Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

INTERVIEW/003: Dr. Mazin Qumsiyeh - Akademiker und Aktivist im Nahostkonflikt (SB)


Skype-Interview mit Mazin Qumsiyeh am 2. August 2011

Mazin Qumsiyeh - Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh

Mazin Qumsiyeh
Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh
Dr. Mazin Qumsiyeh lehrt und forscht an den Universitäten von Bethlehem und Birzeit im besetzten Palästina. Er ist Vorsitzender des Palästinensischen Zentrums für die Versöhnung der Völker und Koordinator des Volkskomitees gegen Mauer und Siedlungen in Beit Sahour. Unter seinen zahlreichen Publikationen sind insbesondere "Sharing the Land of Canaan: Human Rights and the Israeli/Palestinian Struggle" und "Popular Resistance in Palestine: A History of Hope and Empowerment" hervorzuheben.

Geboren und aufgewachsen in einer christlich-palästinensischen Familie in Beit Sahour nahe Bethlehem, studierte Qumsiyeh an Universitäten in Jordanien und den Vereinigten Staaten Biologie, Zoologie und Genetik. Später lehrte er an der Universität von Tennessee sowie in Duke und Yale. Nach den Erfahrungen seiner Jugend unter israelischer Besatzung lernte er auf Forschungsreisen im Nahen Osten, in Europa und Afrika wie auch während seines langjährigen Aufenthalts in den USA, deren Staatsbürgerschaft er besitzt, Menschen aus den verschiedensten Kulturen kennen.

Seit etwa 15 Jahren engagiert sich Qumsiyeh für soziale und politische Anliegen seiner Landsleute. Er ist Mitbegründer zahlreicher Organisationen der Basisbewegung und setzt nicht zuletzt die elektronischen Medien zu deren Unterstützung ein. Siehe dazu sein Blog Popular Resistance ( http://popular-resistance.blogspot.com/ und http://qumsiyeh.org/ ). In Vorträgen, eigenen Artikeln für linke Webseiten wie Electronic Intifada und Interviews mit Medien wie der Washington Post, der New York Times, des Boston Globe, CNBC, C-Span und ABC nimmt er regelmäßig Stellung zu Fragen des Nahen Ostens und tritt dabei für eine pluralistische Lösung des Konflikts im Land Kanaan ein.

Nachdem der zunächst ins Auge gefaßte Interviewtermin am 29. Juli an der vorübergehenden Festnahme Qumsiyehs am Rande einer Protestaktion bei Bethlehem durch die israelischen Behörden gescheitert war, hatte der Schattenblick wenige Tage später Gelegenheit, das Gespräch per Skype mit ihm zu führen.

Mazin Qumsiyeh bei einer Festnahme - Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh

Mazin Qumsiyeh bei einer
Festnahme
Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh
Schattenblick: Dr. Qumsiyeh, Sie haben von 1979 bis vor dreieinhalb Jahren als Wissenschaftler an den renommiertesten Universitäten der USA gearbeitet. Sie hätten dort Ihre akademische Karriere ohne weiteres fortsetzen und später einen angenehmen Lebensabend verbringen können. Statt dessen sind Sie ins besetzte Westjordanland zurückgekehrt, obwohl Sie wußten, daß Ihnen als Palästinenser ein ärmeres, beschwerlicheres und gefährlicheres Leben bevorstand. Können Sie uns die Gründe für Ihre Entscheidung erläutern?

Mazin Qumsiyeh: Es stimmt schon, daß es mir wirtschaftlich erheblich besser gegangen wäre, wäre ich in den USA geblieben. Mein Hauptbeweggrund für die Rückkehr war der Wunsch, etwas zur Verbesserung der menschlichen Lage beizutragen. Ich habe während meiner Zeit in den USA immer für die Sache der Palästinenser gekämpft und auf ihre Situation aufmerksam gemacht. Ich hatte aber das Gefühl, daß ich zu Hause in Palästina mehr erreichen könnte und auch als Wissenschaftler und Universitätsdozent hier mehr gebraucht werde, als wenn ich in den USA geblieben wäre.

SB: Bei welcher Organisation in Palästina sind Sie hauptsächlich tätig?

