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HISTORIE/331: Chilcot-Bericht zum Irakkrieg belastet Blair schwer (SB)


Chilcot-Bericht zum Irakkrieg belastet Blair schwer

London wird seine Verantwortung für das Chaos im Nahen Osten nicht los


Nach siebenjähriger Arbeit hat am 6. Juli in London der ehemalige ranghohe britische Staatsbeamte Sir John Chilcot den Abschlußbericht seiner Untersuchung zu den Hintergründen der britischen Beteiligung am amerikanischen Einmarsch in den Irak 2003 veröffentlicht. Der 2,6 Millionen Worte lange, 12 Bände umfassende Bericht belastet Tony Blair schwer, auch wenn Chilcot den damaligen britischen Premierminister vom gravierendsten Vorwurf, die eigenen Landsleute vorsätzlich belogen zu haben, freispricht. Der einstige Chef der britischen Sozialdemokraten, der rund zehn Jahre das Vereinigte Königreich regierte, drei Unterhauswahlen gewann und den jahrzehntelangen Konflikt zwischen Unionisten und Nationalisten in Nordirland beendete, geht in die Geschichtsbücher als derjenige ein, der sich den schwersten außenpolitischen Fehler Londons seit der Suezkrise 1956 leistete und durch den gewaltsamen Sturz Saddam Husseins dem damaligen US-Präsidenten George W. Bush half, die ganze Region Nahost in Brand zu setzen.

Wie es sich für ein Mitglied des Geheimrats Ihrer Majestät Königin Elizabeth II. gehört, hat sich Chilcot allergrößte Mühe gegeben zu retten, was am ohnehin tief gesunkenen Ansehen der damaligen Regierung Blair zu retten war. Dennoch kamen Chilcot und sein Team um mehrere schwerwiegende Feststellungen nicht herum: daß das "Regime" Saddam Husseins keine Bedrohung nationaler Interessen Großbritanniens darstellte; daß die "Erkenntnisse" des Auslandsgeheimdienstes MI6 bezüglich der Existenz irakischer Massenvernichtungswaffen als verläßlich und gesichert präsentiert wurden, obwohl sie das überhaupt nicht waren; daß die Möglichkeiten einer friedlichen Lösung des Streits zwischen Bagdad auf der einen, London und Washington auf der anderen Seite nicht ausgeschöpft wurden; daß die USA und Großbritannien durch die Entscheidung, am Sicherheitsrat vorbei in den Krieg zu ziehen, die Autorität der Vereinten Nationen unterminiert haben; daß die rechtliche Basis des ganzen Unternehmens "überhaupt nicht zufriedenstellend" und der Irakkrieg insgesamt unnötig war.

Aus dem Bericht geht deutlicher als bislang bekannt hervor, wie früh und wie sehr sich Blair den Plänen der neokonservativen Kriegstreiber in den USA - allen voran Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und dessen Stellvertreter Paul Wolfowitz - in der Hoffnung untergeordnet hat, den Lauf der Dinge mitbestimmen und somit Großbritanniens Einfluß im Nahen Osten und in der Welt sichern zu können. Umgekehrt brauchte die Bush-Administration die Unterstützung Blairs, um nach innen gegenüber dem amerikanischen Volk sowie nach außen vor der Weltöffentlichkeit behaupten zu können, daß die USA nicht allein, sondern in enger Abstimmung mit ihrem wichtigsten Verbündeten handelten. Während der hemdsärmlige Texaner Bush mit seinen Machosprüchen die Rachegelüste vieler US-Bürger nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 befriedigte, spielte Blair auf der internationalen Bühne den Staatsmann, der nicht aus dem Bauch heraus, sondern nach sorgfältiger Prüfung aller Optionen sowie des eigenen Gewissens die richtige, wenn auch schwere Entscheidung treffe.

Dennoch steht fest, daß Blair bereits im Frühjahr 2002 Washington die Bereitschaft zur Beteiligung der britischen Streitkräfte an der Irak-Invasion signalisierte. Während er nach außen hin - gegenüber dem britischen Volk, dem Unterhaus und sogar den eigenen Kabinettskollegen - die Abrüstung des Iraks in Zusammenarbeit mit den UN-Waffeninspekteuren forderte und militärische Zwangsmaßnahmen von der Zustimmung des Sicherheitsrats in New York abhängig machte, hatte er Bush bereits grünes Licht für die Aggression gegeben. In dem am meisten zitierten Satz des ganzen Chilcot-Berichts aus einer Email Blairs an Bush von Ende Juli 2002 sicherte der damalige britische Regierungschef dem amerikanischen Amtskollegen zu: "Ich werde an Ihrer Seite stehen, egal was kommt."

