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NAHOST/1681: Ägypten - Mohammed Mursis zweiter Tod ... (SB)


Ägypten - Mohammed Mursis zweiter Tod ...


Nicht allzu viel Notiz haben Politik und Medien im Westen vom plötzlichen Tod Mohammed Al Mursis am 17. Juni bei einer Gerichtsverhandlung in Kairo genommen. Die fehlende Würdigung des ersten frei gewählten Präsidenten Ägyptens, der nach nur einem Jahr im Amt 2013 von der Armee gestürzt wurde, geht auf die enge Komplizenschaft zurück, die Israel, die europäischen Großmächte, die USA und Kanada mit der Diktatur pflegen, die vor sechs Jahren der damalige Verteidigungsminister Abdel Fatah Al Sisi am Nil errichtet hat. Die heutige Schreckensherrschaft des Generalissimus ist aus dem Blut Tausender Oppositioneller erwachsen, die Al Sisis Soldateska im Sommer 2013 im Zentrum Kairos mit Maschinengewehren niedergemäht hat. Seit dem Verbot von Mursis Moslembruderschaft gibt es in Ägypten praktisch keine innenpolitische Opposition mehr. Mehr als 60.000 tatsächliche oder mutmaßliche Dissidenten verrecken hinter Gittern und werden dort schwer mißhandelt, während auf der Halbinsel Sinai junge Rekruten im Kampf gegen irgendwelche "Islamisten" in Ägyptens eigenem "Vietnamkrieg" stecken.

Über das eine Jahr Mursis als Präsident gibt es unterschiedliche Urteile. Zugegeben, er hat an manchen Stellen zu sehr Rücksicht auf die eigene Wählerbasis genommen, zum Beispiel als er sich für die Wiedereinführung der Polygamie für Männer und eine Reduzierung des Heiratsalters für Mädchen aussprach sowie zur feierlichen Einweihung des neuen Papstes der koptischen Kirche nicht persönlich erschienen ist. Letzteres widersprach Mursis Versprechen, "Präsident aller Ägypter" zu sein. Dennoch hat er die Grenzübergänge zum Gazastreifen geöffnet, die Belagerung der Palästinenser durch Israel gelockert und sich um eine Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen Ägypten und dem Iran bemüht, was damals ein wichtiger Beitrag zur Entspannung im schiitisch-sunnitischen Verhältnis war. Die Lockerung der Gaza-Blockade und die Entspannungsbemühungen haben die mächtigen Nachbarn Israel und Saudi-Arabien gegen Mursi aufgebracht und das Ende des demokratischen Experiments in Ägypten besiegelt. Anders als damals geschildert, ging Mursi sehr wohl auf die liberalen Kräfte zu und forderte diese zur Mitarbeit in einer gemeinsamen Regierung auf. Statt dessen ließ sich die demokratische Jugend im Rahmen der Tamarod-Bewegung vom Militärgeheimdienst gegen Mursi und die Moslembruderschaft aufbringen - ein schwerer Fehler, den Ägyptens Liberale noch lange bereuen werden.

Zum Ende seines Lebens stand Mursi wegen Spionage für die palästinensischen Hamas-Bewegung vor Gericht. Seit 2013 war er bereits zu mehreren langjährigen Haftstrafen wegen der angeblichen Ermordung von Regierungsgegnern sowie der Weitergabe staatlicher Geheimnisse an Katar, das in der islamischen Welt neben der Türkei als wichtigster politischer Verbündeter der Moslembruderschaft gilt, verurteilt worden. Mursi litt an Diabetes. Seine Nieren waren dadurch nur begrenzt funktionsfähig. Bereits 2018 hatte eine Delegation britischer Parlamentarier nach einem Gefängnisbesuch bei Mursi öffentlich über die unwürdigen und vom Standpunkt der Sorgepflicht absolut mangelhaften Haftbedingungen protestiert, die sie dort vorfanden. Nach dem Ableben Mursis warf dessen Sohn Abdullah dem amtierenden Innenminister Mahmud Tawfik, dessen Vorgänger Magdy Abdel Ghaffar, Geheimdienstchef Abbas Kamel, Generalstaatsanwalt Nabil Sadek sowie mehreren Richtern vor, seinen Vater ermordet zu haben. Sie hätten Mursi nicht nur über Jahre die notwendige medizinische Versorgung vorenthalten, sondern dafür gesorgt, daß er nach dem Zusammenbruch in seiner abgekapselten Glaszelle im Gerichtssaal zwanzig Minuten lang am Boden zappelnd den Kampf um sein Leben verlor, weil ihm keinerlei Notfallhilfe zuteil wurde, so sein Sohn.

Inzwischen gibt es Hinweise, daß beim Tod Mursis nicht nur passive, sondern auch aktive Sterbehilfe im Spiel war. Am 25. Juni wartete der langjährige Nahost-Korrespondent David Hearst bei der angesehenen Onlinezeitung Middle East Eye mit einem spektakulären Bericht über die Umstände des grausigen Vorfalls im Gerichtspalast von Kairo auf. Laut Hearst stand Mursi im Frühjahr unter massivem Druck seitens der Al-Sisi-Regierung. Aus Gründen fehlender Legitimität der herrschenden Clique hatte diese im Frühjahr dem früheren Professor der Ingenieurswissenschaft ein erstaunliches Angebot gemacht: Freilassung gegen offiziellen Verzicht auf das Amt des Präsidenten, Auflösung der Moslembruderschaft sowie Rückzug aus der aktiven Politik. Hearst gibt als Quelle dieser Informationen ihm bekannte ägyptische Oppositionelle an, die er natürlich nicht namentlich nennt, von denen aber einer mit eigenen Augen die von der Regierung verfaßte Erklärung gesehen haben soll, die Mursi bis Ende des muslimischen Fastenmonats Ramadan am 3. Juni unterschreiben sollte.

Mursi blieb jedoch standhaft, weigerte sich, der Forderung seiner Peiniger nachzukommen und hat damit sein eigenes Todesurteil unterzeichnