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NAHOST/1415: Kampf um den Tempelberg löst dritte Intifada aus (SB)


Kampf um den Tempelberg löst dritte Intifada aus

Radikale jüdische Siedler treiben Israel und Palästina in den Krieg


Der Nahe Osten verwandelt sich zusehends in ein blutiges Inferno. In Syrien tobt ein mörderischer Bürgerkrieg. Im Irak nimmt die sektiererische Gewalt zwischen Schiiten und Sunniten kein Ende. Und während Saudi-Arabien und die anderen arabischen Golfstaaten den Jemen zurück in die Steinzeit bombardieren, reißt die Kette tödlicher Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und den Israelis nicht mehr ab. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht der Tempelberg in Jerusalem, den jüdische Extremisten der Kontrolle Jordaniens entreißen wollen, um die Al-Aksa-Moschee, eines der wichtigsten Gotteshäuser des Islam, niederzureißen und an deren Stelle den "Dritten Tempel" zu errichten.

Der Aufruf der EU-Außenbeauftragten Fédérica Mogherini am 11. Oktober nach Telefongesprächen mit dem israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu und dem palästinensischen Präsidenten Mahmud Abbas zu einer Wiederbelebung des "Friedensprozesses" mutet mehr als weltfremd an. Der aktuelle Aufstand der palästinensischen Jugend im Westjordanland einschließlich Ostjerusalems, der sich bereits im Juli 2014 nach der brutalen Ermordung des 16jährigen Jungen Mohammed Abu Kdeir durch drei jüdische Siedler entzündete und gerade in den letzten Tagen zur Dritten Intifada angewachsen ist, ist das traurige Ergebnis jenes "Friedensprozesses", den Israel seit Mitte der neunziger Jahre benutzt, um seine Kontrolle über das Territorium zwischen Mittelmeer und dem Fluß Jordan weiter zu festigen und jede Hoffnung auf einen palästinensischen Staat, der diesen Namen verdient, zunichte zu machen.

Im Frühjahr 2014 sind die jüngsten Friedensverhandlungen zwischen Abbas und Netanjahu trotz des unermüdlichen Einsatzes von US-Außenminister John Kerry am fortgesetzten Ausbau der jüdischen Siedlungen auf der Westbank gescheitert. Anfang Juli desselben Jahres hat Netanjahu einen vierwöchigen Krieg gegen Gaza vom Zaun gebrochen, um eine palästinensische Regierung der nationalen Einheit zu torpedieren und erneut einen Keil zwischen die Fatah im Westjordanland und die Hamas im Gazastreifen zu treiben. Nach dem Sieg bei den Knessetwahlen im März dieses Jahres hat Netanjahus Likud-Partei ihre Koalitionsregierung mit rechtsnationalistischen Parteien erneuert, welche die Siedlerbewegung auf ihre Fahnen geschrieben haben. Vor diesem Hintergrund nehmen die Übergriffe jüdischer Siedler auf die palästinensische Bevölkerung - Angriffe auf Moscheen, illegale Besetzungen von Grundstücken und Gebäuden, Überfälle auf Einzelpersonen u. v. m. - immer mehr zu. Die Palästinenser im Westjordanland fühlen sich der Gewalt der Siedler schutzlos ausgeliefert. Besonders schlimm ist die Lage der Palästinenser in Ostjerusalem, denn dort gibt es keine palästinensischen, sondern ausschließlich israelische Sicherheitskräfte.

Der Brandanschlag auf das Haus der palästinensischen Familie Dawabsha im Dorf Duma am 31. Juli, bei dem der 18 Monate alte Ali Dawabsha getötet wurde und seine Eltern durch schwere Verbrennungen tödlich verletzt wurden, hat bei den Palästinensern das Faß zum Überlaufen gebracht - nicht zuletzt deshalb, weil der Verdacht besteht, daß die israelischen Behörden die Identität der Täter kennen, jedoch nichts gegen sie unternehmen. Unmittelbar nach dem Anschlag wollen Augenzeugen Personen vom Haus der Dawabshas zu Fuß in Richtung einer nahegelegenen jüdischen Siedlung flüchten gesehen haben. Den geistigen Nährboden für solche Anschläge bereiten seit Jahren die Noar HaGva'ot (Hügelspitze Jugend) und andere radikalzionistische Organisationen, welche das Westjordanland palästinenserfrei und den "Dritten Tempel" hoch über Jerusalem stehen sehen wollen.

Zu den gefährlichsten Anführern des chauvinistischen Segments der israelischen Bevölkerung gehört Meir Ettinger, der 23jährige Enkel von Meir Kahane, dem 1990 in New York ermordeten Gründer der Jewish Defence League sowie der verbotenen Kach-Bewegung. (Darum wurde Ettinger Anfang August zusammen mit einem Gesinnungsgenossen von einem israelischen Gericht zu sechs Monaten Sicherheitsgewahrsam verurteilt.) Heute ist das religiös-fundamentalistische, rassistische Gedankengut Kahanes bei der Siedlerbewegung und deren politischen Vertretern wie Naftali Bennett, dem Vorsitzenden der Partei HaBajit haJehudi (jüdisches Heim), weit verbreitet. Bennett, derzeit Bildungsminister im Kabinett Netanjahus, ist ein erklärter Gegner des Oslo-Abkommens mit den Palästinensern. Er will die Westbank ins israelische Gebiet integrieren und hat angeregt, die Kriegswirren in Syrien zu nutzen, um die Golanhöhen mit weiteren 100.000 jüdischen Siedlern zu besetzen.

Mit seiner Feststellung, daß palästinensische Steinewerfer "Terroristen" seien, auf die israelische Soldaten scharf schießen dürften und die nach ihrer Gefangennahme für vier Jahre hinter Gitter verschwinden sollten, hat Netanjahu Mitte September weiteres Öl ins Feuer gegossen. Die von der israelischen Regierung Ende September verhängte Einschränkung des Zugangs zur Al-Aksa-Moschee für Muslime, während immer mehr zionistische Provokateure auf dem Tempelberg ihr Unwesen treiben dürfen, weckt bei den Palästinensern tiefe Besorgnis. Diese haben bis heute nicht vergessen, wie Israel 1994 die Ermordung von 29 Muslimen in der Abraham-Moschee in Hebron durch den jüdischen Extremisten Baruch Goldstein aus der Siedlung Kirjat Arba dazu benutzt hat, um die symbolträchtige Stadt vollständig unter seine Kontrolle zu bringen. Unter den Augen der israelischen Armee und der Polizei machen die jüdischen Siedler das Leben der einheimischen Palästinenser zur Hölle und haben auf die Weise viele von ihnen bereits zum Wegzug gezwungen.

Es steht zu befürchten, daß Netanjahu die aktuellen Unruhen in Ostjerusalem sowie im Westjordanland auf ähnliche Weise für die eigenen Zwecke mißbrauchen könnte. Nicht umsonst hat sich Jordaniens König Abdullah bei seiner Rede vor der UN-Generalversammlung in New York Ende September offen gegen die "Bedrohung der heiligen Stätten und des arabischen Charakters der heiligen Stadt [Jerusalem]" ausgesprochen. Die dringende Ermahnung des Oberhaupt des haschemitischen Herrscherhauses, der sich stets als verläßlicher Freund des Westens erwiesen hat, dürfte jedoch ohne Wirkung bleiben, denn in Washington, London, Paris und Berlin will sich niemand mit Israel und dessen mächtiger Auslandslobby anlegen.

12. Oktober 2015


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