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LATEINAMERIKA/2200: Mexiko ist noch lange nicht aus dem Schneider (SB)


Massive finanzielle Einbußen und ein enormer Imageverlust


Nichts könnte irreführender als die Meldung sein, Mexiko kehre nach dem Ausnahmezustand der Epidemie zur Normalität zurück. Obgleich die Regierung im Sinne politischer und ökonomischer Schadensbegrenzung kaum eine andere Wahl hat, als dem öffentlichen Leben so schnell wie möglich wieder seinen Lauf zu lassen, werden die Folgen dieses Desasters auf unabsehbare Zeit nachwirken. Neben den immensen Kosten der Ausfälle in einer ganzen Reihe wirtschaftlicher Sektoren ist es insbesondere ein dramatischer Ansehensverlust bis hin zu einem erneuten Ausbruch rassistischer Diffamierungskampagnen vor allem in den Vereinigten Staaten, den Mexikaner nun zu fürchten haben.

Wie ein kurzer Blick in die Geschichte mexikanischer Migration ins nördliche Nachbarland lehrt, hat die Bezichtigung, Mexikaner seien Überträger gefährlicher Krankheiten, im Süden der USA Tradition. Im Jahr 1916 richtete die Gesundheitsbehörde in El Paso und Laredo Quarantänestationen ein, die alle Einwanderer aus Mexiko durchlaufen mußten. Unter dem Einfluß kursierender Rassenlehren gestattete man hellhäutigen Mexikanern, die in Waggons der ersten Klasse eintrafen, die ungehinderte Weiterreise. Wer eine dunklere Hautfarbe aufwies und zweiter Klasse ankam, was für die Masse der Immigranten galt, wurde einem Kerosinbad und anderen entwürdigenden Prozeduren unterzogen, die man für geeignete Desinfektionsmaßnahmen erachtete. Allein in El Paso mußten 1917 fast 800.000 Mexikaner diese Behandlung über sich ergehen lassen, obwohl nur in drei Fällen eine Typhusinfektion festgestellt wurde. Derartige Praktiken waren im südlichen Grenzgebiet der USA noch bis in die 1930er Jahre hinein üblich.

Wenn mexikanische Migranten an Infektionskrankheiten wie Tuberkulose litten, so brachten sie diese in aller Regel nicht aus ihrer Heimat mit, sondern zogen sie sich aufgrund der miserablen Lebensverhältnisse in den USA zu. Häufig hausten sie in Eisenbahnwaggons oder Slums und erhielten weder von ihrem Arbeitgeber angemessenen Lohn noch von den Behörden Unterstützung, die eine Existenz in einer weniger krankmachenden Umgebung möglich gemacht hätte.

Die Bezichtigung, Mexikaner seien Krankheitsüberträger, wurde nicht nur von faschistischen Gruppierungen kolportiert, sondern auch bei urbanen Sanierungsprojekten in Los Angeles zur Anwendung gebracht. Seit den 1970er Jahren hatten dann die Debatten um eine Überfremdung durch mexikanische Einwanderer mehr als einmal Hochkonjunktur, und erst vor zwei Jahren brachte der Sender CNN die Meldung, 7.000 Mexikaner hätten Lepra in die USA eingeschleppt, bei der es sich um eine maßlose Übertreibung, wenn nicht gar eine komplette Lügengeschichte handelte. (Counterpunch 01.05.09)

Angesichts Zehntausender Menschen, die allein in Mexiko jedes Jahr als normal eingestuften Formen der Grippe zum Opfer fallen, ohne daß ein Hahn danach kräht, mutet die weltweite Aufmerksamkeit, die dem Erreger A(H1N1) gewidmet wird, wie eine Kampagne an, bei der ein nicht auszuschließendes Bedrohungsszenario massiv instrumentalisiert wird. Wenngleich auch die mexikanischen Behörden mit Blick auf künftige bevölkerungsregulative Maßnahmen großen Stils von diesem landesweiten Manöver profitiert haben, ist die finanzielle Belastung doch gewaltig.

Wie Präsident Felipe Calderón dieser Tage bilanzierte, habe die außergewöhnliche Situation für die Wirtschaft und insbesondere die gesamte Bevölkerung beträchtliche Kosten mit sich gebracht. Finanzminister Agustin Carstens schätzte die Einbußen für Mexiko auf insgesamt 2,2 Milliarden Dollar, was sich in einem Rückgang des Bruttosozialprodukts um bis zu 0,5 Prozentpunkte niederschlagen werde. Die Regierung hat ein Hilfspaket von 1,3 Milliarden Dollar in Gestalt von Steuersenkungen und Krediten für Hotels, Restaurants und weitere Teile der besonders schwer betroffenen Tourismusbranche beschlossen. Tourismusminister Rodolfo Elizondo befürchtet im laufenden Jahr einen Rückgang der Einkünfte in diesem Sektor um 43 Prozent, da zahlreiche Flüge gestrichen, Konferenzen aller Art abgesagt und Urlaubspläne anderswo realisiert werden. Rund 70 Prozent aller vorgebuchten Reisen nach Mexiko wurden storniert, und auch der Tagesbesuch ist dramatisch eingebrochen. (The Christian Science Monitor 07.05.09)

Während nach und nach öffentliche Einrichtungen ihre Tätigkeit wieder aufnehmen und Veranstaltungen stattfinden dürfen, zeichnen sich auch dabei enorme Verluste oder zusätzliche Belastungen ab. So forderte Präsident Calderón die Eltern von Schulkindern auf, vor der Wiederaufnahme des Lehrbetriebs gemeinsam mit den Lehrern die Klassenräume zu desinfizieren. Für die Desinfizierung öffentlicher Gebäude will die Regierung umgerechnet 11,3 Millionen Euro ausgeben. Wie in diesem Zusammenhang berichtet wurde, verfügen rund zwölf Prozent der fast 250.000 mexikanischen Schulen weder über Toiletten noch fließendes Wasser. (NZZ Online 05.05.09)

In solchen Berechnungen nicht enthalten sind die Ausfälle des sogenannten informellen Sektors, also eines Millionenheers von Mexikanern, die ihren kargen Lebensunterhalt als Straßenverkäufer, Zwischenträger oder Hilfsarbeiter bestreiten und dabei von der Hand in den Mund leben. Für sie ist die Wiederaufnahme ihrer Tätigkeit von existentieller Bedeutung, da sie in der Regel über keinerlei Rücklagen verfügen. Wie schwer die Einbußen in ihrer Gesamtheit sein werden, läßt sich unmöglich prognostizieren. Reisewarnungen, gestrichene Flüge und eine tendenziöse Berichterstattung haben dafür gesorgt, daß Mexiko derzeit fest mit "Schweinegrippe" assoziiert wird.

Während die Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach wie vor in Erwägung zieht, die Epidemiewarnung auf die höchste Stufe anzuheben, die UNO hingegen beschwichtigende Einschätzungen von sich gibt, womit die widersprüchlichen Zahlenangaben und Bewertungen selbst auf höchster Ebene für anhaltende Verwirrung sorgen, läßt sich für das zum alleinigen Zentrum der Pandemie hochstilisierte Land vorerst nur so viel sagen: Mexikaner sind derzeit im Ausland denkbar schlecht angesehen, und niemand vermag zu sagen, welche Folgen das schleichende Gift der Diffamierung auf dem Nährboden von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und nicht zuletzt einer restriktiven Einwanderungspolitik in den USA zeitigen wird.

7. Mai 2009