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LATEINAMERIKA/2432: Fingierte Bezichtigung - Venezuela droht Falle des Terrorverdikts (SB)


Chávez-Regierung dementiert Unterstützung von FARC und ETA


Die Gegner des venezolanischen Gesellschaftsentwurfs haben kaum ein Mittel unversucht gelassen, Präsident Hugo Chávez zu diskreditieren und zu stürzen, um auf diese Weise den Prozeß der inneren Umgestaltung und neu definierten Bündnispolitik für gescheitert zu erklären. Ein zentrales Instrument der Intervention stellt der Versuch dar, die venezolanische Regierung der Unterstützung für "terroristisch" erklärter Bestrebungen zu bezichtigen und auf diesem Wege Venezuela nicht nur zu isolieren, sondern mit Sanktionen zu belegen, die dann verschärft und als Vorstufen eines intendierten Angriffskriegs in Stellung gebracht werden können. An Beispielen dieser verhängnisvollen Strategie, das Opfer mit Hilfe immer neuer Auflagen und unerfüllbarer Forderungen in die Enge zu treiben, um es schließlich mit geballter Militärmacht in die Knie zu zwingen und mit einem Besatzungsregime zu überziehen, fehlt es bekanntlich nicht. Eine derartige Eskalation im Falle Venezuelas als abwegig oder undurchführbar auszuschließen, hieße den langfristigen und weitreichenden Charakter insbesondere US-amerikanischer Strategieentwürfe sträflich zu unterschätzen.

Vorwürfe, die venezolanische Regierung unterstütze heimlich die FARC-Guerilla im Nachbarland Kolumbien, wurden schon vor Jahren erhoben und zunächst auch von bürgerlichen Medien skeptisch kolportiert oder verworfen. Das änderte sich dramatisch, als Präsident Chávez dank seiner erfolgreichen Vermittlung im kolumbianischen Konflikt einen Durchbruch zu erzielen schien und dafür kurzfristig internationale Anerkennung erfuhr. Die von Washington, Brüssel und Bogotá mit dem Terrorverdikt belegten Rebellen als Verhandlungspartner in Friedensgesprächen zu akzeptieren, war für die Bush-Administration und ihren Bündnispartner Uribe ebenso ausgeschlossen wie eine Aufwertung ihres Intimfeinds in Caracas. Daher sabotierte man nicht nur die Vermittlung des venezolanischen Staatschefs, sondern brachte eine militärische und geheimdienstliche Offensive auf den Weg, welche die FARC erheblich schwächte, Chávez diskreditierte und jede Aussicht auf einen Friedensprozeß zerschlug.

Beim Angriff auf das Rebellenlager in Ecuador wurde mit Raúl Reyes der "Außenminister" und Verhandlungsführer der FARC gezielt getötet, um die entscheidende Verbindung der Guerilla nach außen und somit die Option eines Friedensabkommens zu zerstören. Zugleich wurde mit den angeblich erbeuteten Datenträgern eine Farce in die Welt gesetzt, die zwar von internationalen Experten bis hin zu Interpol bezweifelt oder bestritten wurde, jedoch von den meisten Medien bereitwillig aufgegriffen und heute wie ein Faktum wiedergekäut wird. Seither werden immer neue Bezichtigungen der FARC, europäischer Unterstützer sozialer und emanzipatorischer Bestrebungen in Kolumbien und insbesondere der venezolanischen Regierung damit begründet, man habe soeben diesbezügliche Hinweise auf den Laptops des Raúl Reyes entdeckt. So absurd diese Behauptungen sind, schmieden sie doch in ihrer steten Wiederholung das Bild weltweiter Verstrickungen und Angriffspläne der kolumbianischen Guerilla, was sie als Gruppierung des "internationalen Terrorismus" bezichtigt und folglich erlaubt, dessen angebliche Unterstützung als "Terrorhilfe" zu klassifizieren.

