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LATEINAMERIKA/2354: Argentinien in den Ketten des Schuldenregimes (SB)


Hintergrund der Kontroverse zwischen Regierung und Zentralbank


Die seit mehr als einem Monat anhaltende Kontroverse zwischen der argentinischen Regierung und der Zentralbank, die zur Entlassung des Notenbankchefs Martín Redrado durch Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner geführt hat, wirft grundsätzliche Fragen zu Charakter und Hintergrund dieses Konflikts auf. Während die Mehrzahl der ausländischen Medien das Geschehen als Machtkampf zwischen einer populistischen Staatschefin und einem aufrechten Zentralbankchef darstellt, der eine unzulässige Plünderung der Rücklagen verhindern wollte, geht es bei diesem Streit doch vielmehr um den politischen Kurs der Regierung, den oppositionelle Kräfte jedweder Couleur zu behindern trachten.

Will die Präsidentin ihre aktive Sozial- und Wirtschaftspolitik fortsetzen, muß sie neue Finanzquellen erschließen. Da Argentinien mit mehr als 46 Milliarden US-Dollar größere Devisenreserven als je zuvor hat, plant Cristina Fernández de Kirchner, davon 6,59 Milliarden zu entnehmen und zur Bedienung des Schuldendienstes zu verwenden, bei dem in diesem Jahr insgesamt 13 Milliarden Dollar fällig werden. Wie die Präsidentin argumentiert, mache es Sinn, dafür einen Teil der wenig einträglichen Devisenreserven einzusetzen und auf diese Weise günstigere Kreditraten auf den internationalen Finanzmärkten zu bekommen. [1]

Seit Argentinien bei seinem Staatsbankrott im Jahr 2002 die Bedienung privater Schulden eingestellt hat, sind die internationalen Finanzmärkte ausgesprochen schlecht auf das südamerikanische Land zu sprechen. Wollte die Regierung dennoch Kredite aufnehmen, müßte sie dafür sehr hohe Zinsen bezahlen. Unter diesen Voraussetzungen ist das Argument der Präsidentin zumindest auf den ersten Blick nicht von der Hand zu weisen, da ihre geplante Vorgehensweise Kreditwürdigkeit und damit geringere Kreditzinsen verspricht. Die Opposition pocht demgegenüber auf die Unabhängigkeit der Zentralbank, will aber im Kern die Bedienung des Schuldendienstes über den laufenden Haushalt abwickeln, um den sozialpolitischen Spielraum der Regierung einzuengen.

Wie schon bei früheren innenpolitischen Konflikten wie insbesondere dem Streit zwischen der Regierung und den Agrarexporteuren um die geplante Steuererhöhung verfolgt die Präsidentschaft das Ziel, eine gewisse Entlastung der ärmeren Bevölkerungsschichten zu erwirken und zu diesem Zweck einen Teil der Profite abzuschöpfen oder Rücklagen einzusetzen. Dies halten opponierende Fraktionen der Gesellschaft für unangemessen und verschwendet, da sie die Wahrung und Mehrung ihrer eigenen Pfründe zum einzigen Motor wirtschaftlicher Entwicklung erklären.

Was nun die Auslandsverschuldung Argentiniens betrifft, so hat man es wie immer im Kreditwesen nicht nur mit der Gier räuberischer Individuen, Institutionen und Unternehmen zu tun, sondern vor allem mit fundamentalen Prinzipien und von langer Hand durchgetragenen Strategien der Zugriffsentwicklung. Daran zu rühren, kommt folglich einem Tabubruch gleich und ruft heftige Reaktionen hervor. Daß der Schuldherr dem Schuldner zur Begleichung der Schuld mehr abverlangt, als er ihm ursprünglich zur Verfügung gestellt hat, ist zwar das fundamentale Prinzip des Raubes mittels Kreditierung, doch wird die dabei durchgesetzte Strategie zur Erlangung künftigen Zugriffs zumeist mehr oder minder ausgeblendet. Wenngleich man den Wucher durchaus verurteilt, installiert man damit zugleich die Fiktion des angemessenen Zinssatzes, ohne die darin zum Ausdruck kommenden Machtverhältnisse und Interessenlagen zu reflektieren.

In den Ländern Lateinamerikas werden die Bodenschätze und landwirtschaftlichen Erzeugnisse von nationalen Eliten und weit mehr noch von kolonialen und imperialistischen Mächten geplündert, die Not und Elend über die Menschen in dieser Weltregion gebracht haben. Ein zentrales Werkzeug, die Ausbeutung zur forcieren und die Verfügung zu perfektionieren, ist die Verschuldung, die ihre Opfer nicht nur zwingt, die Schatztruhen der Gläubiger zu füllen, sondern sie zugleich ihren Schuldherren überantwortet. Für einen Schub in die Schuldknechtschaft sorgten insbesondere die Militärdiktaturen, die von den Geberländern und der internationalen Finanzadministration mit günstigen Krediten angefüttert wurden, die sie zur Bereicherung der führenden Gesellschaftsschichten, zum Kauf sündhaft teuren Kriegsgeräts in den USA und in Europa sowie zum Ausbau des repressiven Apparats verwendeten - nicht jedoch in eine Entwicklung der Gesellschaft investierten, die man als Fortschritt bezeichnen könnte.

