Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

LATEINAMERIKA/2388: Polizeimassaker an Gefängnisinsassen in Haiti (SB)


Haitianische Behörden vertuschen - Zwielichtige Rolle von USA und UNO


Nach Jahren der Diktatur existierten in Haiti in den frühen 1990er Jahren weder ein Justizwesen, noch Polizeikräfte, die auch nur entfernt internationalen Standards entsprochen hätten. Nachdem Präsident Aristide Ende 1994 die Streitkräfte abgeschafft hatte, die mehr als einmal geputscht hatten und ein Werkzeug entufernder Gewalt im Dienst der herrschenden Kräfte waren, nahm man mit internationaler Unterstützung eine Reform in Angriff. Die gängige Erklärung, diese Initiative habe bis heute kaum nennenswerte Erfolge gezeitigt, weil in Haiti eine Kultur tief verwurzelter Korruption vorherrsche, blendet die maßgeblichen Gründe für die vielfach kolportierten Mißstände aus. Da die gesellschaftlichen Verhältnisse, nämlich die Herrschaft einer kleinen Elite über die breite Mehrheit der verelendeten Bevölkerung, bestätigt und von außen gestützt wurde, verhinderte man systematisch jede grundlegende Veränderung. Dies zeigte sich insbesondere beim Sanktionsregime gegen Aristide und dessen von Washington betriebenen Sturz, der das Tor zur Intervention und Etablierung eines dauerhaften Besatzungsregimes öffnete.

Die Zustände in den 17 Gefängnissen des Landes waren vor dem großen Erdbeben verheerend. Man konnte jederzeit unter fingierten Vorwürfen, absurden Bezichtigungen oder wegen Bagatellen festgenommen und eingekerkert werden, worauf man auf unabsehbare Zeit hinter Gittern saß, ohne daß es zu einer Haftprüfung oder einem Prozeß gekommen wäre. Die notdürftig ausgestatteten Strafanstalten waren zudem hoffnungslos überbelegt, personell unterbesetzt und nach Einschätzung eines Berichts der International Crisis Group aus dem Jahr 2007 ein Pulverfaß, zu dessen Explosion es nur eines einzigen Funkens bedurfte.

Als am 12. Januar unter den heftigen Erdstößen, die große Teile der Hauptstadt Port-au-Prince verwüsteten, auch die Gefängnisse zusammenbrachen, kam es zur Massenflucht der Gefangenen, der sich auch die Wächter anschlossen. In Les Cayes, der im Süden gelegenen drittgrößten Stadt des Landes, waren die Auswirkungen des Erdbebens weniger heftig. Dort blieb die Strafanstalt weitgehend unbeschädigt, doch fürchteten die Insassen natürlich, im Falle eines Einsturzes unter den Trümmern zu sterben. Es kam zu heftigen Tumulten unter den Häftlingen, deren Lage daraufhin durch die Repression seitens der Gefängnisleitung zusätzlich verschärft wurde. [1]

Das im 19. Jahrhundert errichtete Gefängnis war mit 467 Häftlingen um das Vierfache überbelegt, und als sich der Aufruhr nicht legte, rief der Supervisor Pierre Eddy Charlot zur Verstärkung Polizisten aus der benachbarten Wache sowie Polizeikräfte der UNO herbei. Nach Angaben von Insassen griffen die Wachen einzelne "Unruhestifter" heraus, prügelten sie mit Schlagstöcken und steckten sie in die überfülltesten Zellen, in denen so wenig Platz war, daß die Gefangenen buchstäblich ineinander verschlungen waren und nur in Schichten auf dem Boden schlafen konnten.

Es liegt auf der Hand, daß viele Häftlinge unter diesen Umständen ihr einziges Heil in der Flucht sahen, weshalb Ausbruchspläne geschmiedet wurden. Zu den Anführern bei diesem Unterfangen gehörte ein gewisser Ti Mousson, der mit bürgerlichem Namen Luguens Cazeau heißt. In seiner Zelle grub man Löcher in die Wände und schärfte eine Zahnbürste zu einer behelfsweisen Waffe an. Die Ausbruchspläne wurden von einem Mitgefangenen an die Gefängnisleitung verraten, die jedoch nichts unternahm, außer ihre Vorbereitung zu verstärken. So verhängte der Direktor Sylvestre Larack höchste Alarmbereitschaft für sein Personal, wobei im Gefolge des Erdbebens jedoch nur fünf von 29 Wächtern zum Dienst erschienen.

Am 19. Januar kam es zu dem erwarteten Ausbruchsversuch, der in einem Blutbad endete. Der Gruppe um Ti Mousson gelang es zwar, ihre Zelle zu verlassen und alle übrigen mit den dabei erbeuteten Schlüsseln zu öffnen, doch führte die Flucht für die meisten nicht weiter als bis in den Gefängnishof. Die einheimischen und internationalen Polizeikräfte hatten die Strafanstalt umstellt, so daß nur wenige Gefangene, darunter auch Ti Mousson, entkommen konnten. Da die Wächter das Weite gesucht hatten, blieb den nach wie vor eingeschlossenen Häftlingen nichts anderes übrig, als Feuer zu legen und Zerstörungen anzurichten, was sich über mehrere Stunden hinzog.

