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NAHOST/1624: Palästina - abgeschlagen und vergessen ... (SB)


Palästina - abgeschlagen und vergessen ...


Überschattet von den verheerenden Kriegen im Jemen und in Syrien sowie der sich gefährlich zuspitzenden Konfrontation zwischen den USA und dem Iran versinkt der durch Israel und Ägypten seit 2006 von der Außenwelt abgeriegelte Gazastreifen mit seinen rund zwei Millionen Einwohnern in einer humanitären Krise biblischen Ausmaßes. Bereits 2015 haben Vertreter des Kinderhilfswerks UNICEF vor der Möglichkeit gewarnt, daß der Gazastreifen, jener am dichtesten bewohnte Fleck der Erde, bald "unbewohnbar" werden könnte. Langsam scheint sich diese Prophezeiung zu bewahrheiten - dank der Unnachgiebigkeit Tel Avivs sowie der Mittäterschaft Kairos und der Palästinensischen Autonomiebehörde mit Sitz in Ramallah im Westjordanland.

Am 24. September hat das Gesundheitsministerium in Gaza in einer öffentlichen Stellungnahme den desolaten Stand der medizinischen Versorgung dort beklagt. Demnach stehen den Krankenhäusern und Ärzten im Gazastreifen ganze 100 der 143 wichtigsten Medikamente im Bereich der Erstversorgung nicht zur Verfügung. Die Vorräte an weiteren 16 dieser Medikamenten werden innerhalb der nächsten drei Monate aufgebraucht sein, falls es nicht vorher neue Lieferungen gibt. Zu den Hauptleidtragenden der Medikamentenknappheit gehören Menschen mit chronischen Leiden wie Diabetes, hohem Blutdruck und Asthma. In den Krankenhäusern des Gazastreifens herrscht ein Mangel an Schmerzmitteln, zudem sind die Notleidenden wie die restliche Gesellschaft von der irregulären Stromversorgung aus Israel betroffen.

Unter letzteren beiden Umständen leiden ganz besonders die Menschen, die bei den Protesten am Grenzzaun von israelischen Soldaten angeschossen werden. Seit Beginn der Protestwelle am 30. März, mit der die Gaza-Bewohner die Einlösung ihres international verbürgten Rechts auf Rückkehr in ihre Heimatorte im heutigen Israel einfordern, wurden bislang 186 Palästinenser erschossen und weitere 18.000 schwer verletzt. Wegen der Dum-Dum-Geschosse, welche die israelischen Scharfschützen am Gazazaun verwenden, mußte einem Großteil der Angeschossenen ein Fuß oder ein Bein amputiert werden. Diese jungen Menschen, viele von ihnen noch im Schulalter, sind für ihr restliches Leben zu Krüppeln gemacht worden. Zum psychologischen Trauma kommt die Schwierigkeit, ohne ausreichende Schmerzmittel mit einer so extremen Verletzung klarkommen zu müssen. Angesichts einer solchen Entwicklung, die man kaum anders als gezielte Bestrafungsmaßnahme und Machtdemonstration der Israelis gegenüber dem palästinensischen Volk bezeichnen kann, wundert es nicht, daß das Gesundheitssystem im Gazastreifen längst an seine Kapazitätsgrenzen gestoßen ist.

Am 25. September veröffentlichte die Weltbank einen Bericht, in dem sie die Wirtschaftslage des Gazastreifens als "im freien Fall" befindlich beschrieb. Demnach ist die Ökonomie dort im ersten Quartal 2018 im Vergleich zu den letzten drei Monaten 2017 um 6 Prozent geschrumpft. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 50 Prozent; bei Jugendlichen sogar bei 70 Prozent. Marina Wes, die für die Region Nahost zuständige Direktorin der Weltbank, erklärte bei der Veröffentlichung des Berichts: "Eine Kombination aus Krieg, Isolation und internen Machtkämpfen hat die Wirtschaft in Gaza in den Ruin getrieben und das menschliche Leid dort verschärft." Nach Ansicht von Wes hat die wirtschaftliche Situation im Gazastreifen "einen kritischen Punkt erreicht".

Leider ist keine Besserung in Sicht. Das Gegenteil ist der Fall. Wegen der Deindustrialisierung in Gaza - eine Folge der abgebrochenen Handelsbeziehungen der Betriebe zur Außenwelt - sind die Menschen dort in einem weitaus stärkeren Ausmaß als etwa die Landsleute im Westjordanland auf internationale Hilfe sowie die Zuwendungen seitens der PA angewiesen. Beide gehen in letzter Zeit drastisch zurück. Auf Veranlassung von Präsident Donald Trump hat die US-Regierung vor kurzem alle Zahlungen Washingtons an das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) gestoppt. Wegen des anhaltenden Streits mit der in Gaza-Stadt regierenden Hamas-Bewegung kürzt zudem die von Präsident Mahmud Abbas Fatah kontrollierte PA in Ramallah ebenfalls ihre Zahlungen nach Gaza. Beamten, die der Hamas angehören, wurde der Lohn gestrichen. Auf Betreiben Tel Avivs hat die PA auch die Nothilfe für die Familien von Hamas-Mitgliedern, die in israelischen Gefängnissen einsitzen, gestrichen. Da es sich hier häufig um den Ernährer wie Vater oder älteren Bruder handelt, sind diese Familien nun mittellos.

Noch im August plante Katar, dessen Regierung der Moslembruderschaft und damit der Hamas nahesteht, einen Ausweg aus der Gaza-Krise zu präsentieren. Dies berichtete am 22. September die in Abu Dhabi erscheinende Zeitung The National. Demnach sollten die Hamas und Israel einen dauerhaften Waffenstillstand vereinbaren, woraufhin die Grenzübergänge wieder geöffnet worden wären und Doha Milliarden von Dollar in ein großangelegtes Wiederaufbauprojekt gesteckt hätte. Dagegen hat jedoch Ägypten, dessen Militärdiktatur bekanntlich mit der Moslembruderschaft im eigenen Land auf Kriegsfuß steht und seine Rolle als Hauptvermittler zwischen Tel Aviv, Ramallah und Gaza-Stadt nicht aufzugeben oder zu teilen bereit war, sein Veto eingelegt. Am 26. September meldete die liberale israelische Tageszeitung Ha'aretz, Kairo und Ramallah hätten beschlossen, daß es keine Einigung mit Israel geben wird, solange nicht die Hamas die Kontrolle über den Gazastreifen vollständig an die PA abgegeben habe. Nach Angaben der Ha'aretz wird diese Position von den meisten Nachbarstaaten, allen voran dem engen US-Verbündeten Saudi-Arabien, unterstützt.

28. September 2018


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