Nach durchaus vergleichbarem Muster wirft man der venezolanischen Regierung vor, sie unterstütze die baskische Untergrundorganisation ETA. Obgleich nicht nachvollziehbar ist, welchem beiderseitigen Zweck das dienen sollte, und mithin der Verdacht naheliegt, auch in diesem Fall würden Fakten verdreht, Spekulationen geschürt und unhaltbare Vorwurfslagen konstruiert, schnappt die Denkfalle "Terrorgefahr" zu. Akzeptiert man dieses nach dem proklamierten Ende des Kampfs der Systeme neu konstruierte Feindbild, nimmt man vermutlich für bare Münze, daß "Islamisten" in Südamerika ihr Unwesen treiben und selbst in Bolivien am Werk sind, wie dies in US-Kreisen behauptet wurde. Venezuela steckt nach dieser Denkweise allemal mit welchen "Terroristen" auch immer unter einer Decke, weil der Chávez-Regierung alles am Herzen liegt, was den Vereinigten Staaten schadet - warum also nicht auch mit der ETA. Wie das Beispiel der fiktiven Massenvernichtungswaffen im Irak dokumentiert, müssen die Urheber des Täuschungsmanövers dessen spätere Entlarvung nicht fürchten, sofern es nur unterdessen sein Werk getan hat.

Um der aktuellen Bezichtigung entgegenzutreten, hat nun das "Kollektiv baskischer Flüchtlinge in Venezuela" die venezolanische Regierung gegen die Vorwürfe spanischer Medien verteidigt, die Führung des südamerikanischen Landes unterstütze die ETA. Die Basken beklagen in ihrer Erklärung eine "Medienkampagne gegen die Bolivarische Republik Venezuela" und verwahren sich dagegen, daß ihre Situation von rechtsgerichteten Kräften in Spanien zur Diskreditierung ihres Gastlandes ausgenutzt wird. Sie bezweifeln insbesondere die Aussagen der beiden vermeintlichen ETA-Mitglieder Juan Carlos Besance und Xabier Atristain, wonach sie im Jahr 2008 in Venezuela eine militärische Ausbildung erhalten hätten. Da Folter zur üblichen Praxis in spanischen Polizeistationen gehöre, seien die von der Guardia Civil erpreßten Geständnisse ohne jeden Wert. Unterdessen hat auch die baskische Amnestiebewegung ein Dokument veröffentlicht, in dem Besance und Atristain die erlittene Folter in Polizeihaft detailliert schildern. Im Falle Atristains weigerte sich der Pflichtverteidiger angesichts des Zustands seines Mandanten, die Aussageerklärung zu unterzeichnen. [1]

Die venezolanische Regierung hat die in den spanischen Medien erhobenen Vorwürfe entschieden zurückgewiesen, scheint aber Wert auf gute Beziehungen zu Spanien zu legen. Möglicherweise ist man in Caracas angesichts der absehbaren Stoßrichtung der Bezichtigung auch bestrebt, das Terrorverdikt mit allen Mitteln vom Tisch zu bekommen und dafür auch Erklärungen abzugeben und Schritte einzuleiten, die man früher gemieden hätte. So dementierte die venezolanische Regierung nicht nur jede Verbindung zur ETA, sondern distanzierte sich auch "ohne Beschönigungen" von deren Aktionen. Präsident Chávez verlas im staatlichen Fernsehen eine Erklärung, in der es unter anderem hieß: "Ständig beschuldigen sie uns, Terroristen zu sein, Atombomben zu bauen und jetzt diese neue Farce." Es sei bedauerlich, daß "eine bestimmte spanische Presse und Parlamentarier, die der Franco-Diktatur nachtrauern", den Beschuldigungen "zweier blutrünstiger Verbrecher" so viel Aufmerksamkeit verliehen. Ziel der Kampagne sei es, die Beziehungen zwischen Caracas und Madrid zu beschädigen. [2]

Welche Konsequenzen die Haltung der Regierung für die baskische Exilgemeinde in Venezuela hat, ist noch nicht abzusehen. Der spanische Außenminister Miguel Angel Moratinos hatte dem venezolanischen Botschafter in Madrid "konkrete Aktionen" abverlangt, da das in Venezuela lebende ehemalige ETA-Mitglied Arturo Cubillas Fontán der mutmaßliche Kontaktmann von Besance und Atristain sei. Cubillas wurde 1989 durch ein Abkommen von Algerien nach Venezuela überführt, ist heute venezolanischer Staatsbürger und arbeitet für die Regierung. Er wurde bereits in der Vergangenheit bezichtigt, nach wie vor für die ETA aktiv zu sein und die Ausbildung ihrer Kämpfern in Venezuela zu organisieren. Nun hat die venezolanische Regierung Ermittlungen gegen ihn angekündigt und dies den spanischen Außenminister wissen lassen.

