Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

NAHOST/1215: NATO-Kriegstreiber beschwören syrische Chemiewaffengefahr (SB)


NATO-Kriegstreiber beschwören syrische Chemiewaffengefahr

Patriot-Raketen sollen in die Türkei - ein Handlungszwang muß her



Nach den Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 in den USA hatte die NATO zum ersten Mal in ihrer Geschichte den Verteidigungsfall ausgerufen. Weniger als einen Monat später marschierten westliche Truppen in Afghanistan ein, um den angeblich Hauptverantwortlichen für die brutale Ermordung von rund 3000 Menschen in New York und Arlington, den saudischen Bauunternehmer und Mäzen Osama Bin Laden, festzunehmen. Bis heute ist der Bericht, den die USA zuvor der NATO bezüglich der Verwicklung von Bin Ladens Al-Kaida-"Netzwerk" in die 9/11-Anschläge vorlegte, nicht veröffentlicht worden. Auch das Versprechen des damaligen US-Außenministers General a. D. Colin Powell, der Weltöffentlichkeit die "Beweise" für die Schuld von Bin Laden und Konsorten zu präsentieren, ist niemals eingehalten worden.

Statt dessen hat Powell im Februar 2003 vor dem Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in New York eine irreführende, vollkommen erlogene Version der angeblich von Saddam Husseins Irak ausgehenden Bedrohung - ein Einsatz von "Massenvernichtungswaffen" durch das "Regime" in Bagdad oder durch mit ihm befreundete "Terroristen" - präsentiert, die den Einfall amerikanischer, australischer und britischer Streitkräfte in das Zweistromland einen Monat später rechtfertigen sollte. Schon nach wenigen Wochen entpuppten sich die vermeintlichen "Erkenntnisse" der US-Geheimdienste über die Existenz von atomaren, biologischen und chemischen Waffen im Irak als plumpe Kriegspropaganda.

Bis heute sind die von der CIA erstellten DIA-Bilder jener "mobilen Biowaffenlabore" unvergessen, mit denen laut Powell die Iraker genug Anthrax und anderes Giftzeug herstellen könnten, "um Tausende über Tausende Menschen zu töten", die es aber in Wirklichkeit niemals gab. Damals hat die US-Regierung um Powell, Präsident George W. Bush, Vizepräsident Dick Cheney, Verteidigungsminister Donald Rumsfeld und die Nationale Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice über Monate hinweg Schauergeschichten zum Beispiel über "Aluminiumröhren", die Saddam Hussein zur Urananreicherung und damit zum Bau von Atomwaffen verwenden könnte, mittels Multiplikatoren in den US-Medien, allen voran Pulitzerpreisträgerin Judith Miller bei der New York Times, lanciert, um anschließend selbst offiziell Stellung dazu zu nehmen, vor "Atompilzen" über amerikanischen Großstädten zu warnen und einen Handlungszwang zu unterstellen.

In der Syrienkrise verfährt die demokratische Regierung um Präsident Barack Obama, Secretary of State Hillary Clinton und Pentagonchef Leon Panetta nicht weniger kriegspropagandistisch als die republikanische Vorgängeradministration von Bush junior. Auf der Agenda des NATO-Außenministertreffens am 4. Dezember in Brüssel stand der Antrag Ankaras auf Stationierung von Patriot-Raketenabwehrbatterien vom Typ PAC-3 entlang der türkischen Grenze zu Syrien ganz oben. Mit solchen Waffensystemen lassen sich jedoch keine Mörsergranaten, wie sie in den vergangenen Monaten hin und wieder auf der türkischen Seite der Grenze eingeschlagen sind und einige Menschen das Leben gekostet haben, abfangen. Hingegen eignet sich das Patriot-System nach Angaben des Herstellers Raytheon zum Abschuß von ballistischen Kurz- und Mittelstreckenraketen bzw. modernen Kampfjets in größer Höhe. Also mußte ein Bedrohungszenario her, mit dem man die ohnehin längst absehbare Entscheidung der NATO-Außenminister, der Bitte der Türkei zu entsprechen, rechtfertigte.

