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NAHOST/1488: Politisches Chaos in Bagdad erschwert Kampf gegen IS (SB)


Politisches Chaos in Bagdad erschwert Kampf gegen IS

Muktada Al Sadr widersetzt sich dem Machtstreben Nuri Al Malikis


Überschattet werden die Vorbereitungen für die für Ende Oktober geplante Großoffensive zur Rückeroberung der zweitgrößten irakischen Staat Mossul von einem heftigen diplomatischen Streit zwischen Bagdad und Ankara. Die Türkei verlangt, an der Operation zur Vertreibung der "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) aus der Hauptstadt der nordirakischen Provinz Ninawa beteiligt zu werden. Der Irak lehnt das Ansinnen als ungebetene ausländische Einmischung kategorisch ab. Auf die wiederholte Forderung des irakischen Premierministers, Haider Abadi, Ankara solle schleunigst seine Truppeneinheiten, die seit Ende 2015 auf einem Stützpunkt nahe Mossul kurdische Peshmerga sowie eine sunnitische Miliz unter der Leitung des letzten Gouverneurs von Mossul Athil Al Nudschaifi ausbilden, abziehen, reagierte am 11. Oktober der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan unwirsch. Der irakische Regierungschef habe "nicht den gleichen Rang" wie er, Erdogan; Abadi müsse "wissen, wo er steht", so das immer selbstherrlicher agierende Staatsoberhaupt der Türkei.

Derzeit werden Zehntausende Kämpfer für den Sturm auf Mossul zusammengezogen, darunter US-Elitesoldaten, sunnitische Stammeskrieger, irakische Armeeangehörige und schiitische Freiwillige der sogenannten Volkmobilisierungskräfte, die im Juli 2014 als Reaktion auf den Fall von Mossul aufgestellt wurden, um die damals drohende Einnahme Bagdads durch den IS zu verhindern. In Mossul selbst befinden sich rund 5000 irakische und ausländische IS-Dschihadisten, die seit Wochen eifrig Betonbarrieren errichten sowie ein umfangreiches Tunnelsystem anlegen. Am Stadtrand werden zudem Gräben ausgehoben und mit Rohöl gefüllt, um sie anzünden zu können. Die Rückeroberung der Stadt soll für die Angreifer so kostspielig und verlustreich wie möglich gemacht werden.

Was aus den 1,3 Millionen Zivilisten wird, die sich noch in Mossul aufhalten, weiß niemand. Vertreter von UNICEF und anderen Hilfsorganisationen vor Ort beklagen bereits jetzt, daß die Vorbereitungen auf die zu erwartende Flüchtlingswelle vollkommen unzureichend sind und sagen eine humanitäre Katastrophe voraus. Hinzu kommen Befürchtungen, es könnte wie zuletzt bei der Vertreibung von IS aus Tigrit, Falludscha und Ramadi zu Greueltaten schiitischer Milizionäre an sunnitischen Männern kommen wegen des Verdachts, Sympathisanten der Gotteskrieger vom IS zu sein. Um solche Vorfälle zu verhindern bzw. deren Anzahl so gering wie möglich zu halten, sollen vor allem gut ausgebildete Spezialstreitkräfte der irakischen Armee, unterstützt von westlichen Kampfjets sowie amerikanischer und französischer Artillerie, den Hauptkampf im Stadtinnern gegen IS bestreiten.

Die USA, deren Armeegeneräle die ganze Operation beaufsichtigen, stehen vor der komplizierten Aufgabe, für eine effektive Zusammenarbeit der an der Aktion beteiligten, rivalisierenden Gruppen zu sorgen. Führende Vertreter der schiitischen Miliz Asa'ib Ahl Al Haqq zum Beispiel, die sich 2004 von Muktada Al Sadrs Mahdi-Armee abgespalten hat, teheran-nah ist und angeblich dem direkten Befehl von General Qassem Suleimani, dem legendären Oberkommandeur der Al-Quds-Einheit der iranischen Revolutionsgarden, untersteht, drohen offen damit, türkische Truppen, sollten sich diese gegen den Willen Bagdads an der Mossul-Offensive beteiligen, anzugreifen - wodurch die Gefahr des Ausbruchs eines Krieges der Türkei nicht nur gegen den Irak, sondern auch noch gegen den Iran besteht. Im schiitischen Lager des irakischen Parlaments tobt zudem ein erbitterter politischer Machtkampf, der in Wechselwirkung mit dem militärischen Geschehen um Mossul steht.

