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LATEINAMERIKA/2434: Dilma Rousseff gewinnt Stichwahl in Brasilien (SB)


Lulas Wunschnachfolgerin wird erste Präsidentin des Landes


Dilma Vana Rousseff hat sich in der Stichwahl um das Präsidentenamt Brasiliens mit deutlichem Vorsprung gegen José Serra durchgesetzt und wird damit im Januar 2011 erste Staatschefin des südamerikanischen Schwellenlandes. Die 62 Jahre alte Wunschnachfolgerin des scheidenden Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva von der regierenden Arbeiterpartei (PT) erhielt 55,39 Prozent der abgegebenen Stimmen, während auf ihren Konkurrenten von der rechtssozialdemokratischen Partei PSDB 44,61 Prozent entfielen. Insgesamt waren 136 Millionen wahlberechtigte Brasilianer zur Stimmabgabe aufgerufen. Obwohl Wahlpflicht herrscht, blieben rund 21 Prozent der Abstimmung fern, wofür sie gute Gründe anführen müssen, da ihnen andernfalls eine Geldstrafe droht. Im ersten Wahlgang vor einem Monat hatte Rousseff knapp 47 Prozent der Stimmen erhalten, für Serra stimmten knapp 33 Prozent. Eine absolute Mehrheit Rousseffs machte die Grünen-Kandidatin Marina Silva zunichte, die überraschend auf 19 Prozent kam. Nach Violeta Chamorro in Nicaragua (1990-1996), Michelle Bachelet in Chile (2006-2010), Cristina Fernández de Kirchner in Argentinien (seit 2007) und Laura Chinchilla in Costa Rica (seit 2010) ist Dilma Rousseff die fünfte demokratisch gewählte Präsidentin Lateinamerikas.

Die Tochter bulgarischer Einwanderer gehört zur Generation der Kämpfer gegen die Militärdiktatur in Brasilien (1964-1985). Beeinflußt vom Marxismus und katholischen Aktivismus schloß sich Rousseff einer linken Guerillagruppe an und saß nach ihrer Verhaftung knapp drei Jahren im Gefängnis, wo sie gefoltert wurde. Nach ihrer Haftentlassung studierte sie Wirtschaftswissenschaften, ging in den Staatsdienst und unterstützte zunächst eine andere Partei, bis sie 2000 der erfolgreichen PT beitrat. Luiz Inácio Lula da Silva berief sie 2003 als Energieministerin in sein Kabinett und machte sie 2005 zur Kabinettschefin. Dilma Rousseff profilierte sich als Vertreterin eines pragmatischen Linkskurses, der eine investorenfreundliche Wirtschaftspolitik mit umfassenden Sozial- und Infrastrukturprogrammen verbindet. Sie gilt als wenig charismatische, aber überaus hartnäckige Technokratin, wobei ihr ein kompromißloser Führungsstil in den Medien bereits den Spitznamen "Eiserne Lady" einbrachte.

Bis zu ihrer Nominierung im Februar war sie der breiten Bevölkerung im größten Land Lateinamerikas weitgehend unbekannt. Lulas Wunschnachfolger war ursprünglich der ehemalige Wirtschaftsminister Antonio Palocci, dem jedoch ein Korruptionsskandal in seiner Heimatstadt den Weg in den Präsidentenpalast verbaute. Daraufhin hob der Staatschef, der nach zwei Amtszeiten nicht mehr kandidieren durfte, Dilma Rousseff auf den Schild und setzte sich mit aller Macht für sie ein, als hinge sein Schicksal davon ab. Das trifft insofern sogar zu, als sie sein politisches Erbe antreten soll und seine erneute Kandidatur in vier oder acht Jahren nicht auszuschließen ist.

Als Kabinettschefin war Rousseff zuständig für das Programm zur Beschleunigung des Wachstums (PAC), das insbesondere Großprojekte wie die Staudämme Belo Monte am Xingu-Fluß in Pará oder am Rio Madeira in Rondônia, das größte Stahlwerk Lateinamerikas, das ThyssenKrupp in Zusammenarbeit mit dem Bergbaukonzern Vale kürzlich fertiggestellt hat, oder die anstehende Ausbeute der gigantischen Erdölvorkommen vor der brasilianischen Küste im sogenannten Pré-Sal umfaßt. Während diese ambitionierten Vorhaben den Aufstieg des Landes zu einer bedeutenden Wirtschaftsmacht ankündigen, sind sie zwangsläufig bei sozialen Bewegungen, Indígenen und Umweltschützern äußerst umstritten, die immer wieder eine soziale Schieflage der Wirtschaftspolitik kritisiert haben. [1]

