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MILITÄR/899: Selbstmordrate bei US-Kriegsveteranen steigt (SB)


Selbstmordrate bei US-Kriegsveteranen steigt

Wie die US-Gesellschaft die Kriege in Übersee nach Hause holt


Am 11. November und damit in Erinnerung an das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 wird jedes Jahr in den USA der Veterans Day gefeiert. Ähnlich dem Volkstrauertag in Deutschland wird in Amerika derjenigen gedacht, die im Dienst der US-Streitkräfte gefallen sind. Dieses Jahr sind in der US-Presse am Veterans Day zwei und am 12. November ein Artikel erschienen, die deutlich machen, wie groß das Leid vieler heimkehrender US-Kriegsveteranen ist, die den Auslandseinsatz physisch heil überstanden haben. Das Grauen, das die Soldaten in Vietnam, in Afghanistan oder im Irak erlebten, kehrt mit ihnen in die US-Gesellschaft zurück und richtet dort weitere Zerstörung an.

Unter der Überschrift "Veterans Suicide has Caused More US Casualties Than Wars in Iraq and Afghanistan" berichtete am 11. November Bruce Newman für die San Jose Mercury News über die Selbstmordrate bei den US-Kriegsveteranen, die doppelt so hoch wie bei der übrigen Bevölkerung liegt und in den letzten Jahren auch noch ansteigt. Brachten sich 2010 18 Veteranen täglich um, so waren es 2014 22 pro Tag. Dies geht aus den jüngsten Studien hervor, die das Department of Veterans Affairs im Pentagon zu dem Phänomen erstellt hat. Angesichts der rund 100.000 Selbstmordfälle sind mehr US-Soldaten von eigener Hand aus dem Leben geschieden als im Ausland gefallen sind, seit US-Präsident George W. Bush am 11. September unter dem Eindruck der Flugzeuganschläge von New York und Arlington den Global War on Terror (GWoT) ausgerufen hat. In Afghanistan, wo Präsident Barack Obama vor wenigen Tagen den Abzug der letzten amerikanischen Streitkräfte bis auf weiteres ausgesetzt hat, sind bislang 2229 US-Militärangehörige gefallen. Im Irak, aus dem die letzten US-Kampftruppen Ende 2011 abgezogen wurden, wohin jedoch Obama 2014 Militärberater und Spezialstreitkräfte zum Kampf gegen die "Terrormiliz" Islamischer Staat erneut entsandte, sind es bisher 4488.

Viele Soldaten leiden unter Post-Traumatischer Belastungsstörung (PTBS). Sie kommen vom Krieg völlig verändert zurück, haben jede Lebensfreude verloren und kommen mit der regulären Zivilgesellschaft nur schwer zurecht. Nicht wenige männliche Soldaten, welche ihre Kriegserlebnisse nicht loswerden, bringen ihre Partnerinnen - und manchmal anschließend sich selbst - um oder laufen Amok und töten ihnen unbekannte Leute. Darum befinden sich derzeit 300 Kriegsveteranen in US-Gefängnissen im Todestrakt, wo sie auf ihre Hinrichtung durch die Justizbehörden warten. Inzwischen stellen die Ex-Soldaten ganze 10 Prozent aller in den USA zum Tode verurteilten Schwerverbrecher. Dies geht aus dem Artikel hervor, den Tracy Connor am 11. November unter der Überschrift "300 Veterans, Some With PTSD, Are On Death Row: Report" auf der Website der Nachrichtenredaktion des Fernsehsenders NBC veröffentlichte.

In dem beunruhigenden Artikel schildert Connor den traurigen Fall des Courtney Lockhart, der nach 16 Monaten Einsatz in der Rebellenhochburg Ramadi, Hauptstadt der mehrheitlich von Sunniten bewohnten irakischen Provinz Anbar, als menschliches Wrack zurückkam. Nach Angaben seiner früheren Verlobten trank Lockhart nach der Heimkehr viel, schlief nachts im Schrank und drohte immer wieder sie und/oder sich selbst zu erschießen. 2008 hat Lockhart die Universitätsstudentin Lauren Burk ausgeraubt, entführt und ermordet. Beim Prozeß im Bundesstaat Alabama fällte der zuständige Richter das Todesurteil, das bislang noch nicht vollstreckt wurde. Connor berichtet auch vom Fall des Vietnamkriegsveteranen Andrew Brannan, der bei einer Straßenkontrolle der Polizei durchdrehte. Nachdem er gebeten worden war, aus seinem Wagen auszusteigen, sprang Brannan auf der Straße hin und her und forderte die Polizisten dazu auf, ihn zu erschießen (was auf den Aufnahmen der Kamera des Polizeiautos zu sehen sein soll). Als dies nicht geschah, holte er ein Gewehr aus seinem Wagen und tötete einen 22jährigen Polizeibeamten mit neun Schüssen aus nächster Nähe. Brannan wurde deshalb Anfang 2015 vom Staat hingerichtet.

Von vielen der übrigen Kriegsveteranen, die weder sich noch jemand anderen umbringen, geht häufig dennoch eine Belastung für ihre Mitmenschen aus. Das läßt sich in dem Artikel nachlesen, den Tom Vanden Brook und Ray Locker unter der Überschrift "Study finds more child abuse in homes of returning vets" am 12. November auf der Website der Zeitung USA Today veröffentlichten. Brook und Locker beziehen sich auf die Ergebnisse einer größeren Studie, die das Children's Hospital of Philadelphia zwischen 2001 und 2007 bei den Familien von 112.000 Soldaten mit Kindern unter zwei Jahren durchgeführt hat. Die Autoren der Studien stellten bei den Familien der Kriegsveteranen überdurchschnittlich hohe Raten von Mißhandlung und Vernachlässigung der Kleinkinder fest. Überraschenderweise waren es häufig nicht die Ex-Soldaten selbst, welche den Kindern Leid zugefügt hatten, sondern die Mütter bzw. die Geschwister. Folglich führen die Kinderärzte die erhöhte Gefahr, welcher Säuglinge in solchen Familiensituationen offenbar ausgesetzt sind, auf den Streß zurück, den die Kriegsveteranen mit nach Hause nehmen und dem sie ihre Familien aussetzen.

14. November 2015


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