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LATEINAMERIKA/2414: Die Mythen des mexikanischen Drogenkriegs (SB)


"Kolumbianisierung" schreitet mit Riesenschritten voran


Wenn die siegessichere Euphorie der frühen Kriegstage verblaßt, weil die Opferzahlen steigen und ein Ende des Schlachtens nicht abzusehen ist, weichen martialische Fanfarenklänge zunehmend skeptischen Einwänden. Frei nach der Maxime, daß der gewonnene Krieg ein guter sei, während man an einem verlorenen alles mögliche auszusetzen hat, erspart man sich die fundierte Analyse des Waffengangs ebenso wie die schmerzhafte Aufdeckung der eigenen Zustimmung zu seinem Zustandekommen. So begrüßenswert Kriegsgegnerschaft sein mag, droht sie doch in opportunistischen Untiefen zu stranden, sofern sie sich nicht einer grundsätzlichen Bewertung der in diesem Konflikt zum Ausdruck kommenden gesellschaftlichen Widersprüche befleißigt.

Im Falle Mexikos vom "Drogenkrieg" zu sprechen, mag zwar um der schnellen Rede willen angemessen sein, doch vermag diese Klassifizierung den Charakter der Auseinandersetzung nicht annähernd zu entschlüsseln. Wie die vielzitierte Parallele zu Kolumbien unterstreicht, sind in hohem Maße US-amerikanische Hegemonialinteressen im Spiel, die den Konflikt im Nachbarland anfachen, um dessen innerer Militarisierung und Repression Vorschub zu leisten. Mexiko soll sich der Verwertungsoffensive der USA widerstandslos öffnen, sicherheitspolitisch mit Washington zusammenarbeiten und als Vorposten die Abwehr der Hungermigration übernehmen.

Die konservative Regierung Präsident Felipe Calderóns sieht im massierten Einsatz der Sicherheitskräfte und anderen Werkzeugen staatlicher Repression den Königsweg der Herrschaftssicherung gegen alle Arten des Aufbegehrens, die den Bestand der Eliten gefährden könnten. Ähnlich wie der scheidende kolumbianische Staatschef Alvaro Uribe sucht er den Schulterschluß mit den USA, deren militärische Stärke ihm der beste Garant eines erfolgreichen Feldzugs zu sein scheint.

Im internationalen Kontext ist der Drogenhandel ein Phänomen, zu dessen Verlauf militärische Konflikte und geheimdienstliche Operationen maßgeblich beitragen. Durchaus vergleichbar dem sogenannten Terrorismus werden bestimmte Volksgruppen, Fraktionen oder Tendenzen finanziert, die Handlangerdienste für westliche Mächte übernehmen, wobei die Gelder häufig aus der großen schwarzen Kasse des Drogengeschäfts stammen. Zugleich liefert der fiktive "Antidrogenkrieg" den Vorwand für eine Intervention, für die wie im Falle Kolumbiens und Mexikos milliardenschwere Rüstungshilfe Washingtons aufgeboten wird. Und nicht zuletzt handelt es sich beim Drogenhandel insofern um ein Armutsproblem, als dieser Erwerbszweig für zahllose Menschen die einzig einträgliche Erwerbsquelle darstellt.

Nicht von ungefähr erinnert der mexikanische Drogenkrieg fatal an die Waffengänge in Afghanistan und dem Irak. Auch die Führung Mexikos täuscht im Verbund mit Washington einen Konflikt vor, der die eigentlichen Kriegsgründe verschleiert und ausblendet. Nicht die Umlastung der weltweiten kapitalistischen Systemkrise auf die Bevölkerung, deren wachsende Verelendung und die daraus resultierende Hungerrevolte steht auf der Tagesordnung, sondern die Identifizierung des Feindes in Gestalt der Kartelle und deren Niederwerfung mit repressivsten Mitteln. Daß der Sieg dieser interventionistischen Kampagne in Mexiko ebenso fern ist wie in Afghanistan, hat nicht nur militärische Gründe. Das Scheitern in den Augen der Öffentlichkeit hängt in hohem Maße damit zusammen, daß sich diese über die eigentlichen Kriegsziele bereitwillig täuschen läßt.

