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NAHOST/1419: Steckt Ankara hinter den Giftgasattacken in Syrien? (SB)


Steckt Ankara hinter den Giftgasattacken in Syrien?

Türkische Opposition wirft Erdogan und Davutoglu Kriegsverbrechen vor


Rund eine Woche vor den Neuwahlen zum türkischen Parlament am 1. November sind spektakuläre Vorwürfe gegen die Regierung der islamisch-konservativen AK-Partei um Präsident Recep Tayyip Erdogan und Premierminister Mehmed Davutoglu erhoben worden. Auf einer Pressekonferenz am 21. Oktober in Istanbul erklärten Erem Erdem und Ali Seker, zwei Abgeordnete der säkular-kemalistischen Oppositionspartei CHP, auf Betreiben der AKP-Regierung seien Beweise der Justizbehörden der Türkei für eine Verwicklung türkischer Akteure in den Giftgasangriff auf Ghouta, einem Stadtteil von Damaskus, vertuscht und die Ermittlungen eingestellt worden. Bei dem berüchtigten Sarin-Gasangriff am 21. August 2013 fanden mehrere hundert Zivilisten den Tod. Damals behaupteten die USA und ihre NATO-Verbündeten, die Syrische Arabische Armee (SAA) hätte den Giftgasanschlag "gegen die eigene Bevölkerung" durchgeführt. Syriens Präsident Baschar al Assad, der die Vorwürfe als erlogen zurückwies, konnte im September 2013 eine Strafaktion der US-Streitkräfte noch verhindern, weil er in den Vorschlag Rußlands zur Vernichtung des gesamten Chemiewaffenarsenals der SAA einwilligte.

Schon damals stand der Verdacht im Raum, die Rebellen hätten den Giftgasangriff von Ghouta durchgeführt, um der NATO mittels einer "Falsche-Flagge-Operation" einen Vorwand für eine Militärintervention in den syrischen Bürgerkrieg zu verschaffen. Bereits im Mai 2013 hatte die UN-Ermittlerin Carla Del Ponte in ihrem Untersuchungsbericht zu mehreren Giftgaseinsätzen in Syrien - einen im Dezember 2012 bei Homs sowie zwei weitere im März 2013 in Aleppo und Damaskus - die Aufständischen und nicht die Regierungstruppen als Urheber identifiziert. Weil die Feststellung der renommierten Schweizer Juristin den Regierungen in den USA, Großbritannien, Frankreich und der Türkei nicht ins Konzept paßte, wurde sie von ihnen schlicht als unseriös abgetan.

In den darauffolgenden Wochen wurden von westlichen Politikern und Medien zwei aufsehenerregende Vorfälle auf ähnliche Weise ignoriert. Am 29. Mai 2013 hat die türkische Polizei bei Razzien in Adana und zwei weiteren grenznahen Städten 13 Mitglieder der al-kaida-nahen, syrischen Al-Nusra-Front festgenommen sowie größere Mengen schwerer Waffen und zwei Kilogramm Sarin sichergestellt. Am 1. Juli 2013 haben die irakischen Sicherheitskräfte nach mehrmonatiger Observation fünf Männer festgenommen, die in Bagdad drei illegale Werkstätten für die Herstellung von Sarin- und Senfgas eingerichtet hatten. Nach Angaben von Mohammed al-Askari, dem Sprecher des irakischen Verteidigungsministeriums, wurden bei den Razzien auch ferngesteuerte Kleinflugzeuge sichergestellt, mit denen die "Terroristen" das Giftgas über das jeweilige Zielgebiet zu versprühen beabsichtigt hatten. Bei den Festgenommenen handelte es sich bei allen um Angehörige von Al Kaida im Zweistromland, die sich wenig später bekanntlich in Islamischer Staat (IS) umbenennen sollte.

