Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1165: NATO-Mächte sehen Assad-"Regime" vor dem Aus (SB)


NATO-Mächte sehen Assad-"Regime" vor dem Aus

Alle reden vom "Endspiel" und einer anschließenden "Nachkriegsordnung"



In Syrien tobt der Bürgerkrieg auf hohem Niveau; allein am 22. Juli sollen rund 300 Menschen der Gewalt zum Opfer gefallen sein. Die Regierungstruppen von Präsident Bashar Al Assad haben die Offensive der Aufständischen in der Hauptstadt zurückgedrängt und die von ihnen vor einigen Tagen übernommenen Grenzposten zum Irak zurückerobert. Dafür toben die Kämpfe in der Wirtschaftsmetropole Aleppo um so heftiger, wo sich ein Grenzübergang in die Türkei weiterhin in den Händen der "Freien Syrischen Armee" (FSA) befinden soll. In diplomatischen und militärischen Kreisen des Westens wähnt man das Assad-"Regime" bereits vor dem Aus. Am 23. Juli bekräftigte der deutsche Außenminister Guido Westerwelle in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung die Auffassung seiner NATO-Kollegen mit der Aussage, die Regierung in Damaskus habe die Lage in Syrien nicht mehr im Griff. Zeitgleich hat die Arabische Liga Assad für den Fall, daß er freiwillig zurücktritt, freies Geleit ins Ausland zugesichert.

Nachdem am 19. Juli Rußland und China, die auf eine diplomatische Lösung und einen Dialog zwischen Regierung und Opposition im Syrien-Konflikt pochen, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit ihrem Veto die Verhängung weiterer Sanktionen nach Kapitel VII der UN-Karte gegen Damaskus verhindert haben, setzen sich die USA und ihre "Partner" - O-Ton von Susan Rice, der UN-Botschafterin Barack Obamas - inzwischen offen für einen "Regimewechsel" in dem Land ein. In einem Artikel, der am 22. Juli in der New York Times unter der Überschrift "Stymied at U.N., U.S. Refines Plan to Remove Assad" erschienen ist, hieß es, Vertreter der Obama-Administration, wie Verteidigungsminister Leon Panetta und der Nationale Sicherheitsberater Thomas Donilon, diskutierten mit Kollegen in der Türkei und Israel bereits darüber, "wie man den Kollaps der syrischen Regierung managen" könne. Hierzu gehört offenbar zunächst die Sicherung des umfangreichen Arsenals der syrischen Streitkräfte an Chemiewaffen. Die Autoren des NYT-Artikels, Eric Schmitt and Helene Cooper, zitierten Andrew J. Tabler, Syrienexperte am neokonservativen Washington Institute for Near East Policy (WINEP), mit den Worten: "Wir sehen der kontrollierten Sprengung des Assad-Regimes entgegen. Doch wie bei jeder kontrollierten Sprengung, können die Dinge auch schief laufen."

So gelassen kann man das Geschehen in Syrien betrachten, wenn man auf der anderen Seite des Atlantiks im sicheren Elfenbeinturm in Washington sitzt. Für die einfachen Syrer laufen "die Dinge" bereits jetzt vollkommen aus dem Ruder. Sie müssen ein Gemetzel befürchten, daß dem Bürgerkrieg zwischen 2005 und 2007 im Irak, als sich Sunniten und Schiiten gegenseitig niedermachten und Hunderttausende Menschen ihr Leben verloren, gleichkäme. Während die Guido Westerwelles und Hillary Clintons dieser Welt öffentlich über eine "Nachkriegsordnung" für Syrien sinnieren, steht dem Land und mit ihm eventuell der ganzen Region eine grausame Balkanisierung und Jahre der Instabilität bevor. Wie der Daily Telegraph am 21. Juli berichtete, übt inzwischen im östlichen Mittelmeer eine Flotte der königlichen britischen Marine die Evakuierung Zehntausender Kriegsflüchtlinge von Syrien nach Zypern. Wegen des religiösen Fanatismus der zahlreichen sunnitischen Salafisten unter den syrischen Rebellen könnte es sich bei jenen Kriegsflüchtlingen um die letzten Christen Syriens handeln. Seit Tagen liest man zudem von Überlegungen, Assad und seine alewitischen Glaubensgenossen könnten den Staat Syrien aufgeben und sich auf ihr traditionelles Siedlungsgebiet, das Hochland um die Hafenstädte Latakia und Tartus, zurückziehen, um sich dort vor den Übergriffen der sunnitischen Mehrheit in Sicherheit zu bringen.