Andererseits erkennen auch die Basisbewegungen an, daß die Regierung Da Silvas mit der Erhöhung des Mindestlohnes, mit Arbeits- und Gewerkschaftsrechten oder in den Bereichen der Sozialpolitik mit ihrem Familienstipendium oder dem sozialen Hausprogramm bedeutende Erfolge erzielt hat. Dies waren Gründe, sich bei der Wahl für Dilma Rousseff auszusprechen, zumal José Serra als Vertreter einer neoliberalen Politik gilt. Die Kontroverse der sozialen Bewegungen mit der Arbeiterpartei wird indessen auch künftig zu führen sein, zumal die vermeintliche Befriedung der gesellschaftlichen Widersprüche durch den "Lulaismus" nur befristet greifen kann.

Nach Schließung der Wahllokale versammelten sich die Anhänger der Regierung zu Tausenden in der Metropole Sao Paulo und in der Hauptstadt Brasília im Landesinneren, um den Sieg Dilma Rousseffs zu feiern. Die Straßen verwandelten sich in ein Meer aus den roten Fahnen der Arbeiterpartei und der Gewerkschaften, die deren Basis bilden. Bei der Siegesfeier überließ der politische Ziehvater seiner künftigen Nachfolgerin das Feld, da dies ihr Fest sei. Er beließ es bei einer kurzen Stellungnahme während seiner Stimmabgabe: "Brasilien muß diesen außergewöhnlichen Moment weiterleben, den es gerade erlebt - einen Moment des Wachstums, einen Moment, den ich fast als magisch bezeichnen würde." Für ihn bleibe nur zu hoffen, daß seine Nachfolgerin mehr machen werde als er selbst: mehr Schulen, mehr fürs Gesundheitssystem und mehr Arbeitsplätze. [2]

Die Wahlsiegerin trat in einem Hotel in Brasília vor die Presse und erklärte wie üblich bei einer derartigen Gelegenheit, sie wolle die Präsidentin aller Brasilianer sein. In einer ersten Reaktion dankte sie ihren Landsleuten und versprach, ihr Vertrauen nicht zu enttäuschen. Sie werde den Kurs ihres Vorgängers fortsetzen und das Land zu weiterem Wirtschaftswachstum führen. Dazu zähle aber auch der Kampf gegen Armut, für Demokratie und Menschenrechte. Lulas Nachfolge anzutreten, sei eine schwierige Aufgabe, und sie werde "häufig an seiner Tür klopfen". Rousseff kündigte Reformen im Steuersystem und in der Verwaltung an. Gleich zweimal betonte sie in ihrer ersten Rede als gewähltes Staatsoberhaupt, wie wichtig ihr die Meinungsfreiheit sei: "Der Lärm der Presse ist mir lieber als das Schweigen der Diktatur!" [3]

Für José Serra, der 2002 in der Stichwahl an Lula gescheitert war, endete somit auch der zweite Anlauf aufs Präsidentenamt mit einem Mißerfolg. Er räumte seine Niederlage ein, signalisierte aber zugleich, daß die Opposition der neuen Staats- und Regierungschefin stärker als ihrem Vorgänger auf die Finger schauen will. Unter Lula hatten die Konservativen direkte Konfrontationen tunlichst vermieden. Nun kündigte Oppositionschef Aecio Neves an, er werde die Wünsche der Wirtschaft aufnehmen und eine ganze Reihe von Gesetzesreformen vorschlagen, um die Regierung vor sich herzutreiben. Brasilien sei reif genug für eine neue Haltung. "Wir sind natürlich zu Verhandlungen bereit, aber wir können nicht zulassen, daß die Regierung alles einfach beschließt, als ob wir eine Monarchie wären." [4]

Im Jahr 1994 hatte der Sozialdemokrat Fernando Henrique Cardoso mit der neuen Währung Real sowie einem umfassenden wirtschafts- und finanzpolitischen Reformpaket den Grundstein gelegt, um die von Schuldenlast und Hyperinflation heimgesuchte Nation zu stabilisieren. Lula führte diese Politik fort und ergänzte sie um längst überfällige Sozialreformen, worauf sich die Taschen der Eliten überproportional füllten und die Armen nicht leer ausgingen. Letzteres war in Brasilien so beispiellos, daß der Präsident nicht nur in Wirtschaftskreisen sehr geschätzt, sondern zugleich in weiten Teilen der Bevölkerung geradezu verehrt wird. Am Ende seiner achtjährigen Amtszeit verzeichnet er Zustimmungsraten von über 80 Prozent. [5]