So hieß es am 2. Dezember und damit zwei Tage vor dem Treffen in der belgischen Hauptstadt in einem Artikel der New York Times zum Thema iranischer Waffenlieferungen für das syrische "Regime" um Präsident Baschar Al Assad [in der Übersetzung der SB-Redaktion]:

Es verstärkt die amerikanischen Sorgen, sagen westliche Geheimdienstmitarbeiter, daß sie neue Hinweise auf Aktivitäten an den Objekten in Syrien erhalten, die für die Lagerung von Chemiewaffen benutzt werden. Die Mitarbeiter sind sich nicht sicher, ob die syrischen Streitkräfte den Einsatz der Waffen vorbereiten, um in einer letzten Alles-oder-nichts-Aktion die Regierung zu retten, oder um dem Westen eine Warnung bezüglich der Folgen einer fortgesetzten Unterstützung der syrischen Rebellen zu schicken.
"Es ähnelt in etwa dem, was sie früher gemacht haben. Aber sie machen einige Dinge, die den Schluß nahelegen, daß sie beabsichtigen, die Waffen zu benutzen. Sie lagern sie nicht nur um. Das sind andere Arten von Aktivitäten", erklärte ein ranghoher US-Regierungbeamter, der unter der Bedingung der Anonymität sprach, um geheimdienstliche Angelegenheiten zu diskutieren.
Der Regierungsbeamte erklärte aber, daß die Syrer die offensichtlichsten Schritte hin zum Einsatz von Chemiewaffen, wie sie für den Artilleriebeschuß vorzubereiten oder in Bomben zu füllen, um sie von Flugzeugen aus abzuwerfen, nicht unternommen haben.

Am 3. Dezember hagelte es in den westlichen Medien nur so von Berichten über vermeintliche "Aktivitäten" der syrischen Streitkräfte, was chemische Waffen betrifft. Wie viele andere Medien griff der Londoner Guardian den NYT-Bericht vom Vortag, speziell die Angaben des anonymem amerikanischen "Amtsträgers", auf und reicherte ihn mit Informationen einer ebenfalls nicht namentlich genannten, angeblich ranghohen Kontaktperson beim türkischen Geheimdienst an:

"Wir verfügen über Erkenntnisse aus verschiedenen Quellen, daß die Syrer ballistische Raketen und chemische Sprengköpfe benutzen werden. Am Anfang haben sie die Infanterie gegen die Rebellen eingesetzt und dabei viele Männer verloren; viele haben die Seite gewechselt. Dann haben sie Panzer eingesetzt, die durch Anti-Panzer- Raketen ausgeschaltet wurden. Jetzt setzten sie die Luftwaffe ein. Sollten sie damit scheitern, werden sie auf Raketen, vielleicht mit chemischen Sprengköpfen, zurückgreifen. Deshalb haben wir die NATO um Schutz gebeten."

Wie die Aufstandsbekämpfung in Syrien - und sei es unter Einsatz von Chemiewaffen - eine Bedrohung für die nationale Sicherheit der Türkei darstellen soll, der durch Patriot-Raketen der deutschen Bundeswehr und der niederländischen Streitkräfte begegnet wird, ist nach taktischen militärischen Gesichtspunkten nicht erkennbar. Doch das spielt auch keine Rolle, denn wir haben es hier mit der strategischen Ebene zu tun, auf der die mittels Propaganda beschworene Gefahr am meisten Angst erzeugt, wenn sie nebulös bleibt. Folgerichtig hat am 3. Dezember die New York Times ihre Vorreiterfunktion durch den recht denkwürdigen Bericht "Syria Moves Its Chemical Weapons, and U.S. and Allies Cautiously Take Note" behauptet. In dem Artikel über seltsame Bewegungen syrischer Chemiewaffen und entsprechende Warnungen der führenden NATO-Staaten an die Regierung in Damaskus hieß es in einem vor Widersprüchen strotzenden Absatz [wieder in einer Übersetzung der SB-Redaktion] wie folgt:

Was genau die syrischen Streitkräfte mit den Waffen zu tun beabsichtigen, bleibt laut den amerikanischen Regierungsbeamten, welche die Geheimdiensterkenntnisse aus Syrien gesehen haben, unklar. Ein Regierungsbeamter legte die bisher spezifischste Beschreibung dessen, was entdeckt worden ist, vor, als er erklärte, "die Aktivität, die wir sehen, legt den Schluß einer potentiellen Chemiewaffenvorbereitung nahe", die über den reinen Transport von Beständen zwischen mehreren Dutzend bekannten Objekten Syriens hinausgeht. Doch der Regierungsbeamte weigerte sich, weitere Einzelheiten dessen, worin diese Vorbereitungen bestehen könnten, preiszugeben.

Am selben Tag berichtete das US-Nachrichtenmagazin Atlantic, die israelische Regierung Benjamin Netanjahus habe in den vergangenen Monaten mehrere Male bei den Jordaniern um Überflugsrechte gebeten, um Luftangriffe auf die syrischen Chemiewaffendepots fliegen zu dürfen, doch sei der Antrag jedesmal von den Verantwortlichen in Amman negativ beschieden worden. Etwas über das Ziel hinaus, behauptete das Blog Danger Room der US-Technologiezeitschrift Wired unter Verweis auf einen anonym gebliebenen "Regierungsbeamten" in Washington, die Syrer hätten bereits begonnen, die chemischen Kampfstoffe für den Kriegseinsatz zu mischen. Das ist natürlich Humbug. Die sogenannten binären Kampfstoffe, um die es sich hier handelt, befinden sich getrennt im jeweiligen Artilleriegeschoß - was den Transport sicher macht - und mischen sich erst nach dem Abfeuern beim rotierenden Flug des Sprengkopfes auf das Ziel.

Nichtsdestotrotz haben diverse NATO-Führungspersönlichkeiten, allen voran US-Präsident Obama und seine Chefdiplomatin Clinton, besagte Medienberichte zum Anlaß genommen, ihrerseits der Regierung in Damaskus mit schwersten Konsequenzen zu drohen, sollten die syrischen Streitkräfte die "rote Linie" der westlichen Politik überschreiten - nämlich Chemiewaffen gegen die "eigene Bevölkerung" einsetzen oder sie an die schiitisch-libanesische Hisb-Allah-Miliz, welche die USA für eine der schlimmsten "Terrororganisationen" halten, weitergeben.

Bekanntlich sind nicht wenige der Aufständischen in Syrien ausländische Salafisten, die auf den Trümmern des Assad-"Regimes" ein streng-islamisches Kalifat errichten wollen. Würden Assads Soldaten die "rote Linie" der NATO überschreiten, wenn sie mit Chemiewaffen jene gewaltbereiten Sunni-Fundamentalisten angriffen? Syrien ist zudem kein Unterzeichnerstaat des internationalen Chemiewaffenabkommens. Theoretisch könnte es auch völlig legal Chemiewaffen gegen die Teilnehmer einer ausländischen Militärintervention einsetzen. Mit Sicherheit würde die NATO eine solche Maßnahme gegen die eigenen Soldaten als ein ungeheures Kriegsverbrechen verdammen. Ähnlich behauptet sie jetzt, die Verlegung von Patriot-Raketenabwehrbatterien an die türkisch-syrische Grenze habe rein "defensiven" Charakter und sei keineswegs "offensiv" zu verstehen. Innerhalb der NATO denke absolut niemand daran, eine Flugverbotszone für die syrische Luftwaffe einzurichten, behauptete am Rande des Treffens in Brüssel der deutsche Außenminister Guido Westerwelle. Wer's glaubt, wird selig.

5. Dezember 2012