Selbst wenn man unterstellt, die von Besance und Atristain unter Folter gemachten Aussagen entsprächen der Wahrheit, wäre das für die venezolanische Regierung kein zwingender Grund, sich dazu zu äußern. Ihren Aussagen zufolge wurden sie in Venezuela nicht von den Streitkräften, sondern von zwei Basken an der Waffe ausgebildet. Reichte das für die Bezichtigung einer anderen Regierung aus, müßte Madrid unablässig Breitseiten gegen Frankreich abfeuern, weil dort die Kommandos der ETA ausgebildet werden. Davon abgesehen sind in Frankreich Organisationen legal, die Spanien als Teile der ETA verboten hat und auf die EU-Terrorliste setzen ließ. [3]

Die Regierung in Caracas hätte also eine Reihe stichhaltiger Argumente, die Forderungen von spanischer Seite zurückzuweisen. Wie sich jedoch bei der Verfolgung der ETA in Europa abzeichnet, legt man ihr zunehmend Aktivitäten in anderen Ländern als Spanien zu Last, um den Vorwurf zu untermauern, es handle sich bei ihr um eine "internationale Terrororganisation". Möglicherweise zieht die venezolanische Regierung aus ihren Erfahrungen mit früheren derartigen Angriffen die Konsequenz, keinerlei Sympathie für die ETA erkennen zu lassen und dabei bis hinein in die Sprachregelung das Terrorverdikt gegen diese Organisation in keiner Weise zu bestreiten.

Ende der 1980er Jahre kam eine Reihe ehemaliger Mitglieder der baskischen ETA auf Grundlage eines Abkommens zwischen dem damaligen venezolanischen Präsidenten Carlos Andrés Pérez und dem spanischen Regierungspräsidenten Felipe González nach Venezuela. Dort erhielten sie dauerhaft Asyl und nahmen wie im Falle Cubillas' schließlich die Staatsbürgerschaft ihres Gastlandes an. Im März 2010 warf der spanische Ermittlungsrichter Eloy Velasco der Regierung Chávez vor, sie unterstütze die ETA. Er bezog sich dabei unter anderem auf Dokumente aus dem Computer, der angeblich dem FARC-Kommandeur Raúl Reyes gehört hatte. [4]

Wie es im Bericht Velascos hieß, arbeite die ETA bereits seit den 1980er Jahren mit der FARC zusammen. In Kuba und Venezuela hätten die beiden Organisationen seit 1993 Kenntnisse im Bombenbau, in der Anwendung von Boden-Luft-Raketen sowie der Kriegsführung in Stadt und Land ausgetauscht. Auch habe die FARC logistische Hilfe der ETA bei geplanten Anschlägen gegen hochrangige Politiker erbeten. Für die Vermittlung zwischen den beiden Gruppierungen habe Arturo Cubillas gesorgt. Im Jahr 2007 hätten Angehörige der venezolanischen Streitkräfte und Geheimdienste Mitglieder der ETA und FARC zu einem Ausbildungskurs in Bombenbau und urbaner Kriegsführung in den Dschungel nahe der Grenze zu Kolumbien eskortiert. Cubillas habe gemeinsam mit zwei hochrangigen Kommandanten der FARC daran teilgenommen.

Gegen Cubillas, der als Abteilungsleiter im Landwirtschaftsministerium tätig ist, wurde in Spanien niemals Anklage erhoben, geschweige denn seine Auslieferung gefordert. Seit Präsident Chávez regiert wird der Baske jedoch immer wieder als "Kopf des ETA-Kollektivs" bezichtigt. Chávez erklärte bereits im Frühjahr, seine Regierung unterstütze weder die baskische Untergrundorganisation ETA noch die kolumbianische FARC-Guerilla. Das venezolanische Außenministerium gab damals ein Kommuniqué heraus, in dem der Richterspruch der Real Audiencia Española als inakzeptabel und befangen zurückgewiesen wurde. Auch überrasche es, daß der spanische Richter die abgedroschene Farce des angeblichen Computers von Raúl Reyes wiederbelebt hat, die längst Teil der politischen Folklore Kolumbiens geworden sei.

Anmerkungen:

[1] Basken in Venezuela beklagen "Medienkampagne" (08.10.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/10/15228/baskische-fluechtlinge

[2] Venezuela dementiert. Chávez weist Vorwurf der ETA-Unterstützung zurück (06.10.10)
junge Welt

[3] Chávez weist Vorwürfe zurück. Madrid unterstellt Caracas Terrorkontakte (06.10.10)
Neues Deutschland

[4] Spanische Medien schwingen die ETA-Keule (05.10.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/10/15011/eta-venezuela

8. Oktober 2010