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JUSTIZ/694: US-Gericht erklärt NSA-Telefonspionage für illegal (SB)


US-Gericht erklärt NSA-Telefonspionage für illegal

Die ACLU gewinnt einen wichtigen Etappensieg gegen den Schnüffelstaat


Im US-Kongreß tobt derzeit ein erbitterter Streit um die Verlängerung eines Absatzes im umstrittenen, unter dem Eindruck der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 im Eilverfahren verabschiedeten USA-PATRIOT-Gesetz. Absatz 215, auf dessen Basis die NSA seit mindestens 13 Jahren die Metadaten aller amerikanischen Telefonnutzer abspeichert, muß alle 90 Tage verlängert werden. Die aktuelle Frist läuft am 1. Juni aus. Die ohnehin hitzige Debatte im Repräsentantenhaus und Senat hat vor wenigen Tagen zusätzliche Brisanz erhalten, als der 2nd Circuit Court of Appeals in New York Absatz 215 des USA-PATRIOT-Gesetzes für illegal erklärte.

Anlaß des spektakulären Urteils des dreiköpfigen Appellationsgerichts, das für die Bezirke Connecticut, Vermont sowie Östliches, Westliches, Nördliches und Südliches New York zuständig ist, war eine Klage der American Civil Liberties Union (ACLU), der ältesten und von der Mitgliedsstärke her größten Menschenrechtsorganisation der USA. Nachdem die New York Times die illegale NSA-Ausspionage der US-Telekommunikationsnetze im Dezember 2005 gegen den Willen der Regierung von George W. Bush bekanntgemacht hatte, haben eine Reihe von Bürgerrechtsgruppen, darunter die ACLU und die Electronic Frontier Foundation (EFF), die Anwälte von muslimischen "Terrorverdächtigen" im Sondergefängnis Guantánamo Bay auf Kuba sowie systemkritische Journalisten wie der ehemalige Kriegskorrespondent Chris Hedges und der Geheimdienstexperte James Bamford dagegen Klage eingereicht. Sie fochten den Prozeß bis vor dem Obersten Gerichtshof durch. Dort unterlagen sie am 25. Februar 2013 deshalb, weil sie den Nachweis nicht hatten erbringen können, von der NSA ausspioniert gewesen zu sein.

Nur wenige Monate später, am 5. Juni 2013, lieferte der Anwalt Glenn Greenwald in einem aufsehenerregenden Artikel für die britische Tageszeitung Guardian über die Enthüllungen des ehemaligen NSA-Mitarbeiters Edward Snowden das fehlende Beweisstück. Im Mittelpunkt des ersten Snowden-Artikels im Guardian stand eine damals aktuelle Anordnung des Justizministeriums in Washington an die Adresse des US-Telekomunternehmens Verizon, über einen Zeitraum von drei Monaten die Verbindungsdaten von Millionen seiner Kunden dem US-Nachrichtendienst zur Verfügung zu stellen. Die ACLU ist Kunde bei Verizon und hat deshalb sechs Tage später ihre Klage aufgrund der plötzlich veränderten Beweislage dem Bezirksgericht für das Südliche New York erneut zugestellt.

Am 28. Dezember 2013 wurde die Klage der ACLU gegen den Nationalen Geheimdienstdirektor James Clapper, den damaligen Verteidigungsminister Chuck Hagel, NSA-Chef Keith Alexander, den damaligen Justizminister Eric Holder und den damaligen FBI-Chef Robert Mueller, derzufolge die systematische Erfassung sämtlicher telefonischer Metadaten durch den Sicherheitsapparat das Recht auf Meinungsfreiheit und das Recht auf Schutz vor staatlichen Übergriffen verletze und damit gegen die ersten und vierten Zusätze der US-Verfassung verstoße, abgewiesen. Der zuständige Richter William Pauley meinte, Al Kaida verfolge eine "kühne Jiu-Jitsu-Strategie", bei der die Anhänger Osama Bin Ladens eine Ideologie aus dem 7. Jahrhundert mit der Technologie des 21. kombinierten, weswegen den Bürgern der USA aus Gründen der nationalen Sicherheit eine Rundumüberwachung ihrer Telekommunikation durch die Geheimdienste zuzumuten sei.

Die abstruse und abwegige Argumentation Pauleys wurde nun am 7. Mai von den drei Richtern des 2nd Circuit Court of Appeals, Gerard Lynch, Robert Sack und Vernon Broderick, in einem 97seitigen Memorandum abgeschmettert und die Klage der ACLU an das Bezirksgericht zurück verwiesen. Nach Meinung von Lynch, Sack und Broderick ist Absatz 215 lediglich dazu gedacht gewesen, den US-Geheimdiensten Zugang zu Telekommunikationsdaten zu verschaffen, die bei der Verhinderung bzw. Aufklärung von Aktivitäten im Bereich des "internationalen Terrorismus" "relevant" sein könnten. Angesichts derlei Vorgaben könne man unter keinen Umständen die Abspeicherung der Metadaten aller Telefonnutzer in den USA als "relevant" bezeichnen; eine solche Auslegung von Absatz 215 und dem USA-PATRIOT-Gesetz sei vollkommen unzulässig, so Lynch, Sack und Broderick. Die Richter haben dem Antrag der ACLU, eine Aussetzung der Anwendung von Absatz 215 anzuordnen, nicht stattgegeben und statt dessen an den Kongreß appelliert, bei seinen laufenden Beratungen für eine angemessene Regelung der Angelegenheit zu sorgen.

Die Zuversicht des Richter-Trios in die Fähigkeit des Gesetzgebers, den Sorgen der ACLU et al angesichts der Aufopferung langverbürgter Bürgerrechte auf dem Altar des großen abendländischen Antiterrorkrieges gerecht zu werden, erscheint etwas deplaziert. Im Kongreß kämpft eine Minderheit, angeführt vom libertären republikanischen Kongreßabgeordneten Justin Amash und dem demokratischen Senator Patrick Leahy gegen den Widerstand einer Mehrheit von Apologeten des nationalen Sicherheitsstaates für eine Gesetzesnovellierung, den sogenannten USA Freedom Act, die bestensfalls kosmetische Veränderungen an der bisherigen Handhabung der Geheimdienste mit den sensibelsten Daten der Bevölkerung hervorbringen würde. Demnach dürfte die NSA die telefonischen Metadaten nicht mehr abspeichern. Dafür müßten die privaten Telekomunternehmen allerdings nämliche Daten vorrätig halten, damit die NSA sie jederzeit - nur mit Genehmigung des FISA-Gerichts, versteht sich - einsehen kann.

12. Mai 2015


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