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LATEINAMERIKA/2426: Kontroverse um Betancourts Dschungelmemoiren (SB)


Frühere Mitgefangene bestreiten Version der prominenten Autorin


Die frühere Präsidentschaftskandidatin und prominenteste Gefangene in Händen der kolumbianischen Guerillaorganisation FARC, Ingrid Betancourt, hat unter dem einem Gedicht Pablo Nerudas entlehnten Titel "Kein Schweigen, das nicht endet" ihre Memoiren in sechs Sprachen und vierzehn Ländern veröffentlicht. Auf über 700 Seiten beschreibt sie ihre sechsjährige Gefangenschaft in verschiedenen Dschungellagern der Rebellen, um "dem Ganzen einen Sinn, diesen sechs Jahren eine Bedeutung" zu geben, wie sie in einem Interview mit dem "Spiegel" sagte. Nach ihrer Befreiung müsse sie ihr Leben erst noch ordnen, so die 48jährige Franko-Kolumbianerin, die abwechselnd bei ihrem Sohn in Paris und ihrer Tochter in New York lebt. Sie kämpfe mit allen Mitteln darum, ein glücklicher Mensch zu werden. [1] Darüber hinaus hoffe sie, daß ihr Buch auch den Rebellen selbst die Augen öffne und sie verstehen lasse, welchen Horror sie ihren Geiseln und dem gesamten Land bereiteten. [2]

Noch bevor das Buch offiziell vorgestellt wurde, hatte es bereits heftige Kontroversen ausgelöst. Clara Rojas, die 2002 Wahlkampfhelferin Betancourts gewesen und gemeinsam mit ihr entführt worden war, wirft der prominenten Exgefangenen "Lügen und Gemeinheiten" vor. Wie Rojas in einem Radiointerview erklärte, sei es frei erfunden, daß sie die Rebellen um Erlaubnis gebeten habe, in der Geiselhaft ein Kind auszutragen. "Wie kann sie es wagen, so etwas zu unterstellen, wenn sie keine Beweise hat? Das ist infam." Clara Rojas hatte in der Geiselhaft von einem Guerillero ein Kind bekommen. Der Junge war von den Rebellen im Alter von acht Monaten in ein Kinderheim nach Bogotá gebracht worden. Ihr Kind sei aus einer Liaison mit einem Aufpasser entstanden, auf die Ingrid immer neidisch gewesen sei, so Rojas. "Jahre sind seit der Befreiung vergangen, und sie ist nicht einmal imstande gewesen, mich anzurufen. Warum ruft sie mich nicht an, wenn sie Zweifel hat?", fragte Rojas.

Aus Sicht Betancourts stellt sich ihr damaliges Verhältnis hingegen so dar: "Ich war im Fluchtmodus, Clara war im Anpassungsmodus. Ich wollte zu meinen Kindern, sie wollte überleben und nichts riskieren." Sie habe gezögert, davon zu erzählen, sagte Betancourt über einen Brief, den Rojas angeblich wegen ihres Kinderwunsches an die FARC-Kommandanten schrieb. "Ich verstand, daß sie sich durch die Geiselnahme um etwas beraubt fühlte, was in ihren Augen das Wichtigste war: das Recht, Mutter zu sein", sagte Betancourt in einem Interview mit der französischen Tageszeitung "Libération".

Ingrid Betancourt hatte ein halbes Jahr nach ihrer Befreiung aus der Hand der Guerilla Anfang 2009 die Scheidung von ihrem Ehemann Juan Carlos Lecompte beantragt, die noch nicht vollzogen ist. Nun hat Lecompte nach Angaben der Zeitung "Le Parisien", die sich dabei auf den Anwalt des Mannes beruft, die Beschlagnahme ihres Vermögens beantragt. Dabei gehe es sowohl um Immobilien im Ausland als auch um Fonds, die an Verträge mit Verlagen geknüpft seien. Ihr Mann hatte die Geschichte des Paares im Januar in Buchform veröffentlicht. [3] Da Betancourts Memoiren in mehreren Sprachen erscheinen und zum Bestseller werden könnten, streitet ihr Noch-Ehemann im Zuge der Scheidung um die Hälfte der daraus resultierenden Einkünfte.

