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NAHOST/970: Gazastreifen im israelisch-ägyptischen Zangengriff (SB)


Gemeinsame Offensive gegen die Tunnelversorgung der Palästinenser


Vor ihren jüngsten Luftangriffen auf palästinensische Tunnel nach Ägypten warfen israelische Flugzeuge Tausende Flugblätter über dem Gazastreifen ab, in denen die Bevölkerung in arabischer Sprache aufgefordert wurde, mindestens 300 Meter Abstand zu der Grenze zu Israel zu halten. "Wer der Grenze näherkommt, wird in Gefahr sein", stand auf den Blättern zu lesen. Ignoranten oder Zyniker mögen der Beteuerung Glauben schenken, es handle sich dabei um nicht mehr oder weniger als eine ernstgemeinte Warnung zum Schutz der Bevölkerung im unmittelbaren Vorfeld einer militärischen Operation. Ebensogut könnte man Gefängnisinsassen warnen, ihr weiterer Aufenthalt in der Haftanstalt erfolge auf eigene Gefahr, oder Hungernden dringend davon abraten, sich mit dem Notdürftigsten am Leben zu halten, weil sie dabei zu Tode kommen könnten.

Sterben mußten weitere Palästinenser, als die israelische Luftwaffe in der Nacht zum Freitag mehrere Ziele im Gazastreifen angriff. Wie es hieß, seien mindestens drei Menschen getötet worden, darunter auch ein Kind, während mindestens ein weiterer Mensch verletzt worden sei. Angaben der israelischen Armee zufolge wurden insgesamt vier Ziele angegriffen, nämlich zwei Tunnel in Rafah, ein weiterer Tunnel im mittleren Gazastreifen sowie eine Metallwerkstatt in Gaza. Militante Palästinenser hätten versucht, einen rund einen Kilometer langen Tunnel in Richtung des Grenzzaunes zu graben. [1]

Auch wenn man die Kriegspropaganda so oft gehört hat, daß einem ihr Sprachgebrauch wie beabsichtigt in Fleisch und Blut übergegangen ist, sollte man sich weigern, Begriffe wie "Schmuggeltunnel" oder "Waffenwerkstätten" in den Mund und die Feder zu nehmen. "Schmuggel" assoziiert eine illegale Aktivität, welche der israelischen Armee das Recht gibt, dagegen einzuschreiten. In dieselbe Kerbe einer groben Verzerrung der Realität schlägt die Behauptung, die unterirdische Verbindung müsse deswegen unterbrochen werden, weil durch sie zu erheblichen Teilen Waffen und Geld für die fortgesetzte Kriegsführung transportiert würden. Ebenso fragwürdig ist die Standarderklärung, man bombardiere Einrichtungen der Infrastruktur, weil darin Waffen hergestellt werden. Wenngleich das natürlich nicht in jedem Fall auszuschließen ist, stellt die Konstruktion einer gewissermaßen polizeilichen Aktion zur Verhinderung palästinensischer Umtriebe die Verhältnisse auf den Kopf.

Da die fünf offiziellen Grenzübergänge in Israel viel zu wenig Waren durchlassen, um ein menschenwürdiges Leben in dem verarmten Küstenstreifen zu führen, und überdies regelmäßig geschlossen werden, hängt das Überleben der Palästinenser im Gazastreifen voll und ganz von der Versorgung durch die Tunnel ab. Völkerrechtswidrig und allen humanitären Prinzipien spottend ist die Blockade von Gaza, während der Tunnelbau als Notwehr nicht verständlicher und gerechtfertigter sein könnte. Wie wenig präsent dieses Offensichtliche nach wie vor in der öffentlichen Diskussion ist, zeugt von der Dauer und Wucht israelischer Propaganda und deren bereitwilliger Kolportation in weiten Teilen der hiesigen Medienlandschaft.

Seit dem Massaker der israelischen Streitkräfte im Gazastreifen vor einem Jahr und den dort angerichteten Verwüstungen kam kein einziger Sack Zement mehr herein, auch keine Glasscheiben, Ersatzteile und vieles andere mehr. Zwölf Monate nach Ende der Kämpfe leben ausgebombte Familien noch immer bei eisiger Winterkälte in Zelten, andere hausen in drangvoller Enge bei Verwandten. Überall sieht man in den Straßen Plastikfolien in den Fensterrahmen. [2]

Fast alles, was die 1,5 Millionen Bewohner des Gazastreifens zum täglichen Leben brauchen, wird durch die Tunnel in das abgeriegelte Palästinensergebiet gebracht. In Rafah sei deswegen "ein kompletter Grenzübergang unter der Erde entstanden", erklärt Bürgermeister Issa al Nashar, der zu den Gründungsmitgliedern der Hamas gehört. Seinen Angaben zufolge verdienen hier 15.000 meist junge Menschen ihren Lebensunterhalt. Jeden Tag schleppen sie Güter im Wert von einer Million Dollar durch die unterirdischen Stollen.

