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HISTORIE/315: MI5 will Nordirlands Geschichte instrumentalisieren (SB)


MI5 will Nordirlands Geschichte instrumentalisieren

US-Universität soll belastende Tonbänder London zur Verfügung stellen


In der Republik Irland steht dieser Tage alles im Zeichen des am 17. Mai beginnenden, viertägigen Besuchs der britischen Königin Elizabeth II. Es handelt sich hier um ein wichtiges historisches Ereignis, denn seit sich 26 der 32 Grafschaften Irlands vom Königreich mit Großbritannien losgesagt haben, hat kein britischer Monarch mehr den Süden der grünen Insel betreten. Doch es waren nicht nur die Erinnerungen an den blutigen Unabhängigkeitskrieg Irlands 1920-1921, die einer Visite des britischen Staatsoberhauptes im Wege standen. Die Teilung der Insel und die fortgesetzte britische Präsenz in den "Six Counties" stellte für viele Iren ein Dorn im Auge dar und trug zum Ausbruch der sogenannten "Troubles" in Nordirland bei, die vom Ende der sechziger Jahre bis zur Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens 1998 zwischen den Regierungen in Dublin und London sowie den politischen Vertretern der katholischen Nationalisten und der protestantischen Unionisten in der Unruheprovinz andauerten.

In einem Interview mit dem irischen Rundfunk RTÉ am 16. Mai hat Präsidentin Mary McAleese, die das Oberhaupt des Hauses Windsor eingeladen hatte, den bevorstehenden Staatsbesuch als "außergewöhnliches Moment der irischen Geschichte" und "Indiz für den Erfolg des Friedensprozesses" bezeichnet. Die ehemalige Juraprofessorin, die selbst aus einer katholischen Familie in Belfast kommt und in den letzten dreizehn Jahren zusammen mit ihrem Mann, Dr. Martin McAleese, vieles zum Abbau des Mißtrauens der Protestanten in Nordirland gegenüber der einst von der katholischen Kirche dominierten Republik Irland beigetragen hat, rechtfertigte die Einladung mit der Feststellung, daß es "absolut das richtige Moment" sei, das Staatsoberhaupt des Vereinigten Königreichs im Süden der Insel "willkommen zu heißen".

Viele Menschen in Irland teilen die Ansichten von "Mary Mac", andere halten den Besuch für verfrüht. Die Kritiker gehören weitestgehend der sogenannten republikanischen Bewegung an. Sinn Féin, der politische Arm der seit einigen Jahren inaktiven Irisch-Republikanischen Armee (IRA), die bei Wahlen in diesem Frühjahr ihre Fraktionsgröße im Parlament von Dublin verdreifachen und in der nordirischen Volksvertretung ihren Platz als zweistärkste Fraktion weiter ausbauen konnte, boykottiert demonstrativ sämtliche Veranstaltungen zu Ehren des ausländischen Staatsgasts. Die Familien der Bombenanschläge von Dublin und Monaghan 1974, deren 37. Jahrestag mit dem ersten Tag des königlichen Besuchs zusammenfällt, haben einen Brief an die Queen mit der Bitte geschrieben, sie möge sich bei der Regierung in London dafür einsetzen, daß geheimgehaltene britische Dokumente über den blutigsten Tag der "Troubles" freigegeben werden. Hinter dem mehrfachen Autobombenanschlag, der 34 Menschen das Leben kostete und an der Mitglieder der loyalistischen Ulster Volunteer Force (UVF) beteiligt waren, wird die britische Armee vermutet, deren Oberkommandierende die Königin heute wie damals ist.

Gegen den Besuch wollen Éirígí, eine links von der Sinn Féin stehende nationalistisch-sozialistische Gruppierung, und die irische Friedensbewegung - in ihrem Fall wegen der Kriege in Afghanistan, im Irak und in Libyen - protestieren. Inwieweit ihnen dies angesichts des gigantischen Sicherheitsaufwands gelingen wird, ist fraglich. Die Sicherheitskräfte nicht nur in Irland, sondern auch in Großbritannien sind in höchster Alarmbereitschaft, denn republikanische Dissidenten, die in letzter Zeit eine Reihe von Anschlägen durchgeführt und Anfang April ein 25jähriges, katholisches Mitglied der Police Service of Northern Ireland (PSNI) getötet haben, haben über Ostern Elizabeth II. zum "legitimen Ziel" erklärt und mit entsprechenden Reaktionen ihrerseits gedroht.

Die Kontroverse um den Besuch der britischen Monarchin in der Republik Irland weist auf die Tatsache hin, daß der Kampf um Nordirland - um dessen Verbleib in der Union mit Großbritannien bzw. um die Wiederherstellung der Einheit Irlands, je nachdem wie man die Dinge betrachtet - noch immer nicht vorbei ist, sondern sich lediglich von der (para-)militärischen Ebene auf die diplomatische, geheimdienstliche, mediale, politische und wirtschaftliche verlegt hat. So arbeiten Ex-IRA-Männer und eingefleischte Unionisten in der nordirischen Regierung zusammen, während sie und ihre ideologischen Genossen in Dublin und London gleichzeitig das Rad der Geschichte in der jeweils eigenen Richtung zu drehen versuchen. Ungeachtet des friedlichen, politisch-parlamentarischen Dauerringens um den völkerrechtlichen Besitz über die nordöstliche Ecke Irlands gibt es den begründeten Verdacht, daß der britische Inlandsgeheimdienst MI5 hinter dem Erstarken der republikanischen Dissidenten steckt, um den Erfolg Sinn Féins auf beiden Seiten der Grenze zu torpedieren, das Streben nach der Wiedervereinigung der Insel als Ziel gewaltbereiter, faschistoider Ewiggestriger in Verruf zu bringen und den eigenen Anteil an den jährlichen finanziellen Zuwendungen des britischen Schatzmeisters vor Kürzungen zu bewahren. [1]

