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LATEINAMERIKA/2403: Urnengang in Mexikos Bundesstaaten - Wahlvolk zwischen Skylla und Charybdis (SB)


Ein Land im Krieg - Kurskorrektur nicht in Sicht


Als die US-Administration im vergangenen Jahr die strategische Einschätzung lancierte, daß Mexiko am Abgrund des Zerfalls staatlicher Ordnung stehe, fand dies in der Wahl des neuen US-Botschafters im Nachbarland seinen personifizierten Niederschlag. Der Politologe und Chefdiplomat Carlos Pascual gilt als versierter Forscher mit dem Spezialgebiet "failed states", womit er aus Sicht seines Dienstherrn vorzüglich geeignet war, die Mixtur aus Drohung und Provokation auf die Spitze zu treiben. Die mexikanische Regierung nahm diese Steilvorlage auf und protestierte bei jeder sich bietenden Gelegenheit gegen diese Zuweisung, während sie zugleich das Primat der Sicherheitspolitik nur um so vehementer unterstrich. Damit verpflichtete sich Mexiko auf eine repressive Bewältigung des sozialen Aufbegehrens, das aus der wachsenden Verelendung sowohl im eigenen Land, als auch dem hegemonialen Verhältnis der Vereinigten Staaten zu dem südlichen Teil der Hemisphäre resultiert.

Selbst die katholische Kirche Mexikos als Bastion erzkonservativer Konformität hat sich längst zu der Mahnung durchgerungen, nur eine neue Sozialpolitik könne der anders nicht zu zügelnden Eskalation von Bandentum und Kriminalität den Boden entziehen. Für soziale Gruppen und Menschenrechtsorganisationen steht diese Forderung seit Jahren auf der Tagesordnung, womit sie freilich bei der Regierung Felipe Calderóns auf Granit beißen. Die Logik des Krieges gegen die Kartelle, dessen Ende nicht abzusehen ist, verdrängt nicht nur die brennende soziale Frage in die Sphäre vorgeblicher Irrelevanz, sondern schärft zugleich die Waffen des Staates zu ihrer gewaltsamen Entscheidung.

Wenn am 4. Juli in zwölf der 32 mexikanischen Bundesstaaten die Gouverneure und Parlamente neu gewählt werden sowie in drei weiteren nur die Legislative zur Umbesetzung ansteht, droht dies für die Wählerschaft darauf hinauszulaufen, zwischen Skylla und Charybdis Schiffbruch zu erleiden. Während der rechtsklerikale Partido Acción Nacional (PAN) von Präsident Calderón für den unterwürfigen Schulterschluß mit Washington steht, der das Land in einen Kriegsschauplatz vor den Pforten der Hegemonialmacht verwandelt, repräsentiert der vordem jahrzehntelang allein herrschende Partido Revolucionario Institucional (PRI) einen feudalartigen Klientelismus reaktionärer Ausprägung. Auch die dritte große politische Kraft, der Partido de la Revolución Democrática (PRD), stellt nach der Spaltung der Partei und Rechtsdrift einer einflußreichen Fraktion kaum mehr als eine sozialdemokratische Variante bürgerlicher Herrschaftssicherung dar.

Der PRI hat seit seinem katastrophalen Abschneiden bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2006 eine bemerkenswerte Wiederauferstehung gefeiert und seither fast alle Wahlen in den Bundesstaaten und 2009 die absolute Mehrheit in der Abgeordnetenkammer gewonnen. Seine Stärke sind traditionelle korporatistische Strukturen, die es ihm erlauben, einen harten Kern an Wählern zu mobilisieren und damit insbesondere in Zeiten um sich greifender Verdrossenheit gegenüber den Parteien Vorteile zu erwirtschaften. Daher herrscht in den Prognosen die Einschätzung vor, daß der PRI bei den aktuellen Wahlen seinen Vormarsch fortsetzen und 2012 in den Präsidentenpalast zurückkehren wird. Wo die zutiefst verfeindeten Rivalen PAN und PRD eine Wahlallianz eingehen, um den Durchmarsch der PRI zu bremsen, kann dies nur den Charakter einer befristeten Notgemeinschaft haben, von der mit Gewißheit keine Impulse eines tiefgreifenden politischen Kurswechsels ausgehen. [1]

Nachdem der Sieg des oppositionellen Präsidentschaftskandidaten Vicente Fox vom PAN im Jahr 2000 die jahrzehntelange Alleinherrschaft des PRI beendet und einen entschieden neoliberalen wie auch pro-amerikanischen Kurs eingeleitet hatte, setzte eine Feudalisierung ein, welche die Macht der Gouverneure stärkte. Dies führte zu Exzessen, deren schlimmster in der Person des dieser Tage scheidenden Gouverneurs des südmexikanischen Bundesstaats Oaxaca, Ulises Ruiz, brutal Gestalt annahm. Als Landesfürst trug er maßgeblich die Verantwortung für die Greueltaten des Jahres 2006, die bis heute ungesühnt geblieben sind.

Am 14. Juni 2006 räumte die Polizei die Besetzung des zentralen Platzes der gleichnamigen Stadt Oaxaca durch protestierende Lehrer, worauf eine breite Front des Widerstands auf den Plan trat. Nachdem schon in den vorangegangenen Jahren des öfteren Mitglieder sozialer Bewegungen und politische Oppositionelle verhaftet oder ermordet worden waren, fand die nun konstituierte Protestbewegung Asamblea Popular de los Pueblos de Oaxaca (APPO) rasanten Zuspruch. Die spontan gebildete APPO wurde nicht nur zum Sammelbecken der Opposition, deren gemeinsamer Nenner die Forderung nach Ruiz' Rücktritt war, sondern wuchs sich zu einem Alptraum der herrschenden Kräfte aus. Niemand hatte vorausgesehen, daß sich Akteure so unterschiedlicher sozialer Herkunft und Anliegen auf diese Weise zusammenschließen könnten.

Hatten Teile der Opposition in Oaxaca gehofft, bei der Zentralregierung Unterstützung zu finden, so betrieb der damalige Staatschef Vicente Fox nicht etwa die Absetzung des verhaßten Gouverneurs, sondern entsandte im Gegenteil die Bundespolizei, um den Protest niederzuschlagen. Mexiko stand damals am Rande des institutionellen Zusammenbruchs, da der bei den umstrittenen Präsidentschaftswahlen betrogene Kandidat der Linken, Andrés Manuel López Obrador vom PRD, den Konservativen Felipe Calderón nicht als Sieger anerkannte und seine Anhänger massenhaft mobilisierte. Fox und sein Parteikollege Calderón brauchten die Unterstützung des PRI und von dessen Gouverneuren, worauf es zu einem Lehrstück der Kumpanei vordergründig verfeindeter politischer Fraktionen kam.

Im Verlauf der monatelangen Auseinandersetzungen in Oaxaca wurden 20 Menschen getötet, 381 verletzt und 366 festgenommen. Gouverneur Ruiz setzte auf äußerst brutale Repression, die am 25. November 2006 nach heftigen Straßenkämpfen in der Verhaftung von 149 Personen kulminierte. Menschen wurden verschleppt und umgebracht, andere gefoltert, viele weitere mißhandelt und bedroht. Klagen von Folteropfern wurden von der Staatsanwaltschaft unterdrückt, Geschädigte mußten ihren Krankenhausaufenthalt aus eigener Tasche bezahlen, man bedrohte Angehörige und schüchterte Anwälte ein.

Die Nationale Menschenrechtskommission (CNDH) stellte unter anderem Mord und Totschlag, Folter und willkürliche Verhaftungen fest. Im Oktober 2009 befand der Oberste Gerichtshof, Oaxacas Regierung trage dafür aufgrund von Unterlassungen die Verantwortung, doch blieb diese rechtlich unverbindliche Resolution ohne politische Folgen. Auch wurde die mittelbare Beteiligung der Zentralregierung an diesen Untaten ausgeklammert. Innenminister Evencio Nicolás Martínez weist den "Chaoten" die Schuld an der damaligen Eskalation zu und behauptet, die Behörden hätten auf zahlreiche Beschwerden von Bürgern reagiert und weiteren Schaden durch die Unruhestifter verhindert.

Wie tief Gruppierungen der Oligarchie in die Bandenkriminalität verwickelt sind, erfuhren mexikanische und internationale Aktivisten, als ein Konvoi von Menschenrechtsbeobachtern Ende April im Bundesstaat Oaxaca überfallen wurde. Bei dem Angriff, der PRI-nahen Paramilitärs zugeschrieben wird, starben die Mexikanerin Bety Cariño und der Finne Juri Jaakkola. Die Angreifer nahmen mehrere Aktivisten in Geiselhaft und beschossen angerückte Polizisten, die daraufhin unverrichteter Dinge wieder abzogen. [2]

Nicht selten richten sich Angriffe auch gegen Vertreter konkurrierender Parteien und deren Anhänger, wie ein aktueller Vorfall in der Stadt Nachig im südlichen Bundesstaat Chiapas dokumentiert. Dort hielt der Kandidat des PRD für das Bürgermeisteramt, Domingo Pérez, eine Wahlkampfveranstaltung ab, als eine Horde Bewaffneter mit Knüppeln, Steinen und Schußwaffen auf die versammelte Menge losging. Es kam zu mehrstündigen heftigen Zusammenstößen, in deren Verlauf drei Menschen getötet und mindestens sechs weitere verletzt wurden. Zudem brannten 15 Häuser und 20 Fahrzeuge ab. Erst als Hunderte Bundespolizisten anrückten, ebbten die Auseinandersetzungen ab. Behördenvertreter identifizierten die Angreifer als Anhänger des Kandidaten José Hernández vom PRI, der sich mit Pérez eine langanhaltende Fehde liefert. Hernández und fünf weitere Personen wurden daraufhin festgenommen. [3]

Mörderische Angriffe machen auch vor Bewerbern des PRI nicht halt, wie der Tod des landesweit bekannten Politiker Rodolfo Torre Cantú belegt. Der Kandidat für das Amt des Gouverneurs im Bundesstaat Tamaulipas wurde bei einem Überfall erschossen. Der Zwischenfall, bei dem auch vier Begleiter starben, ereignete sich auf einer Landstraße unweit des Flughafens der Provinzhauptstadt Victoria. Da der Anschlag die Handschrift des organisierten Verbrechens trug und der 46jährige Politiker im Wahlkampf eine Offensive gegen die Kriminalität zu einem seiner wichtigsten Ziele erklärt hatte, vermutet man die Täter in Kreisen der Kartelle. [4]

Nachdem in den vergangenen Tagen bereits zwei Bürgermeister erschossen worden sind, zeugt auch der jüngste Zwischenfall von dem Krieg, in den Präsident Calderón das Land geführt hat. Als dieser 2006 sein Amt antrat, zählte Mexiko jährlich 2.119 Todesopfer, die Verbrechen zugeschrieben wurden. Nach Angaben der Tageszeitung "Reforma" sind im laufenden Jahr bereits 5.229 Menschen getötet worden, wobei die Sicherheitskräfte über mehrere Landesteile so gut wie keine Kontrolle mehr haben. Mitte des Monats hatte sich der Staatschef in einer Regierungsansprache in Fernsehen und Rundfunk an die Bevölkerung gewandt und eine Parallele zum Kolumbien der 1980er Jahre gezogen, wo ein vergleichbarer Krieg gegen die Kartelle geführt worden sei. In Mexiko müsse dieser Kampf schneller und effektiver angegangen werden, fordert der Präsident, wobei er jedoch tunlichst verschwieg, wohin dieser Krieg in dem südamerikanischen Land geführt hat. Calderón rief seine Landsleute zum Kampf gegen die ausufernde Kriminalität auf: Die Drogenkartelle machten keine Unterschiede, weshalb sie nur gemeinsam besiegt werden könnten. Vor der Sicherheitsfrage, so lautete die Botschaft einmal mehr, müssen kleinliche soziale Wünsche und Kontroversen schweigen.

Anmerkungen:

[1] Oaxaca mottet noch immer (28.06.10)

Neue Zürcher Zeitung

[2] Mexikos Oligarchie im Visier der Gewalt (24.06.10)
Neues Deutschland

[3] Three Killed at Political Rally in Mexico (26.06.10)
New York Times

[4] Wichtiger mexikanischer Politiker vor Wahlen ermordet (28.06.10)
http://www.focus.de/politik/ausland/wahlen-wichtiger-mexikanischer-politiker-vor-wahlen-ermordet_aid_524656.html

29. Juni 2010