MQ: Ich engagiere mich als Freiwilliger bei einigen örtlichen Gruppen hier in Beit Sahour wie zum Beispiel dem Palestinian Centre for Rapprochement between People, dem Al Rowwad Kulturzentrum und Theater im Flüchtlingslager Aida und vielen anderen mehr. Ich arbeite in Teilzeit als Professor an den Universitäten von Bethlehem und Birzeit.

SB: In der Berichterstattung über das Westjordanland und den Gazastreifen hört man ständig von der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) und der islamischen Hamasbewegung, die in den genannten Landstrichen jeweils die örtliche Verwaltung stellen. Es gibt aber eine größere Anzahl anderer Parteien, politischer Interessenverbände und zivilgesellschaftlicher Gruppen, von denen die Außenwelt wenig erfährt. Wie groß ist der Einfluß dieser Organisationen oder wie schätzen Sie ihre Bedeutung ein?

MQ: Persönlich bin ich der Meinung, daß es in Palästina wie überall auf der Welt die Zivilgesellschaft ist, welche die eigentliche Geschichte schreibt. Politiker und Parteien machen viel, das ist unbestreitbar, aber wenn die Menschen an der Basis eine Veränderung wollen, dann wird es sie auch geben. Das haben wir bei der Bürgerrechtsbewegung in den sechziger Jahren in den USA, mit den friedlichen Revolutionen in Osteuropa und dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes in den achtziger Jahren gesehen und erleben es wieder in den letzten Monaten in Tunesien, Ägypten und anderswo in der arabischen Welt.

SB: Wird, ähnlich der Entwicklung in den anderen arabischen Staaten, den etablierten Parteien im Westjordanland - PLO - und in Gaza - Hamas - derzeit von den zivilgesellschaftlichen Protestgruppen wie den in Reaktion auf den vor acht Jahren begonnenen Bau der israelischen Trennmauer entstandenen Volkskomitees gegen die Besatzung das Wasser abgegraben?

MQ: Da kann man die Trennlinie nicht so einfach ziehen. Es gibt viele Mitglieder der verschiedenen politischen Fraktionen in Palästina, die auch am gewaltlosen Widerstand gegen die israelische Besatzung und den Ausbau der jüdischen Siedlungen teilnehmen. Nicht wenige Aktivisten bei den verschiedenen zivilgesellschaftlichen Gruppen sind auch gleichzeitig Mitglieder irgendeiner politischen Partei oder Fraktion. Doch die Volkskomitees in Dörfern wie Bil'in und anderen treffen ihre Entscheidungen völlig unabhängig und sind niemandem gegenüber Rechenschaft schuldig. Die Mitglieder sind zum Teil Parteilose wie ich, aber auch Leute, die der einen oder anderen politischen Fraktion oder Gruppe angehören. Es sind halt Menschen aus allen Lebenslagen.

SB: In den letzten Jahren scheint in den Ländern der Europäischen Union und in den Vereinigten Staaten von Amerika das Interesse am Schicksal der Palästinenser deutlich gewachsen zu sein. Läßt sich diese Wandlung in der öffentlichen Wahrnehmung unter anderem auch auf die Kampagne Boycott, Disinvestment & Sanctions (BDS) zurückführen?

MQ: Ich denke ja, denn alle Kampagnen, die auf unseren Kampf aufmerksam machen, tragen unweigerlich dazu bei, die Sympathie der Menschen für uns zu gewinnen. In den letzten 20 Jahren hat sich die öffentliche Meinung in Europa bezüglich des Nahost-Konflikts dramatisch verändert, weil die Menschen immer mehr über die Fakten vor Ort erfahren haben und nicht mehr ausschließlich von der zionistischen Propaganda Israels und seiner Freunde in Medien und Politik des Westens beeinflußt wurden. Für den Umschwung in der öffentlichen Meinung ist aber nicht nur die BDS-Kampagne verantwortlich, sondern auch die Arbeit einiger Journalisten sowie der Einsatz ausländischer Menschenrechtsaktivisten, die Palästina besucht und vorübergehend unser Schicksal geteilt haben und anschließend in ihre Heimat zurückgekehrt sind, um dort den Menschen von ihren Erlebnissen zu berichten. Hinzu kommen natürlich die unermüdlichen Anstrengungen der Palästinenser in Europa und Amerika, die jede Gelegenheit nutzen, die ungerechte Politik Israels öffentlich anzuprangern.

