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NAHOST/1364: Ägypten greift offen in Libyens Bürgerkrieg ein (SB)


Ägypten greift offen in Libyens Bürgerkrieg ein

Stellt der Islamische Staat (IS) Kairo und der NATO eine Falle?


In den frühen Morgenstunden des 16. Februar haben sich die Streitkräfte Ägyptens, die von der Bewaffnung und Personalstärke - 800.000 Mann - her größten der arabischen Welt, erstmals offen in den Bürgerkrieg im Nachbarland Libyen eingemischt. Nach Angaben des Oberkommandos in Kairo griffen Kampfjets der ägyptischen Luftwaffe Unterkünfte, Ausbildungslager und Waffendepots der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) in der ostlibyschen Stadt Derna mit Bomben und Raketen an. Bei dem Angriff sollen mindestens 50 IS-Kämpfer und mehrere Zivilisten getötet worden sein. Anlaß für die großangelegte Operation war die Veröffentlichung einer Videosequenz am 15. Februar im Internet, auf der zu sehen ist, wie 21 ägyptische Kopten, die im Dezember und Januar in der Stadt Sirtre entführt worden waren und orangefarbene Overalls tragen, von schwarzgekleideten, schwerbewaffneten IS-Mitgliedern zu einem Strand geführt, dort in einer Reihe aufgestellt und gleichzeitig geköpft werden.

Angesichts des sich zuspitzenden Bürgerkrieges zwischen der von islamistischen Kräften dominierten, nach dem Sturz Muammar Gaddhafis 2011 eingerichteten provisorischen Volksversammlung, dem Allgemeinen Volkskongreß - General National Kongreß (GNC) - in Tripolis und dem im Juni 2014 gewählten Parlament unter der Leitung von Premierminister Abdullah Al Thani in der östlichen Stadt Tobruk war eine Militärintervention Ägyptens nur eine Frage der Zeit. Nachdem im letzten Sommer die öffentliche Ordnung in Libyen endgültig zusammenbrach, waren ägyptische Bürger wiederholt der wachsenden Gewalt zum Opfer gefallen.

Im Juli 2014 wurden 21 ägyptische Soldaten bei einem Überfall an der libyschen Grenze getötet. Die Identität der Angreifer ist bis heute ungeklärt, wenngleich islamistische Kräfte dahinter vermutet werden. Ende desselben Monats kamen 15 ägyptische Gastarbeiter ums Leben, als libysche Milizionäre an der Grenze nach Tunesien das Feuer auf eine große Menge fliehender Ausländer eröffneten. In Derna wurde im August, kurz nachdem dort die Scharia-Gesetzgebung verhängt worden war, ein Ägypter, der einen Mord begangen haben sollte, im Fußballstadion per Genickschuß hingerichtet. Einen Tag später wurde das entsprechende Video ins Internet gestellt.

Als noch im Juli unbekannte Flugzeuge bei einer Schlacht am internationalen Flughafen von Tripolis zwischen Milizionären aus der Islamisten-Hochburg Misurata und Stammeskämpfern aus der Berberstadt Zintan zugunsten letzterer eingriffen, wurden dahinter zunächst die Ägypter vermutet. Später stellte sich heraus, daß die Kampfjets den Vereinigten Arabischen Emiraten gehörten, die, um die Operation durchführen zu können, auf dem Hin- sowie auf dem Rückweg in Ägypten zum Tanken zwischengelandet waren. Angeblich hatten Kairo und Dubai die Regierung in Washington vorab nicht über die Aktion informiert, sondern diese im Alleingang beschlossen und durchgeführt. Seitdem tauchen immer wieder unbestätigte Berichte auf, wonach Ägypten die libyschen Streitkräfte und die mit ihnen kooperierende Armee des CIA-Verbindungsmannes Ex-General Khalifa Hifter heimlich unterstützt. Nach außen hin hatte sich der ägyptische Präsident Abdel Fatah Al Sisi lange Zeit dem Drängen der Nachbarländer und der libyschen Regierung in Tobruk nach einem direkten militärischen Eingreifen Ägyptens widersetzt.

Doch das Ausmaß, in dem diverse sunnitische Milizen in Libyen dem von Abu Bakr Al Baghdadi Ende Juni im irakischen Mossul ausgerufenen Kalifat Islamischer Staat Treue geschworen haben, machte es Kairo zunehmend schwer, seine Position der Nicht-Einmischung beizubehalten. Schließlich sehen sich die ägyptischen Sicherheitskräfte auf der Sinai-Halbinsel seit zwei Jahren mit blutigen Angriffen salafistischer Dschihadisten konfrontiert, die im vergangenen Herbst ebenfalls zur schwarz-weißen IS-Fahne geeilt sind. Gerade letzte Woche war Präsident Al Sisi von den Angehörigen der verschleppten Kopten in den ägyptischen Medien Untätigkeit vorgeworfen worden. Nachdem die Ermordung der Christen am 14. Februar bekannt wurde und die Täter das grausame Video der dazugehörigen Enthauptungsorgie veröffentlicht hatten, mußte Ägyptens Staatsoberhaupt handeln. Am selben Abend versprach er in einer Fernsehansprache an die Nation den "Mördern" drakonische Vergeltung. Nur wenige Stunden später drangen die ägyptischen Kampfjets in den libyschen Luftraum ein.

Die Luftangriffe auf Derna, an den nach eigenen Angaben auch Maschinen der kleinen libyschen Luftwaffe teilnahmen, sollen offenbar den Auftakt zu einer größeren Militärintervention sein. Gegenüber dem saudischen Nachrichtensender Al-Arabiya hat Kommandeur Saqer Al-Joroushi von der libyschen Luftwaffe für die kommenden Tage weitere Aktionen "in Koordination mit Ägypten" in anderen Teilen Libyens angekündigt. Seit in der Nacht zum 16. Februar Al Sisi mit dem französischen Amtskollegen Francois Hollande über die Lage in Libyen sprach, drängen Kairo und Paris auf eine Krisensitzung des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen, auf der weitergehende Maßnahmen gegen den IS beschlossen werden sollen.

Bereits am 13. Februar hat sich der italienische Außenminister Paolo Gentiloni in einem Interview mit dem Nachrichtensender SkyTg24 zur Teilnahme seines Landes an einer multinationalen Militärintervention in Libyen bereit erklärt. Libyen sei ein "gescheiterter Staat"; es müsse alles unternommen werden, um die wachsende "Bedrohung" durch den IS im Mittelmeerraum zu beseitigen, so Gentiloni. Interessanterweise hat im Enthauptungsvideo mit den koptischen Christen der Sprecher der libyschen IS-Abteilung auf englisch mit amerikanischem Akzent blutrünstige Drohungen an die Adressse der "Kreuzzügler" von sich gegeben und vollmündig die Eroberung Roms - "so Gott will" - angekündigt. So wird Libyen, dessen Bürger unter Gaddhafi die wohlhabendsten in ganz Afrika waren, zum Schlachtfeld im sogenannten "Kampf der Kulturen".

16. Februar 2015


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