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NAHOST/1461: Irak - Blutige Schlacht um Falludscha beginnt (SB)


Irak - Blutige Schlacht um Falludscha beginnt

Krieg der Konfessionen und der ausländischen Mächte zerstört den Irak


Aus dem territorialen Blickwinkel betrachtet sieht die aktuelle militärische Lage für die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) nicht besonders verheißungsvoll aus. In Osten Syriens marschieren Kämpfer der kurdischen Miliz YPG, die Hilfe von US-Spezialstreitkräften erhalten, vom Norden her auf die Stadt Rakka zu, während sich gleichzeitig die Syrische Arabische Armee (SAA) mit russischer Luftunterstützung vom Westen her der IS-Hochburg allmählich nähert. Im Irak haben die staatlichen Streitkräfte, sunnitische Stammesverbände und schiitische Milizen, auch Volksmobilisierungskräfte genannt, die jeweils von amerikanischen und iranischen und Militärberatern Unterstützung erfahren, den Belagerungsring um Falludscha geschlossen und mit der Rückeroberung der strategisch und symbolisch wichtigen Stadt begonnen. Bald dürfte nur noch Mossul, die zweitgrößte Stadt des Iraks und Hauptstadt der Provinz Ninawa, in den Händen der Dschihadisten sein.

Seit der illegalen, angloamerikanischen Irak-Invasion im März 2003 gilt Falludscha als Aushängeschild des sunnitischen Widerstands. Im November 2003 kamen dort 15 US-Militärs ums Leben, als ihr Hubschrauber von einer Boden-Luft-Rakete abgeschossen wurde. Im März 2004 gerieten vier Mitarbeiter der umstrittenen US-Sicherheitsfirma Blackwater in einen Hinterhalt. Die Zurschaustellung ihrer verbrannten Leichen, die von einer Brücke in Falludscha aufgehängt wurden, hat weltweites Entsetzen ausgelöst. Zur Vergeltung hat die US-Armee im selben Jahr im Rahmen einer großangelegten Offensive Falludscha praktisch dem Erdboden gleichgemacht. Angeblich wurden dabei 1200 Rebellen getötet. Dennoch fungierte die Stadt am Euphrat in den Jahren danach als Trutzburg von Al Kaida im Irak, aus der 2011 die Organisation Islamischer Staat im Irak und Syrien, der heutige IS, hervorging.

Im Zuge des Arabischen Frühlings kam es 2012 und 2013 seitens der sunnitischen Bevölkerung des Iraks zu massiven Protesten gegen deren systematische Benachteiligung durch die schiitisch-dominierte Zentralregierung in Bagdad. Premierminister Nuri Al Maliki ging gegen die Reformbefürworter, die er als "Terroristen" und "Al-Kaida-Sympathisanten" beschimpfte, mit äußerster Brutalität vor. Bei Zusammenstoßen und offenen Straßenschlachten in den mehrheitlich von Sunniten bewohnten Städten starben zahlreiche Menschen, die meisten von ihnen Zivilisten. Dies erklärt, warum 2014 der IS im Sturm Mossul und praktisch alle Städte der von Sunniten geprägten Provinz Anbar erobern konnte. Die irakischen Soldaten, von denen die allermeisten Schiiten waren, wußten, daß sie keinen Rückhalt bei den Einwohnern hatten, und sind einfach geflohen. Anfangs haben die einfachen Menschen in Mossul, Falludscha, Ramadi, Tigrit und anderswo den Einzug des IS und die Ausrufung des Kalifats begrüßt, weil sie dies als Befreiung von der Gewaltherrschaft der teheran-freundlichen schiitischen Kräfte in Bagdad empfanden.

Seit 2015 befinden sich die staatlichen irakischen Streitkräfte wieder auf dem Vormarsch, auch wenn sich dieser als langwierig erweist. Im vergangenen Frühjahr und zur Jahreswende 2015/2016 wurden Tigrit respektive Ramadi von IS zurückerobert. Die Militäroperationen an beiden Schauplätzen lassen für Falludscha und Mossul nichts Gutes erwarten. In beiden Fällen dauerte die Rückeroberung Monate statt Tagen oder Wochen. Durch den Artilleriebeschuß und die Luftangriffe der Angreifer einerseits, die Selbstmordanschläge und Verminung zahlreicher Gebäude durch die IS-Verteidiger andererseits wurden beide Städte schwer beschädigt und praktisch unbewohnbar gemacht. Nach der Einnahme von Tigrit ist es zudem zu schweren Greueltaten seitens schiitischer Milizionäre gekommen. Als Vergeltung für ein Massaker des IS an schiitischen Soldaten im Jahr 2014 haben sie Hunderte männlicher sunnitischer Bewohner der Stadt wegen des Verdachts der Kollaboration mit den Dschihadisten auf bestialische Weise ermordet.

Viele erfahrene Beobachter wie Nahost-Korrespondenten Patrick Cockburn von der britischen Zeitung Independent und Friedensforscher Professor Paul Rogers von der Universität Bradford befürchten, daß es sowohl bei als auch nach der Einnahme Falludschas zu ähnlichen Greueltaten kommen und daß dies das ohnehin schwer belastete Zusammenleben zwischen Sunniten und Schiiten im Irak sowie dessen Weiterexistenz als einheitlicher Staat gefährden könnte. Die Befürchtungen sind leider nicht von der Hand zu weisen. Entgegen dem ausdrücklichen Rat von US- Militärs, die an der Belagerung von Falludscha beteiligt sind, will die schiitische Al-Badr-Brigade die Stadt erstürmen, sobald die letzten Zivilisten sie verlassen haben. Dies erklärte Hadi al-Amiri, Chef der Badr-Brigade, am 4. Juni. Derzeit befinden sich rund 50.000 Zivilisten in Falludscha, die von rund 1000 IS-Kämpfer am Auszug aus der Stadt gehindert werden. In Falludscha soll die Versorgungslage katastrophal sein. Weil seit Wochen fast keine Lebensmittel mehr in die Stadt gelangen, sollen sich die letzten Einwohner von Tierfutter ernähren. Die IS-Freiwilligen sollen ein umfangreiches Tunnelsystem unter Falludscha angelegt haben und wollen angeblich bis zum letzten Mann kämpfen. Die Fixierung auf eine militärische Lösung des Problems IS läßt die Frage, wie sich im Irak - und in Syrien - ein friedliches Miteinander der verschiedenen ethnischen und religiösen Volksgruppen erreichen läßt, vollkommen unbeantwortet.

6. Juni 2016


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