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NAHOST/1677: Iran - Europas Willige im Bunde ... (SB)


Iran - Europas Willige im Bunde ...


In den frühen Morgenstunden des 4. Juli haben rund 30 schwerbewaffnete Marineinfanteristen der königlichen britischen Marine in der Straße von Gibraltar von Hubschrauber und Schnellboot aus den 300.000 Tonnen schweren Supertanker Grace 1 gewaltsam geentert und unter ihre Kontrolle gebracht. Anschließend wurde die 28köpfige Mannschaft aus Indern, Pakistanern und Ukrainern gezwungen, mit dem Schiff vor Gibraltar vor Anker zu gehen, damit die Polizei dort Logbuch, Manifest und sonstige Dokumentationen kontrollieren könne. Zur Begründung der spektakulären Aktion hieß es seitens des Premierministers von Gibraltar, Fabian Picardo, es habe der dringende Verdacht des Verstoßes gegen EU-Wirtschaftssanktionen bestanden. Doch was für London einen grandiosen Vorgeschmack auf jenes selbstbewußte "Global Britain" darstellt, das die Welt nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union erwartet, betrachten die Iraner, wenn auch nicht Eigner des Schiffes, so doch zumindest des an Bord befindlichen Öls, als einen Akt reiner "Piraterie".

Schiffahrtexperten zufolge hatte die Grace 1 zuletzt im April am iranischen Ölterminal auf der Insel Kharg im Persischen Golf angedockt. Danach war der Supertanker um Afrika herum nach Gibraltar gefahren. Ob der Kapitän die weit kürzere Route durch das Rote Meer nicht genommen hat, weil das Schiff für den Suezkanal zu groß ist oder er eine Kontrolle durch die ägyptischen Behörden vermeiden wollte, ist unklar. Fest steht, daß die Grace I internationales Gewässer verlassen mußte, um die Straße von Gibraltar, die an ihrer engsten Stelle lediglich 14,3 Kilometer bzw. 7,7 Seemeilen breit ist, zu passieren. Die nationale Seegrenze eines jeden Staates verläuft 12 Seemeilen von der Küste entfernt. In der Straße von Gibraltar überschneiden sich folglich die territorialen Ansprüche Spaniens, Großbritanniens und Marokkos. Deswegen hat die Regierung in Madrid Protest gegen die Beschlagnahmung der Grace I erhoben, weil die Aktion aus ihrer Sicht in spanischen und nicht in britischen Gewässern erfolgte.

Darüberhinaus hat der spanische Außenminister Josep Borrell behauptet, die Aktion der Royal Marines sei auf Anweisung der USA erfolgt. Woher Borrell, der demnächst Außenbeauftragter der EU werden soll, dies weiß, ist unklar - aus NATO-Kreisen vermutlich. Derzeit ist die Regierung in London wegen der Brexit-Krise und des aktuellen Kampfs zwischen Außenminister Jeremy Hunt und seinem Amtsvorgänger Boris Johnson um den Vorsitz der konservativen Partei gelähmt. Die scheidende Premierministerin Theresa May gilt seit Wochen als handlungsunfähig. Gut möglich, daß Verteidigungsministerin Penny Mordaunt, die erst seit wenigen Wochen das Ministry of Defence (MoD) leitet und zu den pro-amerikanischen harten Brexiteers gezählt wird, den maritimen Überfall auf Drängen Washingtons veranlaßt hat. Auffällig ist, daß Donald Trumps Nationaler Sicherheitsberater, der notorische Kriegstreiber John Bolton, die Nachricht von der Kaperung der Grace 1 per Twitter gleich als "ausgezeichnet" bezeichnet hat. "Amerika & unsere Alliierten werden weiterhin verhindern, daß die Regime in Teheran und Damaskus von diesem illegalen Handel profitieren können", twitterte der ehemalige UN-Botschafter George W. Bushs.

Der Verweis Boltons auf Damaskus deckt sich mit der These, die unter panamaischer Flagge fahrende Grace 1 sei mit Rohöl beladen, das für Syrien vorgesehen war und in der syrischen Raffinerie Baniyas verarbeitet werden sollte. Daraus leiten die Briten den angeblichen Handlungszwang ab, denn der Handel mit Syrien unterliegt seit dem Ausbruch des Krieges dort im Jahr 2011 drakonischen Sanktionen der EU. Dem widersprechen die Angaben der Gruppe TankerTrackers.com, die per Satellit die Schiffsbewegungen im internationalen Ölhandel verfolgt. Nach der Analyse ihrer Experten, die in der Ausgabe der Middle East Eye vom 5. Juli zitiert wurden, ist die Grace I nicht mit Rohöl, sondern mit regulärem Treibstoff voll geladen, dessen Abnehmer sich zwar im Mittelmeer befinden dürfte, aber nicht zwangsläufig das mit EU-Sanktionen belegte "Regime" Baschar Al Assads sein müsse.

Seit Trump im Mai 2018 den einseitigen Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran verkündet hat, leidet die Volkswirtschaft der Islamischen Republik unter gravierenden Problemen wie steigender Arbeitslosigkeit und Inflation. Mit einer Politik des "maximalen Drucks" will Trump entweder für einen "Regimewechsel" in Teheran oder eine Unterwerfung der iranischen Regierung unter die Bedingungen Washingtons sorgen. Beide Szenarien sind extrem unwahrscheinlich. Darum muß Teheran Schritte unternehmen, um die Folgen des offenen Wirtschaftskrieges der USA zu lindern, der die iranischen Ölexporte, den größten Devisenbringer des Landes, von 2,5 Millionen Barrel pro Tag im Frühjahr 2018 auf zwischen 200.000 und 300.000 gedrückt hat. Angeblich ist eine Exportmenge von 600.000 Barrel pro Tag das absolute Minimum, das Teheran benötigt, um die Wirtschaft des Landes vor dem völligen Kollaps zu bewahren.

Deswegen waren die Gespräche, welche die Iraner am 28. Juni in Wien mit Vertretern Deutschlands, Frankreichs und Großbritanniens führten, so enttäuschend. Bei dem Treffen haben die Diplomaten der sogenannten EU-3, die 2015 neben China und Rußland und den USA zu den Unterzeichnerstaaten des Joint Comprehensive Plan of Action (JCPOA) gehörten, lediglich bestätigt, daß INSTEX, das im Januar 2019 von London, Paris und Berlin geschaffene Clearing House für den sanktionsfreien Handel mit dem Iran, endlich in Betrieb gegangenen sei, sich jedoch vorerst auf das Geschäft mit humanitären Gütern wie Medikamenten und Lebensmitteln beschränken werde. Eigentlich hatte man in Teheran erwartet, daß INSTEX den Ölexport in die EU wieder ermöglichen soll. Dem ist aber nicht so. Aus Angst vor den Sekundärsanktionen, mit denen Trumps Iran-Sonderbeauftragter Brian Hook bei jeder Gelegenheit droht, erfüllt INSTEX nichts weiter als eine Alibifunktion.

Als Reaktion auf die Boykotthaltung der USA und das Einknicken der Europäer haben die Iraner unter Verweis auf die Nichteinhaltung des JCPOA durch Washington, Berlin, London und Paris begonnen, sich nach Artikel 6 des Abkommens ebenfalls ihrer Verpflichtungen zu entledigen. Am 1. Juli hat der Iran erstmals seit 2015 die ihm im Atomabkommen zugestandene Höchstmenge an niedrig angereichertem Uran von 300 Kilogramm überschritten. Am 7. Juli werden Irans Atomwissenschafter beginnen, den Anreicherungsgrad des gewonnenen Urans von 3,6 Prozent - was für die Herstellung von Brennstäben zur Energiegewinnung ausreicht - auf 20 Prozent - was für die Behandlung von Krebspatienten erforderlich ist - zu erhöhen. Sollten sich die Europäer weiterhin weigern, dem Iran wirtschaftlich entgegenzukommen, ist auch die Wiederinbetriebnahme des Schwerwasserreaktors Arak, der vor vier Jahren unter Aufsicht von Inspekteuren der internationalen Atomenergieagentur (IAEA) eingemottet wurde und mittels dessen Teheran waffenfähiges Plutonium gewinnen könnte, geplant.

Die Iraner, speziell Außenminister Javad Zarif, der damals mit John Kerry den Atomdeal aushandelte, haben wiederholt erklärt, daß sie jederzeit bereit seien, ihren Verpflichtungen nach dem JCPOA in vollem Umfang nachzukommen, sobald dies die Gegenseite - wenn nicht die USA, denn immerhin Deutschland, Frankreich und Großbritannien - tut, und daß sie nicht tatenlos zusehen werden, wie ihre Volkswirtschaft von den NATO-Großmächten zugrunde gerichtet wird. Sollte die Grace 1 nicht bald freigegeben werden, wird der Iran demnächst mit der Aufbringung britischer Öltanker im Persischen Golf beginnen, erklärte am 5. Juli Generalmajor Mohsen Rezai, ranghohes Mitglied der Revolutionsgarde sowie Generalsekretär des mächtigen Schlichtungsrats in Teheran, der den obersten geistlichen Anführer, Ajatollah Ali Khamenei, berät. "Der islamische Staat Iran hat in seiner vierzigjährigen Geschichte niemals Feindseligkeiten begonnen, sich gleichwohl niemals gescheut, sich Tyrannen zu widersetzen", so Rezai. Bedenkt man die mysteriösen Minenangriffe auf mehrere Öltanker in der Straße von Hormus in den zurückliegenden Wochen, deutet der Vorfall von Gibraltar um die Grace 1 auf eine akute Kriegsgefahr hin.

6. Juli 2019


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