Großzügig Kredite an die Militärdiktaturen zu vergeben, war mithin eine der perfidesten und verhängnisvollsten Methoden verschleierter Intervention der internationalen Finanzadministration und anderer Gläubiger, die damit ihre Opfer auf Jahrzehnte hinaus der Schuldknechtschaft unterwarfen. Auf der Strecke blieb die Finanzierung all jener Schritte, die geeignet gewesen wären, eine unabhängige und eigenständige Entwicklung voranzutreiben. So schufen die von den internationalen Führungsmächten installierten und unterstützten Diktaturen die Voraussetzungen für die darauf folgende Phase neoliberalen Unterjochung, indem sie mit dem Schuldendienst das Einfallstor für Auflagen jeder Art öffneten. Das wohl bekannteste Musterbeispiel dieser Kumpanei steuerte das Pinochet-Regime bei, als es Chile zum Experimentierfeld der "Chicago Boys" um Milton Friedman machte, die eine ganze Gesellschaft in ein Experimentierfeld ungezügelter Privatisierung und Marktliberalisierung verwandelten, unter deren verheerenden sozialen Folgen das Land heute mehr denn je leidet.

Ohne frische Kredite des Internationalem Währungsfonds, der Weltbank, der Interamerikanischen Entwicklungsbank oder von anderen Gläubigern konnte oftmals selbst der aktuelle Schuldendienst nicht mehr sichergestellt werden, so daß es immer neuer Umschuldungen und Kredite bedurfte, welche die Abhängigkeit vertieften. Derart bedrängte Staaten gewissermaßen über dem Abgrund des Bankrotts zu halten, ohne sie ganz fallen zu lassen, war die grausame Kunst der internationalen Finanzadministration.

Aus Sicht der Finanzinvestoren waren gerade solche Länder eine Quelle lukrativster Perspektiven, da die dortigen Regierungen immer schwerer weitere Gelder auftreiben konnten und daher immer höhere Zinsen für ihre Staatsanleihen in Aussicht stellen mußten. Mochten die Experten in den europäischen und US-amerikanischen Bankhäusern auch längst erkannt haben, daß diese Gewinnaussicht unmittelbar vor dem Zusammenbruch stand, so rieten sie ihren arglosen Kunden doch so lange zu derartigen Schuldverschreibungen, bis das Versprechen auf Realisierung satter Erträge wie im Falle Argentiniens kollabierte.

Dort hatten die Militärs am 24. März 1976 unter Führung von General Jorge Rafael Videla gegen die Regierung von Isabel Perón geputscht. Wie die neuen Machthaber verkündeten, wollten sie die "abendländische Kultur und den christlichen Katholizismus" mit dem Ziel verteidigen, ein "neues Argentinien" zu schaffen. Das Regime errichtete 340 Straflager, in denen die entführten Opfer gequält und getötet wurden. Unter der Diktatur, die das Land von 1976 bis 1983 in ihrem Würgegriff hielt, fielen nach offizieller Zählung rund 13.000 Menschen dem Regime zum Opfer, während Menschenrechtsorganisationen von bis zu 30.000 Ermordeten ausgehen. Die Zeit der argentinischen Militärjunta war besiegelt, als die Streitkräfte 1982 den Krieg um die Malwinas gegen Großbritannien verloren. Im selben Jahr scheiterte ein von den Militärs betriebenes Gesetz, sich selbst zu amnestieren. Im Dezember 1983 war Raúl Alfonsín der erste demokratisch gewählte Staatspräsident.

Wenngleich der militärische Apparat einiger Länder sein Heil in bellizistischen Expansionsgelüsten suchte und dabei nicht selten ein Debakel erlebte, dessen größtes die Niederlage der Argentinier im Krieg um die Malwinas (Falklandkrieg) war, blieben vor allem der Bürgerkrieg und die Umgestaltung der Gesellschaft Funktion und Ziel der Diktatur. Sie sollte die aufbrechenden Widersprüche zugunsten eines reaktionären Entwurfs gewaltsam befrieden und die Verwertungsbedingungen des international agierenden Kapitals entscheidend verbessern. Was im Kalten Krieg als Bollwerk gegen den Kommunismus propagiert wurde, war zugleich auch im Falle Argentiniens ein Türöffner für die Konzerne und Finanzinstitutionen der USA und Europas, die den Süden für die Epoche neoliberalen Wirtschaftens sturmreif schossen.