SB: Fühlen sich die etablierten politischen Parteien in den besetzten palästinensischen Gebieten wie PLO und Hamas durch diese Basisgruppen möglicherweise sogar bedroht wie in den letzten Monaten die Herrschenden in den arabischen Nachbarstaaten? Hat der sogenannte Arabische Frühling vielleicht auch auf die palästinensische Gesellschaft Auswirkungen gehabt?

MQ: Ich denke, daß sich Politiker, ob nun palästinensische, israelische, amerikanische oder deutsche, immer bedroht fühlen, wenn soziale Bewegungen entstehen und Gestalt annehmen, die sie nicht kontrollieren und in ihrem Sinne lenken können. Sie sehen darin eine Gefahr für die eigene Autorität. Wir haben es hier in den vergangenen Monaten mit der Fatah im Westjordanland und der Hamas in Gaza erlebt und erleben es dieser Tage auch in Israel, wie die Herrschenden dem Entstehen einer sozialen Protestbewegung mit Mißtrauen und Feindseligkeit begegnen.

SB: Inwieweit sind sich Ihrer Meinung nach die Protestierenden in Israel über die Verbindung zwischen Mangel an Wohnraum in Israel und Überangebot an billigen Wohnungen in den illegalen Siedlungen in den besetzten Gebieten im klaren?

MQ: Je länger sich diese Bewegung fortsetzt, um so mehr durchschauen ihre Akteure die gesellschaftlichen Zusammenhänge. Hinzu kommt, daß es den Protestierenden in Israel um weit mehr als nur den Mangel an erschwinglichem Wohnraum geht. Die Hauptlinie dieser neuen sozialen Bewegung richtet sich dagegen, daß die Reichen in Israel immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Ich glaube nicht, daß ihnen der Zusammenhang zwischen dieser negativen Entwicklung und der Politik ihrer Regierung in den besetzten Gebieten entgangen ist. Sie kriegen doch mit, wie palästinensische Grundstücke beschlagnahmt und irgendwelchen schwerreichen Immobilienhaien und Bauunternehmern überlassen werden, die dort Wohnungen und Ortschaften für jüdische Siedler errichten und dabei großen Profit machen. Die soziale Ungerechtigkeit auf beiden Seiten der Grenze von 1967 hat die gleichen Wurzeln. Es werden ungeheure Summen durch Immobilienspekulationen und den Raub palästinensischen Bodens verdient, was eine direkte Folge der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik ist, die Israels Regierung seit Jahren verfolgt.

Mazim Qumsiyeh als Kind mit seiner Familie - Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh

Mazin Qumsiyeh als Kind (vorn in der Mitte) mit seiner Familie
Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh

SB: Gibt es bereits eine Zusammenarbeit zwischen den Organisatoren und Beteiligten der Sozialproteste in Israel und den Palästinensern in den besetzten Gebieten, die sich gegen den illegalen Siedlungsbau und Landraub zur Wehr setzen?

MQ: Bisher kommunizieren wir miteinander per Telefon, E-Mail et cetera, aber mit den in Israel lebenden Arabern arbeiten wir seit jeher zusammen. Wir führen hin und wieder gemeinsame Protestaktionen durch wie am vergangenen Wochenende in Nazareth, an der auch jüdische Israelis beteiligt waren. Ich würde es begrüßen, wenn es eine größere Kooperation über die Grenze von 1967 hinweg gäbe und Israelis und Palästinenser gemeinsam gegen die ungerechte Politik der israelischen Regierung kämpfen würden.

SB: Vor kurzem hat die Knesset eine Reihe von sehr umstrittenen Gesetzen verabschiedet, die bestimmte Protestformen verbieten bzw. unter Strafe stellen und die sich in erster Linie gegen die Linke in Israel und deren arabischen Bevölkerungsanteil richten. Inwieweit sind die Palästinenser in den besetzten Gebieten von diesen neuen Gesetzen betroffen?

