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NAHOST/1092: Keine humanitäre Krise im Gazastreifen? (SB)


Gaza-Flottille kratzt an ideologischer Suprematie


Die israelische Regierung behauptet, von einer humanitären Krise im Gazastreifen könne keine Rede sein, da dieser auf regulären Wegen in ausreichendem Maße beliefert werde. Dazu nahm in der vergangenen Woche der Sprecher des Hilfswerks der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA), Chris Gunness, in einem Fernsehinterview Stellung. Die UNRWA ist die wichtigste Hilfsorganisation in Gaza. Auf die Frage, ob er die Free-Gaza-Flotilla für eine "Provokation" halte, beschrieb er die Notlage in Gaza als verzweifelt: "Gäbe es keine humanitäre Krise, gäbe es keine Krise in nahezu allen Aspekten des Lebens in Gaza, bedürfte es keiner Flottille. Existierte keine Blockade, bedürfte es der Flottille nicht. 95 Prozent des gesamten Wassers sind für den menschlichen Genuß nicht geeignet, 40 Prozent aller Krankheiten sind auf dieses Wasser zurückzuführen ... 45,2 Prozent der Arbeitskräfte sind ohne Beschäftigung, 80 Prozent von Hilfe abhängig, seit Beginn der Blockade hat sich die Zahl in absoluter Armut lebender Menschen verdreifacht. Werden wir diese Blockade los, bedarf es keiner Flottille mehr." [1]

Im Vorfeld der diesjährigen Gaza-Flottille hat die israelische Regierung in einer breit angelegten Kampagne Einfluß auf jene Länder genommen, die der Abreise der Schiffe Steine in den Weg legen können. Das gilt insbesondere für Griechenland, dessen Regierung den gesamten Schiffsverkehr nach Gaza untersagt hat. In einer Rede dankte Premierminister Benjamin Netanjahu UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon "und meinem Freund, dem griechischen Premierminister George Papandreou, die kürzlich in Wort und Tat gegen die Provokations-Flottille Stellung bezogen haben".

Jane Hirschmann, eine der US-amerikanischen OrganisatorInnen der Flottille, kommentierte dies in einem Telefoninterview mit dem Christian Science Monitor mit den Worten: "Was wir erleben, ist ein Mikrokosmos dessen, was die Menschen in Gaza jeden Tag erleben. Sie dürfen weder hinein noch heraus und können keinerlei Materialien ins Land holen, sofern Israel das nicht erlaubt. Die Bevölkerung Gazas ist nicht frei, und deshalb hoffen wir, daß die Weltöffentlichkeit realisiert, daß die Regierungen der USA und Israels die Okkupation ausgelagert und Griechenland dazu gedrängt haben, sie auszuüben."

Die Regierung in Washington hat sich entschieden auf die Seite Israels gestellt und ebenfalls behauptet, niemand verhindere die Lieferung humanitärer Hilfsgüter nach Gaza, weshalb die Flottille überflüssig sei. Außenamtssprecher Mark Toner bezeichnete die Flottille als "schlechte Idee" und erklärte: "Ich bin nicht der Auffassung, daß es um die Freiheit des Schiffsverkehrs, um die Freiheit der See geht. Diesen Schiffen geht es um eine politische Stellungnahme. Wenn sie Gaza unterstützen wollen, gibt es Wege, das zu tun", sagte Toner bei einer Pressekonferenz in Washington. [2]

Darauf erwiderten die OrganisatorInnen der Flottille, diese Aussage gehe am Kern der Sache vorbei. Es handle sich sehr wohl um die Freiheit des Seeverkehrs, da die Wirtschaft Gazas wegen der Blockade zusammengebrochen sei und der freie Verkehr von Gütern und Personen wiederhergestellt werden müsse. Die AktivistInnen der Friedensflottille vermuten hinter den umfassenden Problemen, die ihnen die griechischen Behörden bereiten, und der Sabotage an ihren Schiffen aus naheliegenden Gründen den langem Arm Israels.

Mit diesem Vorwurf konfrontiert, erklärte der Sprecher des israelischen Premierministers Netanjahu, Mark Regev: "Diese Aktivisten sind bekanntermaßen keine objektive Informationsquelle. Diese Leute neigen dazu, Israel die Schuld zu geben, Israels Hand hinter jeglichen Problemen zu sehen. Das kann natürlich nicht wahr sein." Auf die Nachfrage, ob er die Vorwürfe kategorisch ausschließe, blieb er jedoch die Antwort schuldig. [3]

Vertreter der israelischen Regierung haben Versuche, die Flottille im Vorfeld abzuwehren, eingeräumt. Sie begründeten dies nicht nur mit der Behauptung, den Aktivisten gehe es darum, Israel und seine Politik zu diskreditieren, sondern auch mit einer angeblichen Drahtzieherschaft radikaler Islamisten, die das Vorhaben ins Leben gerufen und organisiert hätten und denen es um eine gewalttätige Auseinandersetzung mit den israelischen Streitkräften gehe. Netanjahu sagte in einer Rede vor Absolventen der Ausbildung für die Luftwaffe: "Manchmal müssen wir nicht nur die physischen Angriffe unserer Feinde abwehren, sondern auch die Angriffe auf unser Recht zur Selbstverteidigung."