Bekanntlich arbeiteten europäische und insbesondere US-amerikanische Geheimdienste und Konzerne eng mit den Diktaturen zusammen. Die Krokodilstränen späterer US-Regierungen, man habe damals nicht genug gegen die Militärregimes unternommen, stellt die längst bekannten Fakten auf den Kopf, welche die Machthaber als originäre Zöglinge Washingtons ausweisen. Der bewaffnete Kampf mit dem Ziel einer Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse wurde mit einer Ära von Militärdiktaturen brutal gekontert, die im Dienst nationaler Eliten und imperialistischer Zugriffsinteressen dafür sorgten, das bestehende System der Ausbeutung und Unterdrückung aufrechtzuerhalten und in eine höhere Stufe der Verwertung zu überführen.

Im Zuge ihrer tendentiellen Emanzipation vom hegemonialen Einfluß der USA wie auch der europäischen Mächte übten widerstreitende Kräfte in lateinamerikanischen Ländern vernichtende Kritik an den Praktiken der internationalen Finanzadministration, deren Funktion als Handlanger der Vereinigten Staaten und Europas weitreichend analysiert und verurteilt wurde. Hatte man aber geglaubt, IWF und Konsorten hätten in dieser Weltregion endgültig ausgespielt, so drohen sie heute, sich angesichts der Weltwirtschaftskrise erneut in die verhängnisvolle Position des wichtigsten Kreditgebers zu drängen.

Ende 2008 machte Präsident Rafael Correa in Ecuador geltend, daß für die Diktaturen und anderen Fälle fragwürdiger Kreditverträge und Staatsanleihen in Südamerika zu prüfen sei, ob sie nicht unter inakzeptablen Umständen und zu unvertretbaren Konditionen abgeschlossen bzw. begeben wurden. Er berief sich darauf, daß die USA nach der Invasion des Irak im Jahr 2003 die Staatengemeinschaft dazu aufgefordert hatten, "illegitime Schulden" zu erlassen, die von der früheren Führung des Landes aufgenommen worden waren. Mittels dieser Argumentation wollte der Wirtschaftswissenschaftler im Präsidentenamt die Auslandsschuld seines Landes spürbar verringern, ohne heftige Sanktionen auszulösen, indem er die Gläubiger bei ihrer eigenen Denkweise und Propaganda packte.

Eine staatliche Untersuchungskommission prüfte daraufhin sämtliche Verpflichtungen Ecuadors aus den Jahren 1976 bis 2006 auf Anteile, die die als unrechtmäßig eingestuft werden könnten. Von den Auslandsschulden in Höhe von rund 10 Milliarden US-Dollar wurden mindestens 3,8 Milliarden als illegal ausgewiesen. Zur Durchsetzung dieser Einschätzung beschritt die Regierung den Rechtsweg, indem die Verantwortlichen im eigenen Land zur Rechenschaft gezogen und zugleich Klagen gegen Gläubiger in den USA eingereicht wurden. Als unrechtmäßig wurden beispielsweise unüblich hohe Zinssätze oder nachträgliche Änderungen zu Lasten Ecuadors eingestuft. Vor allem aber vertrat die Kommission die Auffassung, daß Abkommen mit der Militärjunta, die das Land von 1974 bis 1979 unterjochte, nicht rechtswirksam seien, da sie mit einer demokratisch nicht legitimierten Staatsführung geschlossen wurden.

Auch im Falle Argentiniens stellt sich die Frage, ob die Auslandsschulden überhaupt bezahlt werden sollten. Sie stammen im wesentlichen aus der Zeit der Militärdiktatur, da sie zwischen 1976 und 1983 von 8,2 auf 43,5 Milliarden US-Dollar stiegen. Darunter fiel nicht zuletzt das finanzpolitische Manöver der USA im Jahr 1979, auf Geheiß des damaligen Chefs der Zentralbank, Paul Volcker, den Leitzins zu erhöhen, wodurch sich die argentinischen Zinszahlungen verdreifachten. Es gibt demzufolge gute Gründe, die Auslandsschulden für illegitim zu erklären und nicht zurückzuzahlen. Da noch immer 30 Prozent der Argentinier in Armut leben und der Staat eine enorme soziale Schuld an der Bevölkerung zu begleichen hat, stellt sich ohnehin die Frage, wieso man die Gelder Gläubigern in den Rachen werfen soll. Vorstellbar wäre diese Entscheidung allerdings nur dann, wenn sich Argentinien von den internationalen Kreditmärkten zurückzieht. Derzeit zahlt das Land etwa 15 Prozent Zinsen für ausländische Kredite, wobei die Regierung mit dem eingangs beschriebenen Vorgehensweise die Zinsen auf neun bis zehn Prozent zu drücken hofft. Das ist immer noch sehr viel und sollte die Frage gestatten, ob Argentinien überhaupt internationale Kredite braucht.

Anmerkungen:

[1] "Argentinien braucht keine internationalen Kredite" (15.02.10)
junge Welt

17. Februar 2010