Schließlich beschoß die haitianische Polizei das Innere des Gefängnisses mit Tränengas und stürmte dann das Gelände, worauf man später Dutzende Häftlinge tot oder verletzt auf dem Hof und in den Zellen fand, die regelrecht in Blut getränkt waren. Nach offizieller Version der Polizei und Gefängnisleitung hatte man keine tödliche Gewalt angewendet und die leblosen Körper vorgefunden. Alles deute darauf hin, daß Ti Mousson zahlreiche Mitgefangene abgeschlachtet habe, bevor er über die Mauer entkommen sei. Die New York Times bezweifelte diese Angaben und nahm eigene Ermittlungen auf, die den zwingenden Schluß nahelegen, daß die haitianischen Behörden unbewaffnete Häftlinge erschossen und anschließend versucht haben, das Massaker zu vertuschen.

Obgleich seither vier Monate vergangen sind, ist die genaue Opferzahl noch immer nicht bekannt. Die meisten Schätzungen gehen von zwölf bis 19 Toten und bis zu 40 Verletzten aus. Bezeichnenderweise wurden viele Opfer ohne Autopsie in namenlosen Gräbern verscharrt, die Angehörigen nicht benachrichtigt und blutgetränkte Kleidungsstücke überlebender Häftlinge verbrannt. Die Reporter der New York Times erhielten zwar keinen Zutritt zum Gefängnis, doch konnten sie mit sechs Zeugen der Ereignisse sowie fünf weiteren Personen sprechen, die unmittelbar nach der Erstürmung oder am nächsten Tag auf dem Gelände gewesen waren. Keiner von ihnen hat gesehen oder Hinweise darauf gefunden, daß die Gefangenen einander getötet haben.

Ein überlebender Häftling, der inzwischen entlassen wurde, berichtete, wie die Polizei allen befahl, sich sofort hinzulegen, und dann das Feuer auf die am Boden Liegenden eröffnete. Er geht davon aus, daß dabei auch bestimmte Gefangene gezielt ausgesucht und umgebracht wurden. Drei Köchinnen, die während der Revolte mit im Gefängnis eingeschlossen waren, versicherten ebenfalls, daß die Häftlinge nicht geschossen hätten. Auch wurden nicht einmal Schußwaffen gefunden, welche die These der Behörden unterstützt hätten. Umfangreiche Recherchen, bei denen neben ehemaligen Häftlingen auch Wächter, Polizisten, die Köchinnen und Angehörige der Opfer befragt wurden, bestätigten die Annahme, daß die Polizei für das Blutbad verantwortlich ist. Auch geht aus einem internen Bericht der UNO-Polizeitruppe hervor, daß die haitianische Polizei an diesem Tag von der Schußwaffe Gebrauch gemacht habe.

Wie die haitianische Regierung behauptete, habe sie drei voneinander unabhängige Untersuchungen zu dem Zwischenfall eingeleitet. Bislang hat jedoch kein Interviewpartner der New York Times diesbezüglich Bekanntschaft mit einem Behördenvertreter gemacht. Auch wurden die Leichen nicht exhumiert, wie es grundsätzlich keinen Hinweis darauf gibt, daß überhaupt forensische Beweismittel gesammelt wurden. Zwielichtig ist aber auch die Rolle der US-Regierung und UNO, die vier Monate lang zu dem Massaker in Les Cayes geschwiegen und auf Nachfrage der Reporter behauptet haben, man dränge die einheimischen Behörden dazu, die Angelegenheit eigenständig zu bewältigen. Erst als die New York Times nicht lockerließ, entsandte die US-Botschaft einen Ermittler, wie auch der Chef der UNO-Mission in Haiti, Edmond Mulet, endlich doch eine unabhängige Untersuchung angeordnet hat.

Nachdem man sie zum Jagen tragen mußte, beklagt sich die UNO nun darüber, wie unvollständig und ungenau die offiziellen haitianischen Stellungnahmen doch seien, weshalb man Grund zur Annahme habe, daß es sich möglicherweise um eine Vertuschung handle. Nun habe man aber lange genug gewartet und werde selbst initiativ, wobei das Vorgehen natürlich eine delikate politische Angelegenheit sei, da man ja in Haiti sei, um die Regierung zu unterstützen. Weder wolle man ihre Autorität untergraben, noch die Augen vor schweren Menschenrechtsverletzungen verschließen.

Warum fühlt man sich nur plötzlich wieder an den Sturz Jean-Bertrand Aristides erinnert, dem die US-Regierung mit der fadenscheinigen Begründung, man wolle sich nicht länger in die inneren Angelegenheiten Haitis einmischen, trotz mehrfachen Hilfeersuchens des Präsidenten tatenlos zusah, nur um nach der Entfernung des Staatschefs in letzter Minute schon am nächsten Tag mit den bereitstehenden Marines einzumarschieren?

Anmerkungen:

[1] Signs of a Cover-Up After Killings in a Haitian Prison (22.05.10)
New York Times

24. Mai 2010