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NAHOST/1446: Chaos in Libyen - drei Regierungen kämpfen um die Macht (SB)


Chaos in Libyen - drei Regierungen kämpfen um die Macht

NATO-Plan zur Stabilisierung Libyens dürfte das Gegenteil bewirken


Mit der Ankunft einer vom Ausland gebildeten Exilregierung in Tripolis tritt die Instabilität in Libyen in eine neue und vermutlich blutigere Phase ein. Ab jetzt streiten sich drei Regierungen um die Macht: erstens, der 2011 nach dem Sturz Muammar Gaddhafi entstandene und von Islamisten dominierte Allgemeine Nationalkongreß (General National Congress - GNC) in Tripolis; zweitens, der 2014 gewählte Abgeordnetenrat (House of Representatives - HoR), dessen Mitglieder sich wegen Spannungen mit dem GNC nach Tobruk im Osten des Landes abgesetzt hatten; und drittens, der am 20. Januar in Tunis mit ausländischer Hilfe ins Leben gerufene Präsidentenrat unter der Leitung des Geschäftsmanns Fadschez Al Sarradsch.

Wochenlang saßen Al Sarradsch und sein Kabinett in Tunis fest, weil der GNC ihnen die Landung am internationalen Flughafen von Tripolis verweigerte und Kämpfer der libyschen Dämmerung, des militärischen Arms des GNC, ihnen an der tunesischen Grenze die Einreise auf dem Landweg versperrten. Trotz Warnungen des GNC gingen Al Sarradsch und sechs seiner Minister am 30. März in der tunesischen Hafenstadt Sfax an Bord eines libyschen Kriegsschiffs, das sie zwölf Stunden später am Marinestützpunkt Abusita bei Tripolis wieder verließen. Unmittelbar nach seiner Ankunft erklärte Al Sarradsch vor der Presse, er und seine Kollegen würden sich "für eine Feuerpause in ganz Libyen, eine nationale Versöhnung und die Rückkehr der Binnenvertriebenen einsetzen" sowie "den Kampf gegen den Islamischen Staat aufnehmen".

Nun muß sich zeigen, ob sich Al Sarradschs Regierung der Nationalen Einheit, die derzeit von libyschen Marinesoldaten sowie Milizionären aus der Stadt Misurata geschützt wird, durchsetzen kann, ohne offen militärische Unterstützung aus dem Ausland anfordern zu müssen. Erste Etappensiege konnte Al Sarradsch bereits in den ersten Stunden nach der spektakulären Landung in Tripolis für sich verbuchen. Am selben Abend haben bewaffnete Männer, die angeblich im Auftrag der Einheitsregierung agierten, zwar mit Waffengewalt, dafür aber ohne Blutvergießen, den Fernsehsender Al-Nabaa, der dem GNC nahestand, geschlossen und die dort arbeitenden Journalisten aus dem Gebäude im Zentrum von Tripolis vertrieben. Am darauffolgenden 31. März haben die Kommunalräte in zehn Städten, die zwischen Tripolis und der Grenze zu Tunesien liegen, die neue Regierung der Nationalen Einheit anerkannt.

Mit finanziellen Mitteln sollen weitere Städte, Gemeinden, Milizen und Stämme dazu bewegt werden, die Machtansprüche des GNC bzw. des HoR nicht mehr anzuerkennen, sondern mit der neuen Regierung zusammenzuarbeiten. Al Sarradsch verhandelt bereits mit der Libyschen Zentralbank über die Freigabe von 85 Milliarden Dollar, die bislang wegen des politischen Streits zwischen GNC und HoR gesperrt waren. Mit einer solchen Geldsumme ließe sich im Krisenland Libyen politisch und wirtschaftlich bestimmt eine Menge bewegen. Darüber hinaus bietet die "internationale Gemeinschaft" an, Gelder des libyschen Staates in Höhe von 67 Milliarden Dollar bei ausländischen Banken, die seit dem von der NATO maßgeblich initiierten Sturz des "Regimes" Gaddhafi vor fünf Jahren vom UN-Sicherheitsrat gesperrt wurden, freizugeben. Man kann davon gehen, daß Al Sarradsch von jenem Geld zunächst größere Mengen westlicher Waffen kaufen wird, um den ausländischen Gönnern in Washington, London, Paris, Rom und Berlin seine Gefolgschaft zu demonstrieren und um weitere Milizen auf die Seite der neuen Regierung zu ziehen.

