wirklich den vollen Preis - ich möchte das nicht notwendigerweise als negativ verstanden wissen, aber so wird es gesehen - der vollständigen türkischen Integration dafür zahlen zu müssen.

RD: Ich denke, Sie haben recht. Der kulturelle, politische und wirtschaftliche Einfluß der Türkei auf die früheren Sowjetrepubliken in Zentralasien ist ganz außergewöhnlich. Die Türkei und Rußland ähneln sich insoweit, als sie das ganze Konzept von Europa in Frage stellen. Weil dieses Europa jedenfalls, über das sie die ganze Zeit reden, in vielerlei Hinsicht eine Fiktion darstellt. Europa ist der Definition nach der westliche Teil der eurasischen Landmasse. Aus dieser beschränkten geographischen Perspektive liegt die Türkei zum Teil in Europa, zum Teil in Asien. Das gleiche gilt für Rußland. Diese beiden Länder demonstrieren, daß die Grenzen Europas eigentlich sehr fließend und längst nicht so klar sind, wohingegen die Eurokraten wollen, daß wir glauben, daß sie extrem klar sind und daß irgendwo eine sehr starke Trennlinie zwischen dem Osten und dem Westen, zwischen den islamischen und den jüdisch-christlichen Traditionen, wie sie sie nennen, existiert. Und so stellt die alleinige Existenz von Ländern wie der Türkei und Rußlands diese Voraussetzung in Frage. Aus der Sicht hätte ich es furchtbar gern, daß die Türkei der Europäischen Union beitritt und sie so sperrig macht, daß sie auseinanderfällt.

SB: Nun, es ist schwer vorstellbar, daß der Türkei die Stimmrechte zugestanden werden, auf die es dem Lissabon-Vertrag nach Anspruch hätte. Man erwartet, daß die türkische Bevölkerungszahl binnen kurzem die Deutschlands übersteigt, was es zu dem Land mit den meisten Bürgern in der EU machen würde und mit dem Anspruch auf den größten Anteil an Stimmrechten.

RD: Das ist eine faszinierende Idee. Die Türkei ist ohne Zweifel ein sehr militarisiertes Land und arbeitet militärisch massiv mit Israel zusammen. Beide Länder führen regelmäßig gemeinsame Militärübungen durch. Ich habe dennoch das Gefühl, daß die Allianz zwischen Ankara und Tel Aviv nicht bedingungslos ist. Sicher hat man unter der gegenwärtigen türkischen Regierung, die manchmal unrichtig als 'islamistisch' umschrieben wird und lediglich eine stärker religiös-konservative Dimension hat als die vorherigen Regierungen, das Gefühl, daß Israel in seinen Beziehungen zur Türkei etwas vorsichtiger auftreten muß. Das hat sich im Januar an dem öffentlichen Streit über die Militäroffensive in Gaza gezeigt, den sich der türkische und der israelische Präsident, Recep Tajjip Erdogan und Schimon Peres, auf dem Weltwirtschaftsforum im schweizerischen Davos lieferten. Während auf seiten Erdogans möglicherweise ein wenig Effekthascherei mit im Spiel war, wäre andererseits so etwas unter den früheren türkischen Regierungen nicht geschehen.

SB: Erdogan wurde nicht umsonst bei seiner Rückkehr nach Ankara als Nationalheld gefeiert, weil er sich wegen der Greueltaten in Gaza auf eine öffentliche Auseinandersetzung mit Peres eingelassen hat.

RD: Das ist verständlich, weil die ganz normalen Menschen in der Türkei Israel nicht besonders wohlgesonnen gegenüberstehen und sie keinen besonderen Wert auf die Allianz mit Tel Aviv legen. Das ist also ein weiteres Element der Instabilität, und je mehr Instabilität wir haben, desto besser, damit das sogenannte Europäische Projekt im Sande verläuft.

SB: Eine gute Abschlußbemerkung für das Interview. Vielen Dank, Raymond Deane.

Die Hafenstadt Dún Laoghaire im Südosten der Dubliner Bucht, traditioneller Anlegeplatz der England-Fähre

Die Hafenstadt Dún Laoghaire im Südosten der Dubliner Bucht,
traditioneller Anlegeplatz der England-Fähre

2. September 2009