Betancourt schildert in dem Buch das Lagerleben, die Erniedrigungen, die gescheiterten Fluchtversuche, das Verhalten der Aufseher und das schwierige Verhältnis der Gefangenen untereinander. Sie gibt sich durchaus selbstkritisch und berichtet, sie habe durch das Schreiben ihres Buches auch gelernt, sich selbst zu verzeihen: "Weil ich nicht die Heldin war, die ich so gerne gewesen wäre." Sie habe auf vieles falsch reagiert und viel zu lange gebraucht, bis sie Mitgefühl für die anderen entwickeln konnte und weniger hart in ihrem Urteil war. Ihr Verhalten habe die anderen verärgert. Auch habe die anderen Gefangenen verletzt, daß in der Öffentlichkeit nur Ingrid Betancourt als Geisel wahrgenommen worden sei. Es sei die Absicht der Rebellen gewesen, Zwietracht zu säen und Konflikte zu schüren, damit keine Solidarität in der Gruppe der Gefangenen aufkam.

Nach ihrer Befreiung war Betancourt wie eine Heldin gefeiert worden, doch später kam in zunehmendem Maße auch Kritik an ihr auf. Ehemalige Mitgefangene warfen ihr Arroganz vor, und in Kolumbien registrierte man mit zunehmendem Befremden, daß sie nur noch zu sporadischen Besuchen ins Land zurückkehrte. Die Skepsis schlug in eine Woge der Empörung um, als sie im Juli 2009 den kolumbianischen Staat auf eine Entschädigung in Höhe von 6,8 Millionen Dollar verklagte, diese Forderung aber wenige Tage später unter Tränen zurückzog, als Kritik und Häme über sie hereinbrachen. Niemand werde ihr Buch kaufen und ihr auch noch die Taschen füllen, hieß es zuletzt vielfach in Kolumbien. Indessen mehren sich bereits Stimmen, die den Stil der Biographie als gelungen loben, wobei man wohl ohnehin davon ausgehen kann, daß nichts den Verkauf besser fördert als eine öffentliche Kontroverse um Autorin und Inhalt. [4]

Schon Anfang 2009 zeichneten die Memoiren der drei US-amerikanischen Mitarbeiter des Militärdienstleisters Northrop Grumman, die zusammen mit Betancourt freigekommen waren, ein wenig schmeichelhaftes Bild ihrer unterdessen mit Ehrungen überhäuften ehemaligen Mitgefangenen Ingrid Betancourt, die bis dahin ganz allein die Ernte der Gefangenschaft und wundersamen Befreiung einzufahren schien. Der ehemalige Marineinfantrist und Mitautor der Memoiren "Out of Captivity", Keith Stansell, ließ kein gutes Haar am Verhalten der früheren Mitgefangenen. Wie die "New York Times" (27.02.09) berichtete, habe er genug von Betancourt und müsse erst einmal Abstand von diesen unerfreulichen Erlebnissen gewinnen. Die Mitverfasser Thomas Howes und Marc Gonsalves gingen auf jeweils unterschiedliche Weise in ihrer Kritik zwar nicht so weit, doch entwarfen die drei zusammen ein Bild, das gewaltig an der zum Heldenmythos verklärten Gefangenschaft Betancourts kratzte.

Wie alle drei behaupteten, habe Betancourt aktiv versucht, sich an die Spitze der Hierarchie unter den Gefangenen zu setzen, indem sie beispielsweise gebrauchte Kleidung gehortet, Badepläne festgelegt oder Informationen zurückgehalten habe, die sie in ihrem Transistorradio empfing. Dies ging angeblich so weit, daß die Mitgefangenen drohten, den Wächtern von dem versteckten Radio zu erzählen, wenn sie nicht an den aufgefangenen Meldungen und Botschaften von draußen teilhaben dürften. Am mildesten urteilte noch Marc Gonsalves, der von einer herzlichen Freundschaft mit Ingrid Betancourt berichtete. Wenngleich man sich schließlich über Briefe zerstritten habe, die sie von ihm wiederhaben wollte, stehe er nach wie vor in Kontakt mit ihr. Er räumte aber ein, daß seine beiden Landsleute ein wesentlich schlechteres Verhältnis zu ihr gehabt hätten, was insbesondere für Stansell gegolten habe.

Keith Stansell bezeichnete Betancourt als arrogante Prinzessin, die der Ansicht gewesen sei, alles drehe sich nur um sie. Einige der von ihm erhobenen Vorwürfe konnten jedoch nicht verifiziert werden. Angeblich hatte ihm einer der Rebellen eröffnet, sie habe in einem Schreiben an ihre Wächter behauptet, die drei Amerikaner seien CIA-Agenten und müßten deshalb getrennt von ihr untergebracht werden. Wie er gegenüber der New York Times betonte, nehme er keine seiner Aussagen in dem Buch zurück. Er könne Ingrid Betancourt vergeben und sein Leben weiterführen, doch Respekt empfinde er für sie nicht.

Schon ein Jahr zuvor hatte der frühere Gefangene Luis Eladio Pérez, der Betancourt nahestand, eine Biographie herausgebracht, in der er von Spannungen unter den Geiseln berichtete. Er führte dieses Problem in erster Linie auf die Herkunft Ingrid Betancourts zurück, die als Tochter eines hochstehenden Diplomaten und ehemalige Schönheitskönigin gesellschaftlich über den anderen stand und deshalb beneidet wurde. Wie der frühere Abgeordnete in seinem Buch schrieb, drehten sich neunzig Prozent aller Medienberichte über Entführungen um sie, als existierten die übrigen Gefangenen überhaupt nicht.

Daß Ingrid Betancourt es verstand, ihr eigenes Schicksal überaus erfolgreich zu verwerten und zu vermarkten, unterstrichen zahlreiche Auszeichnungen, mit denen die prominente kolumbianisch-französische Exgefangene der Rebellen überhäuft wurde. Der französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy ernannte sie zum "Ritter der Ehrenlegion", man sprach ihr den mit 50.000 Euro dotierten spanischen Prinz-von-Asturien-Preis zu und die Organisation World Awards zeichnete sie in Wien als Frau des Jahres 2008 aus. Offenbar war nicht nur ihr Umfeld so sehr von der Bedeutung der Mission Betancourts überzeugt, daß man bereits eine Pressekonferenz organisiert hatte, um sich für die erwartete Verleihung des Friedensnobelpreises zu bedanken. Groß war die Enttäuschung und peinlich die voreilig arrangierte Siegesfeier, als der finnische Ex-Präsident Martti Ahtisaari damals das Rennen machte.

Ihre gesellschaftliche Position machte sie zu einer Projektionsfläche und Identifikationsfigur, was schließlich sogar einflußreiche Kreise dazu bewog, sich ihrer zu bedienen. Nach ihrer Befreiung hielt Alvaro Uribe persönlich mit ihr die erste Pressekonferenz ab, Nicolas Sarkozy schloß sie bei ihrer Ankunft in Frankreich in die Arme. Als Ingrid Betancourt damals in eine Uniformjacke der kolumbianischen Armee gekleidet mit dem Kriegsminister vor die Kamera trat und bekannte, sie sei nun eine Soldatin gegen die FARC, mochte man diese Äußerung der Aufregung und Erleichterung des Augenblicks zuschreiben. Letzten Endes faßte diese Aussage jedoch zusammen, worum es bei ihrer Befreiung ging. Wenngleich sie später manches zurücknahm, war doch nicht zu erkennen, daß ihr der Kontakt zu Machtmenschen vom Schlage Alvaro Uribes und Nicolas Sarkozys unangenehm wäre. Sich mit Uribe zu versöhnen, der mit seiner Ablehnung jedes Gefangenenaustauschs zu den Hauptverantwortlichen für ihre lange Geiselhaft gehörte, oder Sarkozy als treusorgenden Landesvater zu umarmen, konnte nur als klare Entscheidung interpretiert werden, sich auf die Seite der Sieger zu schlagen und die Rebellion zu verteufeln.

Anmerkungen:

[1] Ehemalige Farc-Geisel. Betancourt kämpft für ihre Wahrheit (21.09.10)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,718693,00.html

[2] Ingrid Betancourt. Streit um Memoiren der Ex-Geisel (21.09.10)
http://www.focus.de/politik/ausland/ingrid-betancourt-streit-um-memoiren-der-ex-geisel_aid_554406.html

[3] Betancourts Mann will Vermögen beschlagnahmen lassen (22.09.10)
http://www.greenpeace-magazin.de/index.php?id=55&tx_ttnews%5Btt_news%5D=88400&tx_ttnews%5BbackPid%5D=23&cHash=b238064dcd

[4] Will anyone in Colombia buy Ingrid Betancourt's new book? (21.09.10)
The Christian Science Monitor

23. September 2010