In einem am 20. Juli beim Beiruter Daily Star erschienenen Artikel schrieb Kolumnist David Ignatius, dessen Kontakte zur CIA legendär sind, folgendes:

Ein US-Regierungsvertreter hat diese Woche die Lage in Syrien als eine levantinische Version des "Wilden Westens" beschrieben. Assads Streitkräfte haben die Kontrolle über weite Teile des Landes verloren. "Sie können nicht halten, was sie unter Kontrolle gebracht haben", sagte ein US-Regierungsbeamter in Anlehnung an die Sprache der US-Aufstandsbekämpfungsdoktrin. Syriens Grenzen sind porös geworden, wodurch sich Teile des Landes aus Sicht eines Beobachters in "Oppositionistan" verwandelt haben.

Wahrlich sieht die Zukunft Syriens derzeit düster aus. Gelingt es den von Saudi-Arabien und Katar finanzierten und aufgerüsteten sunnitischen Islamisten Damaskus zu erobern, werden sie ihren Waffengang eventuell fortsetzen. Es ist davon auszugehen, daß sie gegen die schiitische Hisb Allah vorgehen werden, was zu einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges im Libanon führen wird. Gleichzeitig dürfte es zu einer Neuauflage des Bürgerkriegs im Irak kommen. Gestärkt durch die Machtübernahme in Syrien werden die Sunniten wahrscheinlich versuchen, die Schiiten im Irak in ihre Schranken zu weisen, den Einfluß Irans im Zweistromland zurückzudrängen und Bagdad für sich zurückzuerobern. Dies wiederum könnte Aufstände der schiitischen Mehrheit in Bahrain und in den nordöstlichen Provinzen Saudi-Arabiens am Persischen Golf nach sich ziehen. Bezüglich des Szenarios eines regelrechten Flächenbrands hat Patrick Martin in einem am 21. Juli bei der Torontoer Globe & Mail, Kanadas führender Zeitung, unter der Überschrift "Islamic Fighters Flocking to Syria" erschienenen Artikel den Nahost-Experten und ehemaligen MI6-Offizier Alastair Crooke wie folgt zitiert:

Wir stehen vor einer regionalen Spaltung zwischen Sunniten und Schiiten und die endgültige Schlacht um die Vorherrschaft wird mit Sicherheit im Irak stattfinden.

Crooke war von 1997 bis 2003 als Nahost-Berater von Javier Solana, dem damaligen außenpolitischen Vertreter der Europäischen Union, tätig. In dieser Funktion führte er Verhandlungen mit diversen Widerstandsgruppen in der Region. Der ehemalige Diplomat ist Gründer und Leiter des Londoner Conflicts Forum und hat zuletzt das Buch "Resistance: The Essence of the Islamist Revolution" veröffentlicht. Bereits im vergangenen November hat er in einem Gastbeitrag für die britische Tageszeitung Guardian das für ihn offensichtliche Streben des Westens nach "Regimewechsel" in Syrien beim Namen genannt und es als kurzfristig und schädlich kritisiert.

Die jüngsten Entwicklungen im Irak bestätigen die Richtigkeit von Crookes schlimmen Vorahnungen bezüglich der Folgewirkungen des Syrien-Konfliktes vollends. Am Abend des 21. Juli veröffentlichte Abu Bakr Al Bagdadi, seit 2010 Anführer der Al Kaida im Irak, seine erste Videobotschaft im Internet. Darin kündigte der Leiter der irakischen Dependance des Al-Kaida-"Netzwerkes" eine "neue Phase" im Kampf gegen die Regierung des schiitischen Premierministers Nuri Al Maliki in Bagdad an. Die sunnitischen "Mudschaheddin" würden die Rückschläge der Jahre 2007 und 2008 wieder wettmachen; vordringliches Angriffsziel sei der schiitisch-dominierte Sicherheitsapparat und dessen Angehörige, so Al Bagdadi. Er widmete die Hälfte seines Auftritts der "heiligen Revolution" in Syrien, gab sich zuversichtlich, was den baldigen Sturz des Assad-"Regimes" betrifft, und rief die Rebellen dort dazu auf, "keine Gesetzgebung und keine Verfassung außer derjenigen Allahs und der Scharia zu akzeptieren".

Auf die geschwollene Rede Al Bagdadis folgten bald blutige Taten. Bei Anschlägen und Überfällen wurden am 22. Juli im Irak 41 Menschen getötet und 154 verletzt. Am Vormittag des 23. Juli kam es im Zweistromland zu den schwersten Gewaltausbrüchen seit Abzug der letzten US-Streitkräfte Ende 2011. Bei 19 offenbar koordinierten Bombenanschlägen und Überfällen in Bagdad, Kirkuk und anderswo, die sich hauptsächlich auf Polizei- und Militärinstallationen richteten, kamen mehr als 100 Menschen ums Leben und mehr als 180 Personen wurden zum Teil schwer verletzt. Das sind offensichtlich weitere "Geburtswehen eines neuen Nahen Ostens", wie ihn die USA seit 2006 und dem israelischen Überfall auf den Libanon herbeisehnen.

23. Juli 2012