Erst vor diesem Hintergrund sind die Bemühungen der britischen Behörden, Tonbänder der Aussagen zweier ehemaliger IRA-Mitglieder über ihre frühere Teilnahme am Bürgerkrieg in Nordirland von einer Universität in den USA zu bekommen, zu verstehen. Über den ungewöhnlichen Vorgang, der auch einen Angriff auf die akademische Freiheit darstellt, berichtete als erstes Medium die New York Times am 13. Mai unter der Überschrift "Secret Archive of Ulster Troubles Faces Subpoena". Am Tag davor hatte die US-Bundesstaatsanwaltschaft beim Boston College in Massachusetts eine gerichtliche Verfügung nach Aushändigung des gesamten Materials in Verbindung mit den Interviews der beiden Ex-IRA-Mitglieder Brendan Hughes und Dolours Price vorgelegt. Das Justizministerium in Washington leistet hier Amtshilfe für die Kollegen in London, die angeblich die Aussagen von Hughes und Price brauchen, um das Verschwinden und die mutmaßliche Ermordung von neun Personen in Nordirland in den siebziger Jahren aufzuklären.

Im Visier der Ermittler steht der Sinn-Féin-Vorsitzende Gerry Adams, der damals an leitender Stelle innerhalb der IRA die besagten Personen wegen des Verdachts der Kollaboration mit den britischen Militärbehörden angeblich hat entführen, vernehmen und hinrichten lassen. Das prominenteste Opfer jener Maßnahmen war die zehnfache Mutter Jean McConville, die möglicherweise nur deshalb sterben mußte, weil sie 1972 einem verletzten britischen Soldaten bei einer Schießerei in Belfast geholfen hatte. Im Rahmen des Oral History Project des Center for Irish Programs am Boston College haben Ende der neunziger Jahre zwei Forscher ausgiebige Interviews mit mehr als 40 ehemaligen republikanischen und loyalistischen Paramilitärs unter der Bedingung geführt, daß die Aussagen bis zu ihrem Tod unter Verschluß gehalten würden. Bei den Interviews sollen Brendan Hughes and Dolours Price, beides ehemalige prominente IRA-Mitglieder, Gerry Adams, dessen Friedenskurs sie skeptisch bis ablehnend gegenüberstanden, schwer belastet haben. Demnach hat er persönlich ein geheimes Kommando innerhalb der IRA geführt, das für die Hinrichtung und Beseitigung von "Informanten" und "Kollaborateuren" zuständig war.

Die Aussagen von Hughes, der 2008 gestorben ist, und Price, sollten sie in den Rang gerichtsrelevanten Beweismaterials erhoben werden, könnten das Ende der politischen Karriere von Adams bedeuten. Bis heute bestreitet der Sinn-Féin-Präsident, jemals Mitglied der IRA gewesen zu sein. Beiderseits der Irischen See gibt es vermutlich niemand, der ihm das abkauft. Doch während der Sinn-Féin-Vizepräsident Martin McGuinness im Rahmen der Untersuchungskommission um Bloody Sunday in Derry seine IRA-Mitgliedschaft öffentlich eingeräumt und die brisante Frage ein für allemal hinter sich gebracht hat, versucht Adams aus unerklärlichen Gründen, alle für dumm zu verkaufen. Wegen seines unbestreitbaren Verdienstes um den Friedensprozeß gelang es ihm trotz einer Gegenkampagne der McConville-Familie im Frühjahr in der grenznahen Grafschaft Louth als Abgeordneter ins irische Unterhaus, das Dáil, gewählt zu werden. Dort führt er seit einigen Wochen nun die fünfzehnköpfige Sinn-Féin-Fraktion an.

Während man im Boston College erst einmal überlegt, ob man der gerichtlichen Verfügung Folge leisten oder dagegen Rechtsmittel einlegen soll, hat Anthony McIntyre, der viele der Interviews, darunter das mit Brendan Hughes, führte, in einem Artikel, der am 14. Mai bei der Irish Times erschienen ist, seine Meinung zu der jüngsten Affäre kundgetan. Für McIntyre, selbst ein ehemaliges IRA-Mitglied, das 18 Jahre im berüchtigten nordirischen Gefängnis Long Kesh, darunter vier Jahre "on the blanket" als Protest gegen das Tragen von Häftlingskleidung, verbrachte und sich später zum Kritiker von Sinn Féin wurde, ist die gerichtliche Verfügung durch "die Absicht des britischen Staats, Gerry Adams bloßzustellen" motiviert. Mit dieser Einschätzung liegt McIntyre vermutlich richtig, nur hat sein ehemaliger Freund Adams durch die eigene verfehlte Informationspolitik den britischen "Securocrats" die Steilvorlage für die Aktion am Boston College erst geliefert.

Fußnote:

1. "MI5's 'false flag' IRA Operations", Phoenix Magazine Annual 2010, S. 64-66

16. Mai 2011