Wenige Monate später veröffentliche Number 10 Downing Street im September 2002 das berüchtigte "Dodgy Dossier", dessen aufsehenerregendste Behauptung lautete, die Streitkräfte Saddam Husseins im Westen des Iraks könnten 45 Minuten nach Erhalt eines entsprechenden Befehls aus Bagdad britische Basen auf Zypern mit ballistischen Raketen beschießen, die chemische Kampfstoffe enthielten. Daß der Hinweis des MI6 auf die vermeintliche Bedrohung der nationalen Sicherheit Großbritanniens und daraus abgeleitet Londons Recht auf Selbstverteidigung von einem Taxifahrer in Bagdad stammte, der die brisante Information zufällig dem Gespräch zweier Fahrgäste abgelauscht haben soll, hinderte die britische Boulevardpresse, allen voran Rupert Murdochs Dreckschleuder The Sun, nicht daran, den Untergang Albions in grellen Farben zu malen, sollte Saddam Hussein nicht schleunigst gestürzt werden.

Daß die Massenvernichtungswaffen ohnehin nicht im Vordergrund der Überlegungen Londons und Washingtons standen, geht aus einer Email Blairs von 26. März 2003, also eine Woche nachdem die amerikanischen und britischen Landstreitkräfte die Grenzen des Iraks überschritten hatten, eindeutig hervor. Voll messianischen Eifers schreibt Blair unter dem Titel "Das fundamentale Ziel" folgendes an Bush: "Dies ist der Moment, in dem Sie die internationalen Prioritäten für die kommende Generation - die wahre Weltordnung nach dem Kalten Krieg - definieren können. Unser Ehrgeiz ist groß - eine globale Agenda zu schmieden, um die wir die Welt vereinen können." Der damalige britische Premier stellte die Irakinvasion als Teil eines größeren Projekts zur "Verbreitung unserer Werte der Freiheit, der Demokratie, der Toleranz und der Rechtsstaatlichkeit" dar. "Obgleich die Massenvernichtungswaffen des Iraks die unmittelbare Begründung für unsere Aktion liefern, ist die Beseitigung Saddams der eigentliche Preis", so Blair.

Während Blair eine rosige Zukunft für den Irak und den Nahen Osten nach dem gewaltsamen "Regimewechsel" in Bagdad imaginierte, gingen im Frühjahr 2003 weltweit Millionen Menschen auf die Straße, die nicht die von Washington und London phantasierten Massenvernichtungswaffen für bare Münze, sondern die Warnungen des damaligen Generalsekretärs der arabischen Liga, Amr Moussa, ernst nahmen, der Irakeinmarsch der Angloamerikaner werde "das Tor zur Hölle aufstoßen", womit sie leider richtig liegen sollten. Inzwischen räumt sogar der damalige britische Vizepremierminister John Prescott ein, daß der Irakkrieg illegal war, und er wirft Blair vor, die eigenen Kabinettskollegen, das Unterhaus und die britische Öffentlichkeit hinsichtlich seiner Abmachungen mit Washington hinters Licht geführt zu haben. Wegen dieses Vorwurfs droht Blair nun wegen Mißachtung des Parlaments eine Rüge des Unterhauses, was ziemlich peinlich für den eitlen Elder Statesman wäre.

Im Chilcot-Bericht werden schwere Planungsmängel für die Ära nach Saddam Hussein kritisiert. Einige Beobachter führen das Chaos nach dem Einmarsch auf die Überzeugung der in der Bush-Administration tonangebenden Neokonservativen zurück, die Marktmechanismen allein würden im Zweistromland blühende Landschaften und eine tragfähige Wirtschaft entstehen lassen, in der Kurden, Schiiten und Sunniten friedlich miteinander kooperieren. Es gibt jedoch noch eine andere Erklärung: Der Irak sollte als Industriestandort und als Bedrohung Israels vernichtet werden, um für die anderen arabischen Staaten als mahnendes Beispiel zu fungieren. Für die Richtigkeit dieser These sprechen die Angaben, die Dr. Malcolm McIntosh, ein australischer Konfliktforscher und Autor des Buchs "Managing Britain's Defence", in einem am 8. Juli in der Zeitung Guardian erschienenen Brief gemacht hat.

McIntosh berichtet von seiner Teilnahme an einer Konferenz führender Konzernchefs in New York im Oktober 2001, einen Monat nach 9/11. Am letzten Tag der Konferenz erläuterte hinter verschlossenen Türen der ehemalige NATO-Oberbefehlshaber, US-General a. D. Wesley Clark, die bevorstehenden Militärinterventionen in Afghanistan und im Irak. Dazu McIntosh:

Uns wurden die vorläufigen Strategien, Truppenstärken und Zeitpunkte skizziert, die damals rasch beschlossen wurden. Man sagte uns, daß es keine Krisenpläne für den Irak nach der Invasion gab, außer daß die Politik der USA vorsah, das Land instabil und chaotisch zu lassen, damit es keine starke Bedrohung der Region darstellen könnte und die USA die Ölreserven kontrollieren und eine starke Militärpräsenz im Irak etablieren könnten.

12. Juli 2016


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