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NAHOST/1093: Massenprotest in Israel fordert soziale Gerechtigkeit (SB)


Politischer Härtetest steht der Bewegung noch bevor


Am 12. Juli schlug die junge Filmemacherin Daphni Leef zum Zeichen des Protests gegen unerschwingliche Mietkosten in Tel Aviv ihr Zelt auf dem Mittelstreifen des eleganten Rothschild-Boulevards auf. Dies gab den ungeahnten Anstoß zu einer Massenbewegung, die binnen weniger Wochen weite Teile der israelischen Gesellschaft erfaßt hat. Der Proteststurm richtet sich längst gegen die gesamte Sozialpolitik der Regierung und nimmt nicht nur steigende Mieten, sondern auch die explodierenden Lebenshaltungskosten, die Verschlechterung der Gesundheitsversorgung und den Verfall des Bildungssystems aufs Korn. In rasanter Geschwindigkeit beziehen die zumeist jungen Demonstranten aus der dramatisch geschrumpften Mittelschicht immer weitere Mißstände in ihren Kampf ein, so daß eine Radikalisierung unausweichlich scheint, sofern sich der Sommer des Zorns nicht durch Befriedungsmaßnahmen ins Bockshorn jagen läßt.

"Das Volk fordert soziale Gerechtigkeit", skandierten 10.000 Menschen vor der Residenz des Ministerpräsidenten in Jerusalem. "Die Antwort auf die Privatisierung lautet Re-vo-lu-tion!", rief die Menge ein ums andere Mal und unterstrich damit, daß es ihr inzwischen um das Wirtschaftssystem des Landes geht. 70.000 gingen in Tel Aviv auf die Straße, mehr als 150.000 Demonstranten dürften es landesweit in einem Dutzend Städten gewesen sein. Die Unzufriedenheit ziehe sich durch alle Bevölkerungsgruppen, machen die Organisatoren geltend. Nach Angaben der Gewerkschaft lokaler Behörden haben rund 150.000 Angestellte aus Solidarität mit den Demonstranten die Arbeit niedergelegt. Sie könnten nicht "tatenlos zusehen, wenn das Volk für soziale Gerechtigkeit demonstriert", sagte Gewerkschaftschef Schlomo Buhbut. Weitere Solidaritätsaktionen seien in den kommenden Tagen nicht ausgeschlossen. [1] Für den heutigen Montag erfolgte zudem ein Aufruf über das Internet zu einer Ausweitung des Streiks auf alle anderen Angestellten und weiteren Protestaktionen, darunter ein Zug bis zur Knesset, wo über die Wohnungsbauförderung debattiert wurde. Die Ärzte streiken seit Wochen und die Gewerkschaft Histadrut hat sich dem Protest angeschlossen und Forderungen in Milliardenhöhe gestellt. [2]

Nach offizieller Lesart könnte die ökonomische Situation nicht besser sein. Die Wirtschaft boomt, die Währung ist stabil, die Inflation auf niedrigen Niveau. Israel hat eine positive Exportbilanz und gilt als eines der innovativsten High-Tech-Zentren der Welt mit mehr Start-up-Firmen als alle europäischen Staaten zusammen. Die Arbeitslosigkeit liegt demnach auf einem Rekordtief von unter sechs Prozent. Die Realität hinter dem Schleier dieses irreführenden Zahlenwerks sieht anders aus. Einige wenige einflußreiche Familien kontrollierten nicht nur einen Großteil des Kapitals, sondern ganze Wirtschaftszweige, so daß sich über die Monopolbildung ein Preisdiktat herausgebildet hat. Die Mittelklasse ist auf 15 Prozent der Bevölkerung geschrumpft und die Arbeitslosigkeit weit höher als angegeben. Da die offizielle Quote den beträchtlichen Teil der arabischen und orthodoxen Bevölkerung nicht berücksichtigt, dürfte die reale Arbeitslosigkeit derzeit bei etwa 18 Prozent liegen. [3]

Daß Wirtschaftswachstum keineswegs allen Bürgern gleichermaßen zugute kommt, sondern im Gegenteil zu Lasten eines wachsenden Heers verarmender und ausgegrenzter Menschen generiert wird, bekommt auch die Mittelklasse längst mit voller Wucht zu spüren. Sie will sich nicht länger in ihren sozialen Abstieg fügen und findet in diesem Anliegen wachsende Unterstützung aus jenen Bevölkerungsteilen, die diesem Prozeß lange vor ihr unterworfen waren. "Wie sind wir zu Sklaven in unserem eigenen Land geworden?", steht auf einem Pappschild an einem der Zelte auf dem Rothschild-Boulevard zu lesen. Das Erwachen der israelischen Mittelschicht könnte durchaus dazu führen, daß sie sich mit jenen solidarisiert, die diese Frage aus leidvoller Erfahrung beantworten können. In Nazareth demonstrierten am Wochenende erstmals Juden und Palästinenser gemeinsam gegen die hohen Lebenshaltungskosten.

Das israelische Wirtschaftssystem war in der Vergangenheit von einem hohen Grad staatlicher Regulation geprägt. Der Staat kontrollierte jahrzehntelang wichtige Bereiche der Landwirtschaft und Industrie, legte Preise und Löhne fest, übte entscheidenden Einfluß auf die Finanzmärkte und Wechselkurse aus. Benjamin Netanjahu war nicht der erste, doch aus heutiger Sicht hervorstechendste politische Protagonist einer neoliberalen Offensive, die er seit Anfang der 1990er Jahre vorantrieb und später als Premierminister fortgesetzt hat. Der Konzentrationsprozeß der Privatisierung verlieh der Verwertung insofern einen gewaltigen Schub, als er die Umverteilung von unten nach oben solange forcierte, bis sich die Armutsfolgen in die Mittelschicht emporgefressen hatten, deren Schrumpfen das letzte und offensichtlichste Zeichen dieses Raubzugs darstellt, der lange zuvor in den ärmeren Bevölkerungsteilen zu wüten begann.

