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LATEINAMERIKA/2348: Die große Scharade der humanitären Hilfe (SB)


Mißverhältnis zwischen Worten und Taten läßt auf System schließen


Das Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen unternimmt einen erneuten Versuch, in einer großangelegten Aktion Lebensmittel an die notleidenden Haitianer zu verteilen. Berücksichtigt man, daß seit dem schweren Erdbeben bereits zwei Wochen vergangen sind, mag man kaum noch von einer guten Nachricht sprechen, ehe feststeht, daß es sich diesmal um keine Fiktion handelt. Das WFP richtet 16 feste Verteilstellen in der Hauptstadt Port-au-Prince ein, die in den kommenden beiden Wochen zwei Millionen Menschen mit Essen versorgen sollen. [1]

Die 25-Kilo-Säcke mit Reis werden nur gegen Gutscheine und vor allem an Frauen ausgegeben, wobei die haitianische Regierung das Weiterverkaufen von Lebensmittelhilfe für illegal erklärt hat. Wie die Hilfsorganisationen mitteilten, gebe man den Reis überwiegend an Frauen heraus, weil diese für ihre Familien sorgen. Sollte es aber in einer Familie keine Frauen mehr geben, würden natürlich auch Männer versorgt. [2]

Augenfällig sind die massiven Sicherheitsvorkehrungen bei dieser Aktion, an der mehrere internationale Hilfsorganisationen beteiligt sind. Soldaten der UNO-Mission MINUSTAH, der US-Armee und haitianische Polizisten überwachen die Verteilung. Bewaffnete Sicherheitskräfte halten die Menschenmenge hinter Barrieren zurück. Bei früheren Verteilungen von Lebensmitteln war es mehrfach zu Ausschreitungen gekommen, worauf Soldaten in die Luft schossen, um die Menge einzuschüchtern, aber in mehreren Fällen auch mit Gummigeschossen oder Tränengas auf die Menschen feuerten.

Im Stadtteil Petionville kam es zu lautstarken Protesten von Erdbebengeschädigten, die keinen Gutschein erhalten hatten. Auch kritisierten viele Haitianer den Einsatz der zahlreichen Sicherheitskräfte bei der Verteilung, weil diese Unruhe bei den Wartenden provozierten. Die Soldaten treten demnach häufig arrogant auf und schüchtern die Menschen ein, die Bedürftigen würden wie Unmündige behandelt. Je länger die Leute auf die Verteilung warten müssen, desto größer wird ihre Sorge, möglicherweise nichts abzubekommen. Nachdem die Menschen tagelang ohne Hilfe ausharren mußten und die verteilten Lebensmittel in den meisten Fällen nur für einen Bruchteil der Bedürftigen ausreichen, kommt es fast zwangsläufig zu Auseinandersetzungen, bei denen sich die Stärksten durchsetzen.

Unmittelbar nach dem ersten schweren Erdbeben war es bei den spärlichen Verteilungen von Wasser und Lebensmitteln zu keinen nennenswerten Problemen gekommen. Erst als die vollmundig angekündigte Hilfe ausblieb und die viel zu spät eintreffenden Lieferungen weit unter dem Bedarf lagen, so daß Überlebende der Katastrophe zu Tausenden starben, wuchs die Unruhe unter der Bevölkerung, die nun mit militärischen Mitteln eingedämmt wird. Es handle sich um eine einzigartige Reaktion auf eine einzigartige Situation, begründete Marcus Prior, ein Sprecher des Welternährungsprogramms, den erneuten Versuch, die Verteilung wieder unter Kontrolle zu bringen. [3]

Unterdessen haben die USA angekündigt, die seit Tagen ausgesetzten Evakuierungsflüge aus Port-au-Prince wieder aufzunehmen. Wie Präsidentensprecher Tommy Vietor in Washington mitteilte, habe man in Abstimmung mit der Regierung Haitis und der internationalen Gemeinschaft entschieden, die Luftbrücke in Kürze wieder einzurichten. Das "dringende Bedürfnis" zur "Rettung von Leben" müsse erfüllt werden. Zu dem Engpaß sei es gekommen, weil die Plätze knapp wurden. Indessen habe niemand die Auffassung vertreten, daß man die Flüge suspendieren sollte.

Erstaunlicherweise ist nach wie vor ungeklärt, wer die Verantwortung für das Aussetzen der Transporte trägt. Gouverneur Charlie Crist von Florida, wohin die meisten Opfer überführt wurden, hatte eine bessere Verteilung der finanziellen Last gefordert, da sein Bundesstaat die hohen Behandlungskosten nahezu allein tragen müsse. Er verlangte die Freigabe von Bundesmitteln, zusätzliches Personal sowie Evakuierungsflüge auch in andere Bundesstaaten. Andererseits erklärte der Gouverneur aber auch, Florida habe zu keinem Zeitpunkt die Türen für Haitianer geschlossen, die von dem Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen worden sind. [4]

Nach Angaben der Streitkräfte wurden die Flüge eingestellt, da es unter den Krankenhäusern in Florida zu einem Streit um die benötigten Plätze und die Bezahlung gekommen sei. Wenig später erklärten die Militärs jedoch, man werde die Mission selbstverständlich erfüllen und die Flüge durchführen. Die Voraussetzungen seien vorhanden, teilte Hauptmann Kevin Aandahl, ein Sprecher des United States Transportation Command, mit. Es gehe nun darum, die richtigen Leute in der Kette zu einem koordinierten Handeln zu veranlassen.

Wie aus Florida verlautete, habe Gouverneur Charlie Crist die Regierung in Washington ersucht, die Flugpläne für schwerverletzte Haitianer zu koordinieren und die Kosten teilweise zu übernehmen, die in die Millionenhöhe gingen. Kurz darauf habe der Bundesstaat erfahren, daß die Luftbrücke suspendiert sei. Das Problem ist nach Angaben John Cherrys, eines Sprechers der Division of Emergency Management, ein Mangel an koordinierten Maßnahmen in Washington: "Wir wissen nicht, wer dort das Sagen hat. Sie nehmen es in ihren Dienstweg, wo es scheinbar in einem schwarzen Loch verschwindet."

Der Umstand, daß niemand für die Unterbrechung der Luftbrücke verantwortlich gewesen sein will, ist beispielhaft für die Funktionalisierung einer Naturkatastrophe. Das unbeeinflußbare Wirken übermächtiger Gewalten wird auch für die Erklärung der Unzulänglichkeiten, Widersprüche und gezielten Gegenläufigkeiten administrativen Handels in Anspruch genommen, so daß nicht nur die fehlgeschlagenen Maßnahmen mit der Größe der zu bewältigenden Probleme entschuldigt, sondern insbesondere auch grundlegende Strategien der Mangelverwaltung verschleiert werden.

Auf der einen Seite wird derzeit darüber diskutiert, ob Haiti nicht vorübergehend vollständig von einer internationalen Organisation übernommen oder zumindest eine Art Marshall-Plan für das ärmste Land der westlichen Hemisphäre aufgelegt werden sollte. Auf der anderen Seite ist es den Vereinten Nationen nicht gelungen, auch nur ein einziges jener Ziele zu erreichen, die Generalsekretär Ban Ki Moon an unmittelbarer Hilfe formuliert hat. Wie dieser wiederholt angekündigt hatte, sollten bis Ende letzter Woche eine Million Haitianer mit Lebensmitteln versorgt sein, wobei die Zahl der Hungernden doppelt so hoch eingeschätzt wird. Tatsächlich wurden zum genannten Zeitpunkt offiziellen Angaben zufolge erst 600.000 Menschen versorgt, wobei man die Zuverlässigkeit dieser Angabe wohl bezweifeln darf. Niemand habe erwartet, daß man so langsam vorankommen würde, räumte John Holmes, der Nothilfekoordinator der UNO, ein.

Des weiteren plante der Generalsekretär ein Programm, bei dem Aufräumarbeiten mit Bargeld bezahlt werden sollen, damit sich die Menschen einerseits mit dem Nötigsten versorgen können und andererseits Unruhen vermieden werden. Hatte man mit 200.000 Menschen gerechnet, die kurzfristig in diese Maßnahme eingebunden werden können, so sind es bislang kaum mehr als 12.000, die sich auf diese Weise einige Dollars am Tag verdienen.

Noch deutlicher wird das eklatante Mißverhältnis zwischen Worten und Taten, wenn man noch eine Stufe höher die Verhältnisse unter die Lupe nimmt. Im Jahr 2000 bewilligten die Vereinigten Staaten und die Interamerikanische Entwicklungsbank mehrere hundert Millionen Dollar an Krediten für Haiti, die in die Verbesserung des Gesundheitswesens, des Bildungssystems, der Wasserversorgung und des Straßenbaus investiert werden sollten. Als die US-Regierung jedoch den Kurs Präsident Jean-Bertrand Aristides mißbilligte, wurden die zugesagten Gelder eingefroren. Zwar gab man die Kredite nach dem gewaltsamen Sturz Aristides wieder frei, doch warten die Menschen jener Gemeinden, in denen vor zehn Jahren die ersten Projekte davon finanziert werden sollten, noch heute auf sauberes Trinkwasser. [5]

Auch der Verbleib der 2004 von der internationalen Gemeinschaft zugesagten einen Milliarde Dollar für Haiti liegt im dunkeln. Dem Robert F. Kennedy Center for Justice and Human Rights und Partnerorganisationen gelang es trotz intensiver Recherchen nicht, jemals klare und glaubwürdige Antworten von den Geberländern zu bekommen. Wie die haitianische Regierung schließlich bestätigte, sei der weitaus größte Teil dieser Gelder nie gezahlt worden.

Nachdem mehrere tropische Wirbelstürme Haiti verwüstet hatten, stellte die internationale Gemeinschaft bei einer Geberkonferenz im Jahr 2008 mehr als 324 Millionen Dollar in Aussicht, die jedoch nur zu einem geringen Bruchteil bereitgestellt wurden. Und schließlich wurden bei einer weiteren Geberkonferenz im April letzten Jahres 402 Millionen Dollar zugesagt, von denen nach Angaben der Vereinten Nationen bislang erst 61 Millionen tatsächlich gezahlt worden sind.

Wenn all diese zugesagten, aber nie gezahlten Summen addiert werden, kommt unter dem Strich ein gewaltiger Betrag heraus, den Haiti angeblich an Hilfsgeldern erhalten, aber nicht genutzt hat, weil es eben ein Faß ohne Boden sei. Berücksichtigt man jedoch, daß von den in Aussicht gestellten Geldern nur ein Bruchteil bereitgestellt worden ist, der wiederum kaum oder gar nicht bei den Menschen ankam, die diese Unterstützung am dringendsten benötigt hätten, muß man von einem System ausgehen, das vorgebliche Hilfe instrumentalisiert und ein Täuschungsmanöver durchträgt, um seine räuberischen Absichten zu verschleiern, da es selbst in einem Armenhaus wie Haiti noch Verwertungsmöglichkeiten wittert.

Anmerkungen:

[1] Hilfe für Haiti. Vereinte Nationen verteilen wieder Lebensmittel (01.02.10)
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,675155,00.html

[2] Uno beginnt Verteilung von Lebensmitteln in Haiti. 16 feste Verteilstellen in Port-au-Prince eingerichtet (01.02.10)
http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/literatur_und_kunst/uno_beginnt_grossangelegte_verteilung_von_lebensmitteln_in_haiti_1.4733337.html

[3] U.N. Introduces Coupon System to Distribute Rice to Haitians (31.01.10)
New York Times

[4] Haiti Is Again a Canvas for Approaches to Aid (31.01.10)
New York Times

[5] A Roadmap to Recovery. Human Rights and Haiti (31.01.10)
World Socialist Web Site

1. Februar 2010