MQ: Auf dem Gebiet des historischen Palästina gibt es nur ein souveränes Gebilde, nämlich den israelischen Staat. Israel herrscht über das ganze Gebiet. Die Israelis unterwerfen uns Palästinenser ihren Gesetzen, wie es ihnen paßt - ganz willkürlich. Sie wenden stets Gesetze gegen uns an, die ihnen Vorteile verschaffen, und setzen sich über Gesetze hinweg, die uns nützlich sein könnten und zum Beispiel rechtlichen Schutz gewährleisten würden. Israel verhält sich wie ein Apartheid-Staat - mit einem Katalog an Gesetzen in den besetzten Gebieten für die Palästinenser und einem anderen für die jüdischen Siedler. Und in Israel selbst gibt es Gesetze jeweils für die arabischen und jüdischen Bürger des Staates. Mit den neuen Gesetzen, die zum Beispiel den Aufruf zum Boykott von landwirtschaftlichen Produkten aus jüdischen Siedlungen in den besetzten Gebieten unter Strafe stellen, wird Israel sogar restriktiver als Südafrika während der Apartheid-Ära. Dort gab es Rassentrennung und -diskriminierung, aber niemals ein Gesetz, das weißen oder schwarzen Bürgern verbot, öffentlich für diplomatische oder wirtschaftliche Sanktionen gegen den eigenen Staat aufzurufen. Von daher befürchte ich, daß Israel immer mehr in den Faschismus abgleitet. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen, es sind nicht nur die jüdischen und arabischen Bürger in Israel selbst, sondern auch die Palästinenser in den besetzten Gebieten, deren Freiheitsrechte von diesen neuen Gesetzen beeinträchtigt werden.

SB: Sie gelten als ausgesprochener Verfechter der Ein-Staat-Lösung. Weshalb halten Sie sie für den besten Weg zur Beilegung des Konfliktes zwischen Israelis und Palästinensern?

MQ: Ich habe ein Buch über die Möglichkeit eines gemeinsamen Staates auf dem historischen Gebiet Palästinas geschrieben, weil ich selbst verstehen wollte, warum Israel die Zwei-Staaten-Lösung vernichtet hat. Falls es die Zwei-Staaten-Lösung wirklich jemals gegeben hat, so ist sie an der Politik Israels, vor allem durch die Ansiedlung einer halben Million jüdisch-israelischer Bürger im besetzten palästinensischen Westjordanland, zunichte gemacht worden. Diese Menschen von dort wieder abzuziehen steht überhaupt nicht zur Diskussion. Westjordanland und Gazastreifen stellen nur 22 Prozent des historischen Gebiets Palästinas dar. In den besetzten Gebieten stehen die jüdischen Siedlungen auf den besten Agrarflächen mit direktem Zugang zu den Grundwasserressourcen der Region. 80 Prozent des Grundwassers in den besetzten Gebieten werden von den Israelis kontrolliert. Vor diesem Hintergrund haben die von Israel geschaffenen Tatsachen über die Verteilung des Bodens eine Zwei-Staaten-Lösung unmöglich gemacht. Persönlich glaube ich, daß eine vernünftigere und gerechtere Lösung, die alle Probleme wie die Kontrolle über Jerusalem und die Rückkehr der Flüchtlinge regeln könnte, in der Gründung eines demokratischen und säkularen Staates für Israelis und Palästinenser bestünde.

Auszeichnung als bester Biologiestudent 1978 durch König Hussain - Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh

Auszeichnung als bester Biologiestudent 1978
durch König Hussain
Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh
SB: Was halten Sie von dem Plan, auf der bevorstehenden Generalversammlung der Vereinten Nationen im September in New York den Staat Palästina auszurufen, und welche Auswirkungen erwarten Sie von diesem Schritt, sollte er tatsächlich vollzogen werden?

MQ: Die Palästinenser haben bereits 1988 ihren Staat ausgerufen. Und seitdem haben mehr diplomatische Delegationen Palästina besucht, als es Länder gibt, die Israel anerkennen. Also wird die Bestätigung der Anerkennung Palästinas durch weitere Staaten die Situation nicht grundsätzlich verändern. Tatsache ist, daß viele Länder die Existenz eines palästinensischen Staates für wünschenswert und als ersten Schritt hin zu einer umfassenden Lösung des Nahost-Konflikts halten. Anschließend müßte man die historische Ungerechtigkeit, die den Palästinensern widerfahren ist, aufarbeiten. Vor diesem Hintergrund läßt mich die Vorstellung der Ausrufung eines palästinensischen Staates, den die meisten UN-Mitgliedsländer bereits vor mehr als 20 Jahren anerkannt haben, nicht wirklich in Jubel ausbrechen. Hinzu kommt, daß keine der Grundfragen wie zum Beispiel der Verlauf der Grenzen Israels und Palästinas oder das Schicksal der palästinensischen Flüchtlinge dadurch gelöst wäre. Es bleibt abzuwarten, ob die Staatengemeinschaft von Israel verlangt, sich an internationales Recht zu halten, sich von den palästinensischen Gebieten zurückzuziehen und den Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr zu gestatten. Die Beantwortung dieser Fragen ist meines Erachtens viel wichtiger als die Anerkennung Palästinas durch einzelne Staaten wie Spanien oder Paraguay. Es wird sich nichts verändern, solange das Ausland nicht Druck auf Israel ausübt und für Veränderungen sorgt, die offiziell für notwendig und wünschenswert erachtet werden.