Trotz der Blockade zu Land und zu See könnte Israel den Gazastreifen nicht abriegeln, fände es nicht im ägyptischen Regime einen bereitwilligen Kollaborateur, das sich seit 2006 offiziell an der Sperrung beteiligt. Als Anfang 2008 an einem Tag 700.000 Palästinenser in einem Massenausbruch die Grenzbarriere niedertrampelten, um sich auf dem Sinai mit Lebensmitteln einzudecken, ließ man sie zunächst gewähren, sorgte aber alsbald dafür, daß sie umgehend in ihr Freiluftgefängnis zurückkehrten. Von Israel zu einem harten Vorgehen gedrängt, doch zugleich von Furcht vor der eigenen Bevölkerung getrieben, beteiligt sich die ägyptische Regierung in großem Stil an der Drangsalierung der Palästinenser, hält aber bislang eine kleine Hintertür offen.

Nun geht auch Ägypten dazu über, die letzten Lücken zu schließen und die Bevölkerung des Gazastreifens vollends abzuwürgen. Tag für Tag werden Löcher gebohrt und metallene Spundwände tief in den Boden getrieben, die den Tunnelbau auf einer Länge von elf Kilometern unmöglich machen sollen. Von den USA finanziert und mit Experten unterstützt, errichten die Ägypter eine unterirdische Barriere aus undurchdringlichem Metall, die bis hinab zu den rund 400 Transporttunneln reicht. [3]

"Die denken wohl, wenn sie eine Mauer aus Eisen bauen, können sie unseren Willen brechen", schimpfte Hamas-Innenminister Fathi Hamad. "Aber wir werden weder nachgeben noch aufgeben." Dem Vernehmen nach existieren bereits spezielle Tunnel, die wesentlich tiefer als die nun installierte Barriere angelegt wurden. Auch haben offenbar die ersten Tunnelbetreiber bereits begonnen, die neue Sperre zu untergraben, da alles andere für Gaza der Tod wäre.

Die Verschärfung der Repression von ägyptischer Seite gegen die Palästinenser, den Gaza Freedom March und den internationalen Hilfskonvoi mündete in Auseinandersetzungen, bei denen sich am Dienstagabend in der kleinen Küstenstadt Al Arish die halbe Nacht Gaza-Aktivisten und Spezialeinheiten Straßenschlachten lieferten. Anschließend mußten 40 Demonstranten und 17 Polizisten im Krankenhaus behandelt werden. Im Gazastreifen gingen Zehntausende Palästinenser in Sorge um ihre Lebensgrundlagen auf die Straße und griffen ägyptische Grenzpolizisten und Bauarbeiter an. Am Mittwoch kam es an der Grenze zu schweren Zusammenstößen zwischen Palästinensern und ägyptischen Sicherheitskräften. Bei einem Schußwechsel wurde ein ägyptischer Soldat auf seinem Wachturm tödlich getroffen, während sieben Palästinenser Verletzungen davontrugen. Im arabischen und europäischen Ausland kam es mancherorts zu Kundgebungen und Protesten gegen die neue Mauer. Plakate von Ägyptens Staatspräsident Mubarak wurden verbrannt, Protestschreiben versandt und Boykottaufrufe gegen ägyptische Waren veröffentlicht.

Während Ägypten die Blockade des Gazastreifens mit dem unterirdischen Bollwerk komplettiert, steht in Israel der Einsatz eines neuen Raketenabwehrsystems namens "Eiserne Kuppel" unmittelbar bevor, das Geschosse aus dem Gazastreifen oder dem Süden des Libanon neutralisieren soll. Mit der stählernen Wand und der eisernen Kuppel nimmt die israelisch-ägyptische Kumpanei die Palästinenser im Küstenstreifen von beiden Seiten noch enger in die Zange, um sie endgültig ihrer Überlebensmöglichkeiten zu berauben und zugleich ihrer wirksamsten Widerstandsmittel zu entkleiden. Von etwas anderem als einem schleichenden Genozid zu sprechen, hieße die Bedrohungslage zu unterschätzen und zu verharmlosen.

Anmerkungen:

[1] Tote bei Luftangriffen im Gazastreifen (08.01.10)
http://www.dw-world.de/dw/article/0,,5099537,00.html

[2] Ägypten kappt Gazas Lebensader (08.01.10)
http://www.zeit.de/politik/ausland/2010-01/gaza-aegypten-grenze-tunnel

[3] Gaza wird weiter abgeriegelt. Ägypten baut unterirdische Mauer (08.01.10)
http://www.berlinerumschau.com/index.php?set_language=de&cccpage=09012010ArtikelPolitikBullien1

9. Januar 2010