Wer ohne nennenswerte Einwände begrüßt, daß 50.000 Soldaten im eigenen Land eingesetzt werden, unterwirft sich wohl oder übel der Doktrin einer fatalen Sicherheitsarchitektur, die Mexiko weitreichend verändert. Es werden Zwangsläufigkeiten geschaffen, die den Charakter einer unumkehrbaren Entwicklung anzunehmen scheinen, die zu beenden mit einer nicht hinzunehmenden Niederlage auf ganzer Linie gleichgesetzt wird. So betreibt man die Eskalation des Krieges unter der absurden Maxime, daß er nur auf diese Weise beendet werden könne.

Dem mexikanischen Drogenkrieg sind seit dem Amtsantritt Präsident Felipe Calderóns im Dezember 2006 fast 25.000 Menschen zum Opfer gefallen. Nach Angaben des Justizministeriums starben seit Jahresanfang bereits mehr als 7.000 Menschen in diesem Konflikt, wobei die Staatsanwaltschaft davon ausgeht, daß der bisherige Höchststand von 9.000 Opfern im Jahr 2009 in diesem Jahr deutlich übertroffen wird. Wenn wie kürzlich in Nuevo Laredo an der Grenze zum US-Bundesstaat Texas bei Schießereien zwischen mexikanischen Soldaten und mutmaßlichen Bandenmitgliedern zwölf Menschen getötet und 21 Zivilisten verletzt werden, geht dies fast schon als Normalität des Krieges in die abgestumpfte Berichterstattung ein. [1]

Selbst als im Norden Mexikos neulich 17 Partygäste von Unbekannten erschossen wurden, war das kein Novum in der Geschichte dieses Krieges. Das Massaker in der Stadt Torreón erinnerte vielmehr an einen im Januar durchgeführten Überfall in Ciudad Juarez, wo von einer Drogengang angeheuerte Auftragsmörder eine Party von Schülern und Studenten angegriffen und 15 junge Menschen töteten. [2]

Neu ist jedoch in diesem entufernden Konflikt, daß mutmaßliche Mitglieder einer Drogenbande vor wenigen Tagen erstmals eine Autobombe gezündet haben. Bei der Detonation des Sprengsatzes in Ciudad Juarez starben zwei Polizisten, ein Arzt und ein Sanitäter, elf weitere Menschen trugen Verletzungen davon. Am Tatort wurden Überreste von mindestens zehn Kilogramm Sprengstoff und Reste eines Mobiltelefons gefunden. Offenbar stellten die Täter den Sicherheitskräften eine Falle, da sich die Opfer um einen vermeintlich Verwundeten in Polizeiuniform kümmern wollten, als die Bombe explodierte. [3]

Um feindliche Banden und Sicherheitskräfte einzuschüchtern, greifen die Täter zu immer brutaleren Mitteln. Massaker, abgeschlagene Köpfe, an Brücken aufgehängte Gegner, Massengräber in alten Bergwerksschächten und viele andere Greuel gehören längst zum Repertoire der Kartelle. Auch der Einsatz immer schwererer Waffen bis hin zu Granatwerfern, Panzerfäusten und Maschinengewehren ist nicht ungewöhnlich. Dennoch zeichnet sich mit dem Bombenanschlag der Übergang zu einer Kriegsführung ab, die gezielt zivile Opfer in Kauf nimmt. Schon in der Vergangenheit starben zahlreiche Unbeteiligte, die in einen Schußwechsel gerieten, als lästige Zeugen beseitigt oder mit anderen verwechselt wurden. Auch wurden zahlreiche Anschläge auf bestimmte Personen wie Bürgermeister, Richter, Polizeichefs oder Journalisten verübt. Als in einem Fall jedoch unbekannte Täter zwei Handgranaten in eine Menschenmenge warfen, distanzierte sich sogar ein örtliches Kartell von dieser Tat.