Aktuell wird der Schiite Abadi von der starken schiitischen Fraktion um seinen Vorgänger als Premierminister, Nuri Al Maliki, politisch demontiert. In den letzten Wochen ist es der Al-Maliki-Kamarilla mittels Korruptionsvorwürfen gelungen, die zwei wichtigsten Vertrauensmänner Abadis, Finanzminister Hoschijar Zebari und Verteidigungsminister Khaled Al Obeidi, zum Rücktritt zu zwingen. Al Maliki, der von 2006 bis 2014 Regierungschef war und in dieser Zeit durch Ausgrenzung, Diskriminierung und Unterdrückung der Sunniten den konfessionellen Streit mit den Schiiten zur wahren Blüte trieb und damit wesentlich zur Entstehung von IS beitrug, hat es bis heute nicht verwunden, daß er vor zwei Jahren für den Fall von Mossul verantwortlich gemacht und von Washington und Teheran aus dem Amt gejagt wurde. Damals hat man Al Maliki mit dem politisch wenig bedeutenden Posten eines von drei stellvertretenden Präsidenten abgespeist.

Abadi hatte letztes Jahr im Rahmen einer Initiative zur Reform der Institutionen, Verschlankung des Staats und Bekämpfung der Korruption das dreifache Amt des Stellvertretenden Präsidenten abgeschafft. Al Maliki hat daraufhin gegen die Maßnahme geklagt und am 10. Oktober vom Obersten Gerichtshof Recht bekommen. Politische Beobachter glauben, daß Al Maliki seinen Widersacher Abadi noch rechtzeitig vor den nächsten Parlamentswahlen 2018 absägen will, um einen Getreuen aus der eigenen Dawa-Partei als Premierminister einzusetzen und aus dem Hintergrund heraus die Strippen ziehen zu können. Es besteht sogar den Verdacht, daß Al Maliki dafür sorgen will, daß die Mossul-Offensive zu einem kostspieligen, militärisch ineffektiven Unterfangen wird, weil er Abadi den Sieg über den IS nicht gönnt.

Gegen das allzu offensichtliche Machtstreben Al Malikis regt sich sowohl bei den sunnitischen und kurdischen Parlamentsabgeordneten als auch bei den anderen schiitischen Fraktionen Widerstand. Muktada Al Sadr, der Liebling der armen schiitischen Massen, der das Reformprogramm Abadis mittels spektakulären Massenprotesten, darunter auch im Sommer eine vorübergehende Besetzung des Regierungsviertels in der Grünen Zone Bagdads, vorantrieb, hat das Urteil zur Wiedereinsetzung Al Malikis als Stellvertretenden Präsidenten scharf kritisiert. Die höchstrichterliche Entscheidung sei "der Versuch, die Korruption wiedereinzuführen", erklärte Al Sadr auf einer Pressekonferenz am 12. Oktober. Für den 13. Oktober, auf den in diesem Jahr Aschura, der wichtigste schiitische Feiertag, fällt, rief er seine Anhänger zum erneuten Massenprotest gegen die Wiedereinsetzung von Al Maliki auf. Der Ausgang des Machtkampfs zwischen dem pro-iranischen Al Maliki und dem irakisch-nationalistischen Al Sadr, der sich stets für ein friedliches Zusammenleben von Sunniten und Schiiten im Zweistromland eingesetzt hat, wird darüber entscheiden, ob der Irak als einheitlicher Staat die aktuellen Wirrungen überlebt oder in seine ethnischen und religiösen Einzelteile zerfällt.

13. Oktober 2016


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