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MEDIEN/456: US-Gericht will BBC-Sendematerial über Arafat haben (SB)


US-Gericht will BBC-Sendematerial über Arafat haben

Journalistisches Privileg in New York auf dem Prüfstand



Bekanntlich endet der Geltungsanspruch der amerikanischen Justizbehörden nicht an den Landesgrenzen der USA. Das hängt unter anderem damit zusammen, daß der Washingtoner Kongreß die US-Gesetze immer wieder als politische Waffe einsetzt - siehe das jahrzehntelange Handelsembargo gegen Fidel Castros Kuba oder die wirtschaftlichen Sanktionen gegen den Iran, um Teheran im sogenannten "Atomstreit" zur Kapitulation zu zwingen. Inzwischen ist fast an jeder Botschaft der USA im Ausland auch FBI-Personal stationiert. Weil ihnen in den USA die üppigsten Entschädigungszahlungen winken, versuchen einige Ausländer schon bei kleinsten Anlässen die US-Gerichte anzurufen.

Unheimlich aktiv sind die US-Justizbehörden, wenn es darum geht, die Auslieferung ausländischer Verdächtiger, die gegen amerikanische Gesetze verstoßen haben könnten, zu erzwingen. Der Fall des aus Deutschland stammenden, in Neuseeland lebenden Kim Dotcom, Betreiber der Filesharing-Website Megaupload.com, ist hierfür momentan das prominenteste Beispiel. Man könnte in diesem Zusammenhang auch auf den Fall des Australiers Julian Assange, der sich aus Angst vor der Auslieferung von Großbritannien nach Schweden aufgrund eines aufgebauschten Verdachts der sexuellen Belästigung in der ecuardorianischen Botschaft in London versteckt hält, verweisen, nur haben die USA offiziell bislang noch nicht zugegeben, daß sie dem Wikileaks-Gründer ans Leder wollen. Gleichwohl hat sich unbestätigten Meldungen zufolge eine hinter verschlossenen Türen tagende Grand Jury in Alexandria, Virginia, bereits für eine Anklageerhebung gegen Assange wegen der Verbreitung von vertraulichen US- Regierungsdokumenten ausgesprochen.

In Großbritannien wurde am 24. September über einen neuen und ungewöhnlichen Vorstoß der amerikanischen Justiz berichtet. Nach Informationen der in London erscheinenden Zeitung Independent wurde der staatlichen British Broadcasting Corporation (BBC) kürzlich von einem Gericht in New York eine Frist bis zum 1. Oktober gesetzt, um nicht-genutzes Interviewmaterial für eine Dokumentation über das Leben von Jassir Arafat, die vor rund zehn Jahren ausgestrahlt wurde, auszuhändigen. Hintergrund ist eine Klage von Überlebenden und Angehörigen der Todesopfer einer Welle von palästinensischen Selbstmordanschlägen, die in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts die Gegend in und um Jerusalem heimsuchte. Anhand des BBC-Materials hoffen die Kläger Hinweise darauf zu finden, daß die Palästinian Liberation Organisation (PLO) unter der Leitung ihres damaligen Chefs Arafat direkt für die Anschläge verantwortlich war. Sollte sich dies gerichtlich beweisen lassen, könnten die Kläger von der PLO Entschädigung zugesprochen bekommen.

Im Mittelpunkt des Interesses stehen die Interviews mit Ata Abu Rumaileh, dem Chef der Fatah, dem bewaffneten Arm der PLO in Dschenin, und Zakaria Zubaidi, dem Anführer der Al-Aksa-Brigaden in derselben Stadt im Westjordanland. Beide Männer sollen in der Sendung die Al-Aksa-Brigaden als Teil der Fatah und damit eine unter der Kontrolle Arafats stehende Kampftruppe identifiziert haben. Bis zu seinem mysteriösen Tod in Paris im Jahr 2004, der vermutlich durch eine Vergiftung mit dem radioaktiven Stoff Polonium durch den israelischen Geheimdienst Mossad herbeigeführt wurde, hatte der Friedensnobelpreisträger und Chef der palästinensischen Autonomie Behörde stets bestritten, daß die Al-Aksa Teil der PLO sei. Vermutlich weil die in der Sendung zu hörenden Äußerungen von Rumaileh und Zubaidi nicht eindeutig genug waren, soll die BBC nun das restliche Aufnahmematerial aushändigen, damit es nach Handfesterem im Sinne der Anklage geprüft werden kann.

Unabhängig davon, ob die BBC Einspruch einlegt oder das fragliche Material übergibt, deutet der Fall auf einen besorgniserregenden Trend in den USA hin. Nach Informationen von Independent-Chefkorrespondent Cahal Milmo verlangen US-Gerichte immer häufiger, daß Medienunternehmen - sowohl Sendeanstalten als auch Zeitungen - ihre Aufnahmen und Recherchematerialien für Prozesse offenlegen. Auf das journalistiche Privileg des Quellenschutzes wird offenbar immer weniger Rücksicht genommen.

Da es sich hier um ein ausgesprochenes Politikum handelt, ist nicht auszuschließen, daß die BBC der Forderung von Richter Ronald Ellis nachkommt, statt Einspruch zu erheben oder sie einfach zu ignorieren. Schließlich versucht derzeit auch das britische Justizministerium von einem Gericht in Massachusetts die Aushändigung einer Reihe von Interviews, die sich auf den früheren Bürgerkrieg in Nordirland beziehen und im Besitz des Boston College befinden, zu erwirken. Mit Hilfe des Materials hofft man, den Nachweis für eine Beteiligung des Anführers der irisch-republikanischen Partei Sinn Féin, Gerry Adams, an der Ermordung einer Frau namens Jean McConville im Jahr 1972 zu erbringen und ihn damit politisch kaltzustellen.

In den Interviews kommen bekannte frühere Paramilitärs aus Nordirland, sowohl von katholisch-nationalistischer als auch auf protestantisch-loyalistischer Seite, zu Wort. Doch weil ihnen zusagt worden ist, die Interviews dienten der Geschichtsforschung und würden erst nach ihrem Tod veröffentlicht werden, muß der ehemalige IRA-Kämpfer Anthony McIntyre, der die meisten Gespräche führte, nun um sein Leben fürchten. Derzeit versuchen er und Ed Moloney, Autor des vielgelobten Buchs "The Secret History of the IRA", die Übergabe der Boston-College-Tapes an den Police Service of Northern Ireland (PSNI) gerichtlich zu verhindern.

Eingedenk der übergeordneten Interessen Londons und Washingtons kann man sich vorstellen, daß die BBC Richter Ellis in New York entgegenkommt, und daß im Gegenzug das US-Außenministerium, das sich im Streit um die Verfügbarkeit der Boston-College-Aufnahmen gegen deren Aushändigung einsetzen könnte, worauf derzeit die irisch- amerikanische Gemeinde drängt, auf ein Veto verzichtet.

28. September 2012