SB: Besteht die Gefahr, daß Ägypten sich, sollte die Moslembruderschaft über den Weg der Parlamentswahlen in Kairo an die Macht kommen, den Gazastreifen einverleibt? Schließlich gilt die Hamas als Ableger der Moslembruderschaft.

MQ: Ich bin der Meinung, daß Politik und Medien im Westen, unterstützt von Israel und der zionistischen Lobby, die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung religiöser Parteien in den arabischen Staaten zu einem Schreckgespenst aufgebauscht haben, das mit der Wirklichkeit nichts gemein hat. Die gleiche Bedrohung wurde beschworen, als in Ankara die islamische AKP an die Macht kam. Jahre später stellt sie immer noch die Regierung, ist inzwischen sogar zweimal wiedergewählt worden, und die Türkei ist immer noch ein demokratischer und säkularer Staat. Von daher jagt mir die Vorstellung, daß die Islamisten durch demokratische Mittel an die Macht gelangen könnten, weit weniger Angst ein, als die Zionisten es sich wünschen. Das sage ich auch als Christ, der kein Anhänger von Hamas ist und nichts für die dschihadistische Ideologie übrig hat. Die Moslembruderschaft in Ägypten ist eine moderne politische Bewegung, die sich zum demokratischen Mehrparteiensystem bekennt und nicht die alleinige Regierungsmacht für sich beansprucht. Daher ist die Frage, ob sie in Kairo an die Macht kommt, für mich von geringerer Bedeutung als die, ob der Westen der neuen Regierung Ägyptens gestatten würde - unabhängig davon, ob sie nun von der Moslembruderschaft oder den neuen säkularen Parteien gebildet wird -, den Volkswillen umzusetzen. Denn es ist hinlänglich bekannt, daß die große Mehrheit der Ägypter die Teilnahme ihres Staates an der von Israel verhängten Blockade des Gaza-Streifens, weswegen die 1,7 Millionen Menschen dort die notwendigsten Mittel durch unterirdische Tunnel transportieren müssen, kategorisch ablehnt.

SB: Vor einiger Zeit gab es Berichte, die Palästinensische Autonomiebehörde um Präsident Mahmud Abbas hätte den Austausch des 2006 in Gaza verschleppten israelischen Soldaten Gilad Shalit gegen Hunderte palästinensische Gefangene blockiert. Halten Sie die Berichte für glaubwürdig und falls ja, können Sie uns das Motiv für ein solches Verhalten erklären?

MQ: Der Vorfall ist eindeutig dokumentiert und wurde im Januar von Al Jazeera publik gemacht. Der Sender aus Katar hat die entsprechenden Sitzungsprotokolle, die von Mitgliedern der Verhandlungsdelegation der PA wie Außenminister Saeb Erekat unterzeichnet worden waren, veröffentlicht. Aus dem Material geht eindeutig hervor, daß Abbas und die PA-Führung keinen Gefangenenaustausch wollten, weil sie befürchteten, daß dies zu einer Stärkung der Hamas führen würde. Das ist ein sehr bedauerlicher Vorfall gewesen. Viele Palästinenser haben die Blockierung der Freilassung von Hunderten politischen Gefangenen aus Gründen opportunistischer Kalküls seitens der PA als höchst verabscheuungswürdig empfunden.

SB: Dr. Mazin Qumsiyeh, wir bedanken uns sehr für das Interview.

Mazin Qumsiyehs Heimatdorf Beit Sahour - Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh

Mazin Qumsiyehs Heimatdorf Beit Sahour
Foto: © 2011 by Mazin Qumsiyeh

3. August 2011