Man darf gespannt sein, wie lange der GNC und das HoR ihre Feindschaft gegenüber dem neuen Konkurrenten um die Macht in Libyen noch aufrecht halten. Im Dezember hatten Vertreter beider Gremien bei Verhandlungen in Marokko dem politischen "Fahrplan" des UN-Sondervermittlers Martin Kobler zugestimmt. Doch nach der Bildung der Regierung Al Sarradschs im Januar fand sich bei Abstimmungen in beiden Parlamenten keine Mehrheit, um sie als legitim anzuerkennen. In einer ersten Reaktion auf die Landung am Marinestützpunkt Abusita hat Khalifa Al Ghawi, der amtierende Premierminister des GNC, die neue Einheitsregierung als "illegal" bezeichnet und Al Sarradsch aufgefordert, entweder Libyen zu verlassen oder "sich auszuhändigen."

Unterdessen bereitet die NATO jene Militärintervention in Libyen vor, zu der die neue Einheitsregierung sie formal einladen soll. Zweck des Eingreifens soll die Bekämpfung des IS sein, der sich in Libyen ausbreitet und dessen Kämpfer inzwischen die Nachbarländer Tunesien und Algerien durch Anschläge und Überfälle zu destabilisieren versuchen. Immer wieder führen die US-Streitkräfte deshalb Luftschläge gegen IS-Ziele durch. Wie vor wenigen Tagen die Zeitung Middle East Eye bekanntmachte, operieren seit Anfang des Jahres britische und jordanische Spezialstreitkräfte in dem nordafkrikanischen Land, um IS-Stellungen auszuspähen und potentielle Verbündete unter den anderen Milizen zu suchen.

Auch wenn die Beseitigung der vom IS bedrohten libyschen Ölförderanlagen ein wichtiges Handlungsmotiv für die NATO darstellt, so dürfte die Flüchtlingsabwehr in den strategischen Erwägungen der verantwortlichen Politiker und Militärs in Europa und Nordamerika an vorderster Stelle stehen. Noch Mitte März hatte die italienische EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini in einem Brief an die europäischen Kollegen das Szenario an die Wand gemalt, daß sich demnächst 450.000 Flüchtlinge von Libyen aus in Richtung Norden über das Mittelmeer aufmachen könnten. Wie chaotisch sich die Lage in Libyen in den vergangenen fünf Jahren auch entwickelte, steht wohl zu befürchten, daß sich die Situation um einiges verschlimmern wird, sobald westliche Streitkräfte dort präsent sind.

Nicht von ungefähr hat Ägyptens Präsident, General Abdel Fattah Al Sisi, der NATO empfohlen, es der Armee des libyschen Ex-Generals Khalifah Hifter, die mit dem HoR zusammenarbeitet, zu überlassen, die staatliche Ordnung in Libyen wiederherzustellen und den IS zu bekämpfen. Unter ausdrücklichem Hinweis auf das seit Jahrzehnten anhaltende Chaos in Afghanistan und Somalia erklärte Al Sisi, mit einer "ausländischen Intervention" riskierten die Nordatlantiker, daß die Lage in Libyen "außer Kontrolle" gerate und es dort zu "unvorhersehbaren Entwicklungen" komme.

Leider sieht es so aus, als würden Al Sisis Ermahnungen auf taube Ohren stoßen. Bereits im Januar hatte der US-Generalstabschef Joseph Dunford bekanntgegeben, das Pentagon plane, demnächst ein "entscheidendes" Eingreifen in Libyen durchzuführen, und warte lediglich auf grünes Licht von Präsident Barack Obama. In einem Gastbeitrag, der am 27. März bei der Londoner Sunday Times in Reaktion auf die verheerenden Bombenanschläge fünf Tage zuvor in Brüssel erschienen ist, hat Großbritanniens einflußreicher Ex-Premierminister Tony Blair den Westen dazu aufgerufen, den IS notfalls auch mit eigenen Truppen überall dort zu bekriegen, wo die Dschihadisten "Territorium besetzt halten". Mit der von ihm gewohnt drastischen Rhetorik schrieb der frühere Chef der britischen Sozialdemokraten: "Zugelassen zu haben, daß sich der IS in Libyen direkt vor den Toren Europas zur größten Miliz entwickeln konnte, ist unglaublich. Er muß ausradiert werden."

In einem Interview mit dem britischen Nachrichtensender Sky News am 30. März hat Ephraim Halevy, der ehemalige Chef des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad, die Entscheidung des britischen Premierministers David Cameron und des damaligen französischen Präsidenten Nicola Sarkozy vom Frühjahr 2011, Gaddhafi zu stürzen, als einen der größten politischen Fehler der modernen europäischen Geschichte bezeichnet. Den Libyern beim Wiederaufbau neuer Institutionen nicht ausreichend geholfen und sie sich selbst überlassen zu haben, habe die Folgen des ursprünglichen Fehlers verstärkt. Nach Ansicht Halevys wird sich Libyen in den kommenden Monaten zum "größten Problem Europas" entwickeln. "Ich glaube, daß der Ärger, den Libyen bereitet, immens sein wird", prognostizierte er.

1. April 2016


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