Auf der Pressekonferenz in Istanbul, über die die türkische Zeitung Today's Zaman unter der Überschrift "CHP Deputies: Gov't rejects probe into Turkey's role in Syrian chemical attack" ausführlich berichtete, haben die beiden oppositionellen Abgeordneten brisante Details der ihnen zugespielten Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft in Adana publik gemacht. Nach Angaben Erdems enthält die Dokumentensammlung unter anderem die Abschriften von Tonbandmitschnitten der Polizei, auf denen zu hören ist, wie das Al-Kaida-Mitglied Hayysam Kasap ausführlich mit türkischen Kontaktleuten über die Beschaffung von Giftgas sowie von Raketen, um die sarinhaltigen Kapseln zu verschießen, diskutiert. Als Quelle zumindest einiger der Komponenten für den Anschlag wird in der Akte der staatseigene Rüstungsbetrieb Makina ve Kimya Endüstrisi Kurumu (MKE) genannt. Laut Erdem zeigt die Tatsache, daß die türkischen Justizbehörden die dreizehn Verdächtigen kurz nach der Verhaftung wieder auf freien Fuß setzte und in den folgenden Jahren gegen keinen Anklage erhob, daß es die AKP-Regierung mit der "Terrorbekämpfung" nicht ernst meint.

Seker warf der AKP-Regierung und besonders dem damaligen Premierminister Erdogan vor, mit ihrer Behauptung, das Sarin für den Anschlag auf Ghouta stamme aus russischer Produktion, den Eindruck erwecken zu wollen, Assad hätte "die eigenen Leute" getötet, um die USA zu einer Militärinvention zu verleiten. Die in der Ermittlungsakte enthaltenen Informationen belegen nach Ansicht von Seker, daß vom türkischen Staatsterritorium aus ein gegen Syrien gerichtetes Kriegsverbrechen begangen wurde. Wegen Beteiligung an besagter Tat bzw. wegen Vertuschung derselben kündigte Seker im Namen der CHP Strafanzeige unter anderem gegen Erdogan, den damaligen Innenminister Muammar Gülen und den Staatsanwalt in Adana an.

In einem aufsehenerregenden Artikel, der bereits am 8. Dezember 2013 bei der London Review of Books veröffentlicht wurde, hatte der legendäre US-Enthüllungsjournalist Seymour Hersh zahlreiche Indizien aufgezählt, die den Vorfall von Ghouta als gemeinsame Inszenierung des türkischen Geheimdiensts MIT und der Al Nusra erscheinen ließen. Eine Bestätigung für Hershs These lieferte eine am 27. März 2014 bei Youtube veröffentlichte Audioaufnahme, auf der zu hören ist, wie der damalige Außenminister und heutige Premierminister Davutoglu, MIT-Chef Hakan Fidan und der stellvertretende Generalstabschef der türkischen Streitkräfte, Yasar Gürel, offen über Szenarien sprechen, wie sich Ankara einen Vorwand zur direkten Teilnahme am Krieg in Syrien verschaffen könne. Zu den in vertrauter Männerrunde erörterten Szenarien, die allesamt den "Terroristen" von der Al Nusra in die Schuhe geschoben werden sollten, gehörte unter anderem ein Raketenangriff vom syrischen Territorium aus auf Ziele in der Türkei.

Aktuell werden staatliche Stellen in der Türkei verdächtigt, für die beiden Bombenanschläge verantwortlich gewesen zu sein, die am 20. Juli in der nahe der Grenze zu Syrien liegenden Stadt Suruc 33 linke Aktivisten und am 10. Oktober in Ankara 102 Teilnehmer einer linken, pro-kurdischen Kundgebung töteten. Dem immer autoritärer agierenden Erdogan, der hinter beiden Bluttaten den IS bzw. die PKK zu vermuten behauptet, ist ein solch skrupelloses Vorgehen zuzutrauen. Schließlich hat der türkische Staatschef im Sommer den jahrelangen Friedensprozeß mit den Kurden aufgekündigt und Militärangriffe auf Stellungen der Miliz der Kurdischen Arbeiterpartei (PKK) veranlaßt, nur um die Chancen seiner AKP auf eine absolute Mehrheit bei den bevorstehenden Parlamentswahlen zu verbessern. Nur so glaubt Erdogan, sein erklärtes Vorhaben, in der Türkei ein Regierungssystem einzuführen, in dem der Präsident und nicht wie bisher der Premierminister über die meiste Exekutivgewalt verfügt, verwirklichen zu können.

23. Oktober 2015


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