Wie in jedem Krieg, der nicht frühzeitig beendet wird, brechen früher oder später alle Dämme, zumal die Akteure gute Gründe haben, ihr eigenes Leben ohne Rücksicht auf andere zu schützen und an den Feinden blutige Rache zu nehmen. Galt die mexikanische Polizei seit jeher als korrupt und mit den Kartellen im Bunde, so unterscheiden sich die zunächst als weiße Ritter gefeierten Soldaten kaum noch von den anderen Sicherheitskräften. Es war nur eine Frage der Zeit, bis auch sie durch Bedrohung, Verlockung oder die Brutalität der Auseinandersetzung bestechlich und heimtückisch wurden, Unbeteiligte drangsalierten, folterten und wahllos töteten. Als die Armee infiziert war, schickte man Einheiten der Marine, die als sauber galten - bis auch sie begannen, vor allem die eigene Haut zu retten und wo immer möglich in die eigene Tasche zu wirtschaften.

Nach dem Bombenanschlag war einmal mehr von einer "Kolumbianisierung" des Konflikts die Rede, wobei Mexiko sein südamerikanisches Pendant längst in Hinblick auf Entführungen, Todesdrohungen, Pressezensur und diverse bereits erwähnte Untaten in den Schatten stellt. Bislang hielten Regierung und Medien verbissen den Eindruck aufrecht, es handle sich trotz allem um eine Auseinandersetzung zwischen staatlichen Sicherheitskräften und Verbrecherbanden, nicht jedoch um eine Art Bürgerkrieg. Explodierende Autobomben erinnern die Bürger jedoch so fatal an Afghanistan und den Irak, daß nicht nur im äußeren Verlauf der Eskalation, sondern auch in deren Wahrnehmung durch die Bevölkerung eine weitere Schwelle überschritten wird.

Um diesen Eindruck zu entkräften, hob Justizminister Arturo Chavez ausdrücklich hervor, daß man nirgendwo im Land auch nur das geringste Anzeichen von "Narco-Terrorismus" entdeckt habe. Beim Gegner handle es sich um reine Verbrecherbanden ohne politische Ambitionen. Selbst als Anfang Juli der aussichtsreichste Bewerber um das Amt des Gouverneurs im Bundesstaat Tamaulipas, Rodolfo Torre Cantu, einem Mordanschlag zum Opfer fiel, war man peinlich bemüht, dies ausschließlich in den Kontext von Einschüchterung und Rache des Drogenmilieus zu stellen.

Obgleich man in diesem Konflikt auf den ersten Blick kaum noch schlafende Hunde vermuten würde, die besser nicht zu wecken der mexikanische Staat bemüht sein könnte, ist das Gegenteil der Fall. Die Regierung Calderón hat Geister gerufen, die sie nicht mehr los wird, und muß nun befürchten, daß ihr Kontrollverlust nicht mehr zu verschleiern ist. Inzwischen macht sich selbst die US-Politik Sorgen, ob die 1,6 Milliarden Dollar der Merida-Initiative effektiv eingesetzt werden. Der Rechnungsprüfungshof kommt jedenfalls zu dem Schluß, daß es an angemessenen Kontrollmöglichkeiten fehlt, um die Wirkung dieser Hilfsgelder für die mexikanischen Sicherheitskräfte zu evaluieren. [4]

Allerdings räumt man ein, daß Fortschritte im Drogenkrieg grundsätzlich schwer zu bemessen seien. Die Menge konfiszierter Drogen oder die Zahl inhaftierter Bandenmitglieder sagt wenig über Erfolg oder Mißerfolg aus, solange die Relation zum Gesamtumfang des Phänomens im Dunkeln bleibt. Zwar behauptet die mexikanische Regierung stets, die eskalierende Gewalt zeuge von der Schwäche und Verzweiflung der Kartelle, die durch die Sicherheitskräfte in die Enge getrieben würden, doch hat man ähnliches Wunschdenken auch schon aus Afghanistan gehört.

Anmerkungen:

[1] Über 7000 Tote im Drogenkrieg in Mexiko in diesem Jahr (17.07.10)
NZZ Online

[2] 17 Partygäste in Mexiko erschossen. 60 Menschen am Wochenende durch Gewalttaten gestorben (19.07.10)
NZZ Online

[3] Mexico car bomb: 'Colombianization' of Mexico nearly complete (18.07.10)
New York Times

[4] Report Says U.S. Fails to Assess Drug Aid to Mexico (18.07.10)
New York Times

24. Juli 2010