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LATEINAMERIKA/2172: Rios Bürgermeister auf Rudy Giulianis Spuren (SB)


"Null Toleranz" als Strategie sozialer Säuberung


Rudolph Giulianis "Null-Toleranz"-Doktrin, unter der bei der Säuberung New Yorks Schwarze und Latinos besonders zu leiden hatten, findet ausgerechnet in lateinamerikanischen Großstädten diverse Nachahmer. Dabei wurde sein repressives Polizeiprogramm wegen der damit verbundenen Menschenrechtsverletzungen massiv kritisiert und als brutale Verdrängungsmethode charakterisiert, die schlichtweg vertrieb und abschob, was nicht ins Bild der Ordnung paßte. Wachsende Gewalttätigkeit der Polizei und ein unterschiedslos scharfes Vorgehen gegen jegliche Verstöße wie auch gegen Menschen, deren bloße Anwesenheit oder Existenzweise mißbilligt wurde, wiesen das Konzept Giulianis als innovative Herrschaftssicherung in der Großstadt aus.

Giuliani, der seine Reputation als urbaner Säuberungsexperte später in Gestalt einer privaten Beraterfirma vermarktet hat, erhielt 2003 den Auftrag, gegen ein Honorar von 4,3 Millionen Dollar ein entsprechendes Programm für Mexiko-Stadt zu entwerfen. Wie nicht anders zu erwarten, empfahl er auch dort strengere Strafen schon bei geringfügigen Vergehen und rigoroses Durchgreifen gegen jegliche Verstöße. Da man von diesem Programm nie wieder etwas gehört hat, muß man wohl davon ausgehen, daß es nicht sehr erfolgreich gewesen sein kann. Heute gilt Mexiko neben Pakistan als ein Staat, der nach Einschätzung des US-Außenministeriums im Chaos zu versinken droht. Das ist natürlich nicht Rudy Giulianis Schuld, spricht aber ebenfalls dafür, daß er in diesem Land viel Geld verdient, aber nichts Nennenswertes bewirkt hat.

Soweit bekannt, wurden Giulianis Dienste seither von keiner lateinamerikanischen Großstadt mehr in Anspruch genommen, was aber seinem Mythos eines Begründers moderner urbaner Säuberungskampagnen keinen Abbruch tat. Jedenfalls legte nach Mexiko-Stadt auch Rio de Janeiro jeden Zusammenhang zwischen der erbärmlichen Lage der Bevölkerung und einer wachsenden Kriminalität, der eine soziale Lösung anmahnt, ad acta und verabschiedete den Rechtsstaat als dysfunktional. An Modellen zur Verbrechensbekämpfung in den Städten mangelte es zwar nicht, doch schien man den bloßen Gedanken der Prävention und sozialen Sicherung zunehmend für unbrauchbar wenn nicht gar absurd zu halten.

Der Chef der Militärpolizei an der Copacabana, Oberst Celso Nogueira, hatte Zeitungsartikel über Giuliani gelesen, durch dessen Kampagne die New Yorker Verbrechensrate in den 1990er Jahren gesunken war. So reifte 2006 auch in ihm die Überzeugung, daß diese Vorgehensweise in seinem dichtbesiedelten und stark von Touristen frequentierten Zuständigkeitsbereich erfolgreich umgesetzt werden könne. Anders als in Mexiko-Stadt, wo das "Null-Toleranz"-Programm in Zusammenarbeit mit der Regierung praktiziert wurde, war es in Rio de Janeiro zunächst viel kleiner dimensioniert und wurde damals nur von den Bezirksräten unterstützt. Die Zusammenarbeit mit der Regierung, die Nogueira für sein Pilotprogramm erhofft hatte, blieb vorerst aus.

Die Polizeiführung räumte zwar ein, daß der Aufenthalt in öffentlichen Räumen eher sozialer als sicherheitsrelevanter Natur sei, revidierte dies jedoch mit dem Zusatz, daß man den Punkt erreicht habe, an dem die Entwicklung in ein Phänomen der Kriminalität umgeschlagen sei. Im Schatten der Luxushotels und im Umfeld der vielbesuchten Strände wurde Armut als Sicherheitsrisiko für die Reichen eingestuft und mit Repression aus dem Feld geschlagen. Der Versuch zahlloser armer Menschen, ihr tägliches Überleben mit Hilfe dessen zu sichern, was an solchen Orten vom Auftreten des Wohlstands abfällt oder abgezweigt werden kann, wurde erbarmungslos vereitelt.

Giulianis Kernthese folgend, daß Unordnung in der Öffentlichkeit eine Vorstufe des Verbrechens darstelle und daher beseitigt werden müsse, konzentrierte sich das "Null-Toleranz"-Programm in Rio de Janeiros auf Kleinkriminalität sowie letztlich alles, was auch nur entfernt als solche eingestuft werden konnte. Und da der Polizist dabei Richter und Vollstrecker in einer Person war, vertrieb er jeden, der seiner Einschätzung nach für Unordnung sorgte. Am Strand von Ipanema und anderen Anziehungspunkten für Touristen ging die Polizei rigoros gegen jeden vor, der ihrer Ansicht nach nicht in diese Umgebung paßte und als Störfaktor eingestuft werden sollte. Dabei wurden die sozialen Probleme natürlich nicht gelöst, sondern durch Vertreibung aus dem Blickfeld abgedrängt.