Die israelische Armeeführung teilte Pressevertretern mit, Tarek Hamud, der Schwiegersohn des in Damaskus lebenden Hamas-Führers Khaled Meshal, halte sich bei der Flottille in Athen auf, wo er eine führende Rolle bei deren Organisation spiele. Demgegenüber erklärten AktivistInnen der Flottille, sie hätten keinerlei Verbindungen zu radikalen Organisationen und noch nie von Hamud gehört. Hamas-Sprecher Izzat al-Risheq sagte dazu, Hamud habe nicht das geringste mit der Flottille zu tun und halte sich derzeit in seinem Haus in Damaskus auf. Das ganze sei eine Lüge der israelischen Armee, die die Leute gegen die humanitäre Mission einnehmen wolle. [4]

Auch das Nahostquartett, bestehend aus UNO, EU, USA und Rußland, hat an alle betroffenen Regierungen appelliert, die Schiffe der geplanten Gaza-Hilfsflotte aufzuhalten. In einer in New York veröffentlichten Erklärung rief das Quartett die Regierungen auf, "ihren Einfluß geltend zu machen", um die Aktivisten "zu entmutigen". Die Aktion gefährde die Sicherheit der Teilnehmer und berge "die Gefahr einer Eskalation". Wer Waren in den Gazastreifen liefern wolle, könne dies über die "bestehenden Wege" tun, damit die Ladungen überprüft und auf dem Landweg weitergeleitet werden könnten. [5]

Unterdessen hat die griechische Regierung im Streit um die internationale Hilfsaktion für den Gazastreifen den Palästinensern Unterstützung angeboten. Man sei bereit, das palästinensische Küstengebiet in Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen mit Lebensmitteln und Medikamenten zu beliefern, erklärte Ministerpräsident Giorgos Papandreou. Palästinenserpräsident Mahmud Abbas habe das Angebot in einem Telefonat positiv bewertet und unterstütze es. [6]

Dieses Manöver der Regierung in Athen steht keineswegs in Widerspruch zu der massiven Behinderung der Gaza-Flottille. Vielmehr ergänzt es diese um das Propagandakonstrukt, die Lieferung von Hilfsgütern in den Gazastreifen sei problemlos möglich, sofern die vorgeschriebenen Wege eingehalten würden. Damit schließt sich auch die griechische Führung der Phalanx an, welche die humanitäre Katastrophe leugnet und die Flottille für überflüssig und zu einem Akt der Provokation erklärt.

Die Blockade des Gazastreifens und dessen Verwandlung in ein Freiluftgefängnis durch israelische Regierungspolitik reichte schon in der Vergangenheit politisch und ideologisch bis in die Hauptstädte Europas und der USA, ohne deren Teilhaberschaft die Einkesselung nicht möglich gewesen wäre. Neu ist die physische Vorverlagerung der Blockade in den gesamten Mittelmeerraum, indem Schiffe am Auslaufen nach Gaza gehindert, bereits in See gestochene aufgebracht, deren Kapitän verhaftet und Sabotageakte verübt werden.

Die Voraussetzungen dafür waren bereits beim Angriff der israelischen Streitkräfte auf die erste Gaza-Flottille im vergangenen Jahr geschaffen worden. Der Vorwurf, bei diesem Überfall in internationalen Gewässern handle es sich um einen Akt der Piraterie, konnte sich gegen die übermächtige Version Israels und seiner Verbündeten nicht durchsetzen, die das Recht auf Selbstverteidigung einschließlich der Blockade bereits im Vorfeld für sich reklamierte. Logische Konsequenz dieser Deutungshoheit ist die Ausweitung der Blockadepolitik bis in griechische Häfen.

Warum die Free-Gaza-Flotilla mit aller Macht behindert wird, liegt auf der Hand: Für die israelische Regierung geht es um weit mehr als eine Handvoll kleiner Schiffe, die wie ein Tropfen auf dem heißen Stein einige dringend benötigte Hilfsgüter in Gaza anlanden könnten. Auf dem Spiel steht die Blockade als solche und letzten Endes die gesamte Drangsalierung der Palästinenser in den besetzten Gebieten wie auch in Israel. Ferner einer Friedenslösung denn je verschanzt sich die israelische Führung samt erheblichen Teilen der Gesellschaft in ihrem Bunker und fürchtet im kleinsten Riß des Mauerwerks den Zusammenbruch der in Jahrzehnten errichteten Zitadelle absoluter Suprematie.

Fußnoten:

[1] http://www.csmonitor.com/World/Backchannels/2011/0701/Greece-puts-halt-to-Gaza-flotilla-in-a-win-for-Israel/

[2] ebenda

[3] http://www.nytimes.com/2011/07/02/world/middleeast/02flotilla.html

[4] ebenda

[5] http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5hWLBGtMBTragUhEq5JtVDJRpPCCw?docId=CNG.773b950aca0c922150ead1e3d5a7f6f6.d1

[6] http://www.sueddeutsche.de/politik/nahost-konflikt-streit-um-friedensflotte-griechenland-bietet-gaza-hilfe-an-1.1115740

4. Juli 2011