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MILITÄR/935: Diego Garcia - Grenzen der Gerechtigkeit ... (SB)


Diego Garcia - Grenzen der Gerechtigkeit ...


Vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag hat Großbritannien am 25. Februar eine herbe Niederlage erlitten. Mit dreizehn zu einer Stimme befand das Gericht, daß die Vertreibung des Volks der Ilois von den Chagos-Inseln im indischen Ozean und die Trennung des Archipels von Mauritius Mitte der sechziger Jahre völkerrechtlich "illegal" waren. Die Richter forderten die britischen Behörden auf, die Souveränität der Chagos-Inseln "so rasch wie möglich" an den Staat Mauritius als rechtmäßigen Besitzer abzutreten. In London denkt jedoch niemand daran, dem Beschluß des höchsten internationalen Gerichts Folge zu leisten, denn auf Diego Garcia, der größten der 55 Chagos-Inseln, betreiben die USA seit mehr als einem halben Jahrhundert einen für das Pentagon enorm wichtigen Militärstützpunkt, von wo aus 1991 und 2003 der Irak bombardiert wurde und Afghanistan seit 2001 angegriffen wird.

1968 hatte Großbritannien Mauritius in die Unabhängigkeit entlassen, jedoch bereits drei Jahre zuvor das dazugehörige, südlich der Malediven gelegene Chagos-Archipel ausgegliedert, worauf 1971 die Hauptinsel Diego Garcia im Rahmen eines Geheimabkommens für 50 Jahre an die USA verpachtet wurde. Der geplanten Verwandlung Diego Garcias in einen riesigen amerikanische Luftwaffen- und Marinestützpunkt standen die mehr als 1500 Chagos-Insulaner im Wege. Also erklärte London die dunkelhäutigen Ilois kurzerhand zum maritimen Nomadenvolk - als "Tarzans" wurden sie aktenkundig von rassistischen britischen Beamten bezeichnet -, das kein Aufenthaltsrecht auf den Inseln habe. Zwischen 1967 und 1972 wurden sie nach Port Louis, der Hauptstadt von Mauritius, zwangsumgesiedelt.

Im Jahr 2000 wiesen die noch lebenden Chagos-Insulaner und ihre Nachkommen vor dem High Court in London das ihnen angetane Unrecht der Vertreibung nach und erstritten ihr Recht auf Wiederansiedlung in der alten Heimat. Seitdem wehrt sich der britische Staat mit Händen und Füßen dagegen, dem Grundsatzurteil nachzukommen. Die Autoren mehrerer von London in Auftrag gegebener Machbarkeitsstudien vertraten die These, daß eine Neubesiedlung der Inselgruppe wirtschaftlich nicht zu vertreten sei. Unter Verweis auf die mehrere tausend amerikanischen Militärangehörigen und etwa hundert philippinischen Auftragsarbeiter, die seit Jahren für den Betrieb des US-Stützpunktes auf Diego Garcia sorgen, haben die Anwälte der Ilois diese Argument als fadenscheinig entlarvt.

Als die Ilois 2004 in Erwägung zogen, unter Berufung auf die britischen Anti-Diskriminierungsgesetze das Recht, für das US-Militär in Diego Garcia zu arbeiten, zu erstreiten, ließ die Regierung Tony Blairs kurzerhand das British Indian Ocean Territory (BIOT), so der offizielle Titel der Chagos-Inseln, von Elizabeth II. zum militärischen Sperrbezirk erklären, in dem keine Person "Wohnrecht hat oder das Recht auf ungehinderten Zugang zu irgendeinem Teil davon genießt". Zur Begründung des drakonischen Order-in-Council führte das Privy Council (Geheimer Staatsrat) im Namen Ihrer Königlichen Hoheit die "jüngsten Entwicklungen im internationalen Sicherheitsklima seit dem Urteil vom November 2000" ins Feld.

Damit waren natürlich die vermeintlichen Erfordernisse des nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 von den USA ausgerufenen "globalen Antiterrorkriegs" gemeint. Erwähnt wurden in diesem Zusammenhang weder die Tatsache, daß das Pentagon auf der größten Insel der Chagos-Gruppe neben Stützpunkten im Bundesstaat Missouri und im Überseeterritorium Guam im Pazifik die einzigen vollakklimatisierten Hangars für den milliardenteuren Tarnkappenbomber B2 betreibt, noch die zahlreichen Hinweise darauf, daß die CIA auf der Insel ein geheimes Foltergefängnis für mutmaßliche "Terroristen" à la Al Kaida unterhielt.

