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LATEINAMERIKA/2212: Verhaftungswelle unter Kommunalpolitikern Mexikos (SB)


Im "Antidrogenkampf" heiligt der vorgebliche Zweck jedes Mittel


Der Kampf gegen den Feind im eigenen Land in Gestalt der Drogenkartelle versetzt Mexikos Staatschef Felipe Calderón in den Stand, eine repressive Sicherheitsarchitektur in massiven Schüben auszubauen und alle Schranken gegen den Schulterschluß mit den Vereinigten Staaten niederzureißen. Obgleich die blutige Schlacht um das Rauschgiftgeschäft erbitterter nicht sein könnte, verschleiert sie doch den strategischen Entwurf des sogenannten Antidrogenkampfs als langfristig angelegtes Instrument der inneren Sicherheit und insbesondere der Zugriffsentwicklung seitens der Führungsmächte. Vor diesem Hintergrund entschlüsselt sich die vermeintliche Unzulänglichkeit der brachialen Konfrontation mit den Kartellen als mindestens in Kauf genommene, wenn nicht gar gezielt herbeigeführte Eskalation, die anderen und fundamentaleren Zwecken geschuldet ist als dem vordergründigen Machtkampf mit den Drogenbanden.

Der Einsatz von inzwischen rund 45.000 Soldaten und Bundespolizisten an den diversen Brennpunkten der Auseinandersetzung, ein zeitweiliger Austausch städtischer Polizeikräfte durch Angehörige der Streitkräfte, die Verhängung des Ausnahmezustands an einzelnen Orten, die Präsenz schwerbewaffneter Patrouillen auf Straßen und Plätzen, überfallartige Operationen unter Beteiligung Hunderter Sicherheitskräfte, Großrazzien, Überwachung und Kontrolle auf allen Ebenen sowie Sonderbeauftragte und Abteilungen mit einzigartigen Befugnissen verdichten sich zu einer Militarisierung der Gesellschaft und einem restriktiven Umbau des Staatsapparats, flankiert von einer veränderten Gesetzeslage und gestützt durch eine tiefgreifende Beeinflussung der mediengenerierten öffentlichen Meinung.

Je nach Quelle sind seit Amtsantritt Präsident Calderóns im Dezember 2006 mindestens 7.000, womöglich aber auch schon mehr als 10.000 Menschen im Krieg der Kartelle gestorben. Diese verheerende Bilanz ruft zwar zunehmend Skepsis auf den Plan, hat aber keineswegs dazu geführt, daß die Bevölkerung dieser Entwicklung auf politischer Bühne eine Absage erteilt. Furcht und Unsicherheit beherrschen das Feld, während für die Aussicht auf halbwegs friedliche Verhältnisse mittlerweile kaum ein Preis zu hoch erscheint. Umkehren könne man ohnehin nicht mehr, lautet der weithin geteilte Konsens, weshalb man Calderóns konfrontativen Kurs nach wie vor unterstützt, jeden Angriff mit noch unerbittlicherer Härte zu beantworten.

Nun hat Präsident Calderón im Zuge einer weiteren Eskalation des sogenannten Antidrogenkriegs im Bundesstaat Michoacán zehn Bürgermeister und fast zwei Dutzend weitere Politiker und Polizisten festnehmen lassen, die in Verdacht stehen, mit Drogenkartellen zu kollaborieren. In dieser westlich der Hauptstadt gelegenen Region hatte der Staatschef nach seinem Amtsantritt Ende 2006 erstmals Soldaten in den Einsatz gegen die Kartelle geschickt. Hier geht er nun zum ersten Mal massiv gegen Kommunalpolitiker vor, womit er offenbar nicht zuletzt im Vorfeld der im Sommer anstehenden Wahlen zur Hälfte seiner Amtszeit ein Signal setzen will, das in der Öffentlichkeit gut ankommt.

Gouverneur Leonel Godoy von der oppositionellen PRD, der offenbar über die Verhaftungswelle nicht vorab in Kenntnis gesetzt worden war, gab zu verstehen, daß die festgenommenen Politiker auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebene verschiedenen Parteien angehören. Augenscheinlich war Calderón sorgsam darauf bedacht, die Operation als sicherheitsrelevante Maßnahme auszuweisen, die keinem parteipolitischen Kalkül geschuldet ist. Vielmehr unterstrich er mit dieser erstmals praktizierten Vorgehensweise seine Entschlossenheit, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen und unter Anwendung massivster Mittel das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen.

Hunderte Soldaten und Bundespolizisten stürmten die Dienststellen, darunter auch das Büro des Justizministers in der Hauptstadt Morelia des Bundesstaats, wo mehrere Personen festgenommen wurden. Verhaftet wurden auch ein Richter, der Direktor der Polizeiakademie und ein Sicherheitsberater des Gouverneurs. In Michoacán, wo der Anbau von Marihuana und die Herstellung von Amphetaminen weit verbreitet sind, herrscht das Kartell "La Familia", was ihm jedoch von konkurrierenden Banden seit geraumer Zeit streitig gemacht wird. Im September 2006 war es in diesem Machtkampf zu einem aufsehenerregenden Vorfall gekommen, als in der Stadt Uruapan schwerbewaffnete Männer fünf abgeschlagene menschliche Köpfe in eine Tanzbar schleuderten. Fast genau zwei Jahre später kam es zum bislang blutigsten Anschlag auf Zivilisten, als am Unabhängigkeitstag Handgranaten in eine Menschenmenge geworfen wurden. Während der erste Zwischenfall einer Auseinandersetzung zwischen Drogenbanden zugeschrieben wurde, richtete sich der zweite offenbar gegen die Präsenz der Streitkräfte wie auch die Politik der Regierung.