Unter seiner Führung stieg Brasilien zur achtgrößten Volkswirtschaft der Welt auf, 29 Millionen Menschen fanden nach offizieller Lesart aus der Armut, die Arbeitslosigkeit ging zurück und das Land hält sich selbst angesichts der globalen Systemkrise des Kapitalismus bislang erstaunlich gut. Die brasilianische Wirtschaft wächst in diesem Jahr voraussichtlich um acht Prozent und außenpolitisch hat sich die lateinamerikanische Führungsmacht neben China und Indien als eines der wichtigsten Schwellenländer positioniert, das beträchtlichen Einfluß auf die Entscheidungen der G20-Gruppe nimmt.

Zu den vordringlichsten Aufgaben seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff wird es gehören, die negativen Begleiterscheinungen des Wirtschaftsbooms unter Kontrolle zu bringen. Angelockt vom rasanten Wachstum unter stabilen Rahmenbedingungen fließen Devisen und Spekulationskapital ins Land, wodurch der Dollar dramatisch gefallen, der Kurs des Real unaufhörlich gestiegen ist. Das ist auf Dauer Gift für die Exportwirtschaft, weshalb die Regierung die Steuern auf ausländische Anlagen in Brasilien erhöht hat, was den Devisenzufluß freilich bislang nicht dämpfen konnte. Rousseff warnte denn auch in ihrer ersten Rede vor den Folgen eines Währungskriegs. Sie wird Lula vermutlich auf einer geplanten Auslandsreise nach Mosambik begleiten und anschließend zum G20-Gipfel Mitte November nach Südkorea fahren. Dort will sich der scheidende Präsident offiziell verabschieden und seine Nachfolgerin vorstellen, die er persönlich in die internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik einführt. Spekulationen brasilianischer Medien, er könnte Rousseff fortan als inoffizieller Berater unterstützen, wies der 65jährige mit den Worten zurück, ein ehemaliger Präsident könne sich nicht an einer Regierung beteiligen.

Als Wirtschaftsminister oder Kabinettschef wird der künftigen Präsidentin Antonio Palocci zur Seite stehen, der die Kontinuität des eingeschlagenen wirtschaftspolitischen Kurses garantiert. Außenpolitisch steht sie Lulas Strategieminister Samuel Pinheiro Guimaroes nahe, der die Leitlinien der amtierenden Führung mitgeprägt hat. Die Beziehungen Brasiliens zu den USA und Europa haben schon unter Lula an Bedeutung verloren, während der Verständigung mit China, Iran, Indien und anderen Schwellenländern wie auch der Integration Südamerikas Vorrang eingeräumt wurde. Wie Dilma Rousseff dazu erklärte, sei von Europa und den USA wirtschaftlich und politisch in den kommenden Jahren wenig zu erwarten. Ihr Land werde sich auf seine eigenen Kräfte und Stärken besinnen müssen. "Aber Brasilien wird sich nicht isolieren, sondern weiter der Welt öffnen", kündigte sie die Fortsetzung einer Außenpolitik an, die sich einer multipolaren Welt mit veränderten Schwerpunkten verschrieben hat.

Siehe auch:

LATEINAMERIKA/2431: "Lulaismus" oder der lange Marsch durch die Institutionen (SB)

Anmerkungen:

[1] Erstmals Frau an Brasiliens Spitze. Dilma Rousseff hat die Stichwahl in Brasilien gegen den rechten Herausforderer José Serra deutlich gewonnen (01.11.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/11/16420/roussef-brasilien

[2] Stichwahl um Lula-Nachfolge. Brasilien entscheidet sich erstmals für eine Präsidentin (01.11.10)
http://www.tagesschau.de/ausland/brasilienwahl104.html

[3] Stichwahl. Dilma Rousseff wird Brasiliens erste Präsidentin (01.11.10)
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-11/roussef-brasilien-stichwahl

[4] Brasilien wird erstmals von einer Frau geführt (01.11.10)
http://de.reuters.com/article/worldNews/idDEBEE6A000S20101101

[5] Neue Präsidentin. Rousseff will Brasiliens Wunderwirtschaft stärken (01.11.10)
http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,726386,00.html

1. November 2010