Durch die Installierung zusätzlicher Überwachungskameras und mit verstärkten Polizeipatrouillen, die über Funk dirigiert wurden und untereinander Verbindung aufrechterhielten, wurde ein engmaschiges Netz der Kontrolle gezogen. Gestellt und vertrieben oder bestraft wurden Straßenhändler ohne Lizenz, Taschendiebe, Verkehrsrowdys, selbsternannte Parkplatzwächter und natürlich Kinder und Jugendliche, die ihrem äußeren Erscheinungsbild und Verhalten nach aus den Slums stammten oder auf der Straße lebten. Die Kampagne konzentrierte sich insbesondere auf die Beseitigung sämtlicher Notquartiere von Bettlern und den Abtransport von Straßenkindern in lagerähnliche Unterkünfte, die offiziell als schützende Einrichtungen ausgewiesen werden, was sie natürlich kaum jemals waren. Auf diese Weise sprang die Polizei brutal mit den Ärmsten und Schwächsten der Gesellschaft um, damit die Lebensqualität der wohlhabenderen Schichten nicht beeinträchtigt wurde.

Wie Oberst Nogueira verharmlosend erläuterte, lehnten die Brasilianer zwar Gewalt in den Armenvierteln ab, doch parkten sie ihre Autos bedenkenlos auf den Gehwegen. Es seien eben immer die andern, die man für Mißstände verantwortlich mache. Über die eigenen Verbrechen denke niemand nach. Bezeichnenderweise mischte der Chef der Militärpolizei bei der Wahl seiner Beispiele und Worte Parksünder mit "Verbrechern", um den Bürgern einzubleuen, daß "Null Toleranz" vom Ansatz her keinen Unterschied macht und keinerlei Verstöße duldet. Zudem verschwieg er wohlweislich die Treibjagd auf Bettler und Straßenkinder in den Reichenvierteln Ipanema und Leblon. Auch wenn diese Opfer der Polizeiwillkür keiner Straftat überführt wurden, schützte sie das nicht vor Vertreibung. Ihre bloße Präsenz schaffe ein Klima der Angst und Unsicherheit für Anwohner und Touristen, hieß es nach der Doktrin der Säuberung.

Sozialarbeiter und Kirchenvertreter kritisierten die Vorgehensweise der Polizei als Stigmatisierung der ärmsten Mitglieder der brasilianischen Gesellschaft, die man kriminalisiere und offen verfolge. Selbst wenn es gelingen sollte, die Strände und Straßen befristet für Touristen und wohlhabende Anwohner freizumachen, trage diese Kampagne doch nicht das Geringste zur Lösung der sozialen Probleme bei und verschärfe diese im Gegenteil noch. Dabei gehe die Polizei immer brutaler vor. Wenn sich Kinder einem Touristen auch nur näherten, werde dies als Bedrohung eingestuft, die polizeiliches Eingreifen rechtfertige, Und wen man auf dem Boden liegend antreffe, vertreibe man mit Stöcken, Knüppeln und Pfefferspray. Wenngleich sich die Ordnungskräfte vor den Touristen noch eine gewisse Zurückhaltung auferlegten, ende diese spätestens bei den nächtlichen Rollkommandos gegen Kinder und Bettler.

Wie faszinierend Giulianis Doktrin, mit einer zerbrochenen Scheibe fange die Verwahrlosung an, die nicht vor dem Schwerverbrechen ende, für Protagonisten sozialer Säuberung sein muß, unterstrich dieser Tage der neue Bürgermeister Rio de Janeiros, der wiederum das Konzept "Null Toleranz" aus der Schublade zieht, um es im Kampf gegen die immense Verbrechensrate der Metropole ins Feld zu führen. Eduardo Paes, der sein Amt am 1. Januar angetreten hat, will einen Verfall bremsen und beenden, der vermutlich schon im Jahr 1960 begann, als Rio nicht länger die Hauptstadt Brasiliens war. Dabei wirkt Paes nicht gerade wie ein Mann, dem man eine derartige Herkulesarbeit zutrauen würde, zumal er in seiner 16 Jahre währenden politischen Karriere nicht weniger als fünf verschiedenen Parteien angehört hat. Was jedoch für ihn spricht, sind gute Beziehungen zum Gouverneur des Bundesstaats wie auch zu Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, die seinem Vorhaben Geld und Unterstützung zuführen könnten.

So feiert Giulianis Repressionskonzept erneut Urstände, wenn man wiederum die kleinsten und häufigsten Verstöße und Straftaten massiv verfolgt, als trockne man damit automatisch einen Sumpf aus, ohne den das Schwerverbrechen nicht gedeihen könne und folglich absterben müsse. Der Bürgermeister will es schlauer anstellen als der Chef der Militärpolizei vor drei Jahren und nicht nur höhere politische Ebenen einbinden, sondern verstärkt die bessergestellten Bürger für sein Vorhaben gewinnen. Die Polizei könne allein nicht viel bewirken, wenn sich das Klima in den Stadtvierteln nicht ändere. Gleichgültigkeit und Furcht müßten Engagement für Sicherheit und Ordnung weichen, wenn man potentielle Vandalen und Straftäter abschrecken wolle, heißt es nun.

Daß die Bewohner Rios für ihre zwanglosen Sitten und Gebräuche berühmt sind, weiß nicht nur in Brasilien jedes Kind. Wohin das führen kann, wenn niemand auf die Bremse tritt, könne man an den heute herrschenden verheerenden Zuständen ablesen, erklären die Protagonisten primitivster Erklärungsmuster, als seien Armut und Elend die Folge fehlender Moral und Sittenstrenge. Angesichts einer furchterregenden Zunahme der Gewalt im Umgang der Menschen miteinander flüchtet man um so bereitwilliger in Heilsversprechen im Stile Giulianis, die sich der instinktiven Abscheu guter Bürger vor allem und jedem bedienen, das für sie unter die Kategorie "menschlicher Abschaum" fällt.

20. März 2009