Vermutlich hat Calderón, der in Morelia aufgewachsen ist, seinen Heimatstaat wie schon bei der damaligen ersten Entsendung von Truppen auch für die aktuelle höhere Stufe des Konflikts gezielt ausgewählt. Da nicht abzusehen ist, wie und wann dieser Krieg gewonnen werden kann, geht es dem Präsidenten stets aufs neue darum, markante Zeichen zu setzen und Stärke zu demonstrieren. Obwohl die Regierung immer mehr Soldaten und Bundespolizisten in den Kampf gegen die Kartelle geschickt hat, deutet sich bislang keine Wende an. Zwar tragen die rivalisierenden Fraktionen des Drogengeschäfts ihre Revierkämpfe nicht selten mit schweren Waffen bis hin zu Panzerfäusten, Mörsern und Granatwerfern aus, doch heißt das nicht, daß sie unter Einsatz nicht minder aufwendigen Kriegsgeräts seitens der Armee zu besiegen sind.

Ein zentrales Moment ihres Einflusses ist die Einschüchterung und Bestechung auf allen Ebenen, die sich gewissermaßen durch die Institutionen frißt, die Politiker einkauft und die Polizisten umdreht. Vor allem aber darf man nicht außer acht lassen, daß die Kartelle in einem vergleichsweise armen Land wie Mexiko, dessen extrem polarisierte Gesellschaft von massenhaftem Elend geprägt ist, vielerorts zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren aufgestiegen sind. Zahlreiche Menschen leben direkt oder indirekt vom Drogengeschäft, weshalb eine Strategie gewaltsamer Säuberung wesentliche Aspekte des Komplexes ausblendet. Soldaten, die auf den Straßen patrouillieren, können vielleicht Feuergefechte in der Öffentlichkeit verhindern, doch sind die vielfältigen Verflechtungen der Herstellung, des Transports, Handels und Konsums von Drogen nicht militärisch aufzulösen.

Präsident Calderón hat mit den Festnahmen von Politikern unterstrichen, daß niemand vor dem Zugriff von Staat und Justiz sicher sein kann, der mit den Kartellen zusammenarbeitet. In manchen Städten übernahm das Militär vorübergehend sämtliche Aufgaben der für unzuverlässig erachteten Polizei, man führte den Gebrauch von Lügendetektoren ein und prüfte das Konsumverhalten der Staatsdiener, um Rückschlüsse auf illegale Nebeneinkünfte zu erhalten. Als sich herausstellte, daß höchste Regierungskreise infiltriert waren, sollte die "Operation sauberes Haus" die Verbindungen zum organisierten Verbrechen ausfindig machen und kappen.

Das Konzept, mit harter Hand und eisernem Besen gründlich auszumisten, krankt jedoch nicht nur an der unzulässigen Gleichsetzung der Gesellschaft mit einem Stall. Beispielsweise hat die verstärkte Abschottung der US-Grenze dazu geführt, daß Mexiko nicht nur das wichtigste Transitland für Drogen ist, sondern auch dramatisch steigende Konsumentenzahlen aufweist. Vom Kopf der Kartelle bis hinunter zum Straßenverkauf wächst das Netz großer und kleiner Zwischenträger, deren niedere Chargen häufig nicht mit Geld, sondern Rauschgift bezahlt werden und so die massenhafte Verbreitung vorantreiben.

Das vielzitierte Bild der Hydra, der für jeden abgeschlagenen Kopf drei neue nachwachsen, suggeriert in diesem Zusammenhang die Notwendigkeit, wie in der Heldensage zu außergewöhnlichen Mitteln zu greifen, um der Übermacht des Bösen Einhalt zu gebieten. Die unterstellte Omnipotenz der Kartelle befördert den Ruf nach dem starken Staat, ihre vermeintliche Allgegenwart in Behörden und Gremien verlangt nach einer polizeistaatlichen Durchdringung der Institutionen und ihre Infiltration selbst der höchsten Ebenen weckt Phantasien eines diktaturähnlichen Regimes, das sich aller infizierbaren Verflechtungen entledigt, also Parlament und Gerichte für subaltern erklärt sowie mittels elitärer Sicherheitskräfte herrscht, die Ermittler, Staatsanwälte, Richter und Vollstrecker in Personalunion sind.

Auffällig ist die massive Verdrängung und Ausblendung gesellschaftlicher Widersprüche durch die Vorherrschaft des Antidrogenkampfs in der politischen Agenda und der Mediendebatte. Verelendung, Teuerung und selbst die weltweite Wirtschaftskrise müssen zurückstehen, wenn wieder irgendwo geschossen, gemordet oder verhaftet wird. Während die USA und ihre Verbündeten den Kampf gegen von ihnen selbst generierte oder schlichtweg erfundene Feinde führen, die sie als "Terroristen" entmenschlichen, schlagen sich die Mexikaner gewissermaßen mit dem historischen Vorläufer in Gestalt der Drogenhändler herum. Hält man der mexikanischen Führung und ihren US-amerikanischen Unterstützern vor, mit ihrer Vorgehensweise werde sie den Krieg gegen die Kartelle nie gewinnen, so sei die Frage erlaubt, um welchen Sieg es dabei eigentlich geht. Wer allen Ernstes glaubt, die Alliierten jagten im Irak, in Afghanistan und wer weiß wo "Terroristen", mag auch für bare Münze nehmen, daß in Mexiko ein Kampf auf Leben und Tod gegen die Drogenhändler geführt wird, die das Land in den Abgrund stürzen wollen.

29. Mai 2009