2007 hob der High Court in London die umstrittene königliche Anordnung als rechtlich nicht zulässig auf. Gegen dieses Urteil legte das britische Außenministerium Einspruch ein und bekam im Herbst 2008 von den Law Lords in einer Mehrheitsentscheidung von drei zu zwei Recht. Die höchste richterliche Instanz in England und Wales stimmte der These der britischen Regierung zu, wonach eine Heimkehr der Chagos-Insulaner - ausgeschlossen Diego Garcia - einen finanziell nicht zu vertretenden Aufwand und ein nicht hinnehmbares Sicherheitsrisiko für den Flugplatz, eine Schlüsselkomponente der Infrastruktur des US-Zentralkommandos (CENTCOM), darstellte. Des weiteren hieß es in dem Urteil, die Verpflichtungen der britischen Regierung gegenüber den Ilois seien 1982 erloschen, als London der Gruppe 650.000 Pfund Entschädigung zukommen ließ.

2010 erklärte die britische Regierung die Chagos-Inseln samt umliegender Gewässer zur Umweltsperrzone und stellte die gesamte Tier- und Pflanzenwelt des 210.000 Quadratkilometer großen BIOT unter besonderen Schutz. Während führende Umweltverbände und wissenschaftliche Institute, darunter die Royal Botanic Gardens at Kew, die Royal Society, die Royal Society for the Protection of Birds (RSPB) und Greenpeace UK den Schritt als ökologisch sinnvoll begrüßten, waren die Chagos-Insulaner entsetzt darüber, daß sie mit dem Holzhammerargument des Umweltschutzes für immer aus der früheren Heimat verbannt werden sollten.

2017 entschied die Vollversammlung der Vereinten Nationen in New York mit großer Mehrheit, den Internationalen Gerichtshof in der Streitfrage der Souveränität über die Chagos-Inseln anzurufen. Nach mehr als einem Jahr Beratung fällt nun das lediglich beratende, nicht bindende Urteil für Großbritannien vernichtend aus. In der Abtrennung des Archipels von Mauritius vor dessen Entlassung in die Unabhängigkeit sahen 13 der 14 Richter einen klaren Verstoß gegen UN-Resolution 1514 aus dem Jahr 1960, die eine Aufspaltung ehemaliger Kolonien bei der Entlassung in die Unabhängigkeit verbietet. Das Gericht erkannte die Beschwerde von Mauritius an, daß die damalige Abtretung der Chagos-Insel an die frühere Kolonialmacht "unter Zwang" erfolgt und kein freiwilliger Akt gewesen sei.

In einer ersten Stellungnahme zu der in geopolitischer wie auch menschen- und völkerrechtlicher Hinsicht heiklen Angelegenheit erklärte Alan Duncan, Staatssekretär im Außenministerium, am 26. Februar vor dem Unterhaus in London, die britische Regierung erkenne weder das Urteil noch die Zuständigkeit des Internationalen Gerichtshofs an. Auf seinem Blog unterzog am selben Tag der Menschenrechtler und ehemalige Diplomat Craig Murray die Haltung Londons gegenüber dem Urteil aus Den Haag als "erstaunliche Mißachtung" internationalen Rechts einer scharfen Kritik.

Murray, der 2004 wegen seines Protests gegen die Folter und Ermordung mutmaßlicher Regimegegner und "Terroristen" in Usbekistan als britischer Botschafter in Taschkent von der Blair-Regierung gefeuert wurde, stellte die Position der Regierung Theresa Mays im Fall der Chagos-Inseln in eine Linie mit der 2016 erfolgten Zurückweisung der Kritik der Working Group on Arbitrary Detention der UN-Menschenrechtskommission am unfreiwilligen "Hausarrest" Julian Assanges in der ecuadorischen Botschaft in London. Großbritannien entwickele sich ähnlich den USA allmählich zu einem Staat, der sich nur an internationales Recht gebunden fühle, solange es ihm passe, so Murray.

26. Februar 2019


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