Fast über Nacht ist Netanjahu von einem in Israel weithin anerkannten Regierungschef, der die Außenpolitik vollständig unter israelische Kontrolle gebracht und das Palästinenserproblem hinter Grenzmauern eingesperrt hat, ins Visier der Kritik geraten. Seine Zustimmungswerte sind so dramatisch gesunken, daß er um des politischen Überlebens willen seine Talente aufs äußerste strapazieren muß. Die Satiresendung "Eretz Nehederet" schickte einen als Netanjahu verkleideten Schauspieler ins Zeltlager, wo er das Blaue vom Himmel herunter versprach und sofortige Lösungen ankündigte: "Bisher wurden die Gelder so verteilt: Zuerst bekamen die Siedler, dann die Orthodoxen, dann der ganze Rest. Ab sofort ändern wir das: Jetzt bekommen die Orthodoxen zuerst, dann die Siedler und dann der ganze Rest und alle sind zufrieden."

Auf der politischen Bühne hört sich das folgendermaßen an: "Wir sind uns alle der echten Schwierigkeiten mit den hohen Lebenshaltungskosten in Israel bewußt", sagte der Regierungschef während der wöchentlichen Kabinettssitzung. "Wir müssen zweifellos unsere Prioritäten verändern." Er werde ein Team von Ministern und Experten damit beauftragen, einen "vertretbaren und realistischen Plan zur Erleichterung der wirtschaftlichen Bürde der israelischen Bürger" zu entwerfen. Allerdings seien nicht alle Forderungen berechtigt, weshalb die Beschwerden und Lösungsvorschläge an einem runden Tisch diskutiert werden sollen. Netanjahu sprach von "notwendigen Korrekturen", aber auch davon, daß er nichts überstürzen wolle. Man müsse bei der Lösung der Probleme "ernsthaft und verantwortungsvoll" vorgehen und dürfe keine populistischen Entscheidungen treffen.

Nimmt man den opportunen runden Tisch als Symbol der Strategie, den Protest zu vereinnahmen, aufzuspalten und zu entsorgen, unternimmt Netanjahu den Versuch, sich als Bock zum Gärtner zu machen, an die Spitze zu setzen und die Protestbewegung auszubremsen, bevor sie wirklichen Schaden anrichten kann. Als Finanzminister (2003-2005) und seit 2009 als Regierungschef fuhr er den sozialen Wohnungsbau zurück, während zugleich die Gelder in die Subventionierung der Siedlungen flossen, wohin Zuwanderer mit konkurrenzlos billigem Wohnraum samt erstklassiger Infrastruktur gelockt werden, um die demographische Verschieben zu Lasten der Palästinensergebiete voranzutreiben. Wenn sich der Regierungschef angesichts der aktuellen Protestwelle einsichtig gibt und bereitwillig dieses und jenes verspricht, liegt der Verdacht nahe, daß die vorgebliche Lösung in etwa auf das hinauslaufen soll, was die zitierte Satiresendung auf den wunden Punkt gebracht hat.

Nervös geworden ist die politische Führung aus gutem Grund, glaubte sie doch bis noch vor wenigen Wochen, die Mehrheit der Bevölkerung in der Tasche zu haben. "Die israelische Gesellschaft steht kurz vor einer sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Revolution", warnte Parlamentspräsident Reuven Rivlin. "Der Premierminister muss seine wirtschaftlichen Standpunkte überdenken und er muss sagen, was möglich ist und was nicht." Vize-Regierungschef Silvan Schalom rührte in der Kabinettssitzung sogar am Tabu der Militärausgaben und brachte die Forderung ein, bei der Verteidigung zu sparen und dafür mehr Geld in Soziales und Bildung zu investieren. Gemessen daran, daß Verteidigungsminister Barak für seinen Etat gerade erst bis zu sieben Milliarden Schekel mehr verlangt hatte, war dies in der Tat ein ungewöhnlicher Schritt. [4] Der Kanzleichef des Finanzministeriums, Chaim Schani, reichte gestern seinen Rücktritt ein, womit ein erstes Bauernopfer zu vermelden ist. Den Abgeordneten der Knesset wird möglicherweise die Sommerpause zusammengestrichen - auch dies ein Zeichen der Erkenntnis, daß sich der Protest allein durch Aussitzen nicht eindämmen läßt.

Gideon Levy faßte in einem Kommentar für die Zeitung "Haaretz" den aktuellen Stand in der Prognose zusammen, daß der Protestbewegung der Härtetest noch bevorstehe: "Sie werden sich jetzt mit den wirklich kontroversen Themen befassen müssen: die Ausgaben für Sicherheit, die Siedlungen, die Besatzung (des Westjordanlandes), die Beschneidung der Demokratie und die Macht des Kapitals".

Fußnoten:

[1] http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5hg_ujWIw9pSpceq2G4Lkq_bEmm_A?docId=CNG.6dcbc1f29c218ae288f4a4bd3b3be5d5.91

[2] http://www.welt.de/politik/ausland/article13518215/Israelis-protestieren-ausgelassen-nicht-wuetend.html

[3] http://www.abendblatt.de/politik/ausland/article1975489/Israels-Mittelstand-geht-auf-die-Barrikaden.html

[4] http://www.tagesschau.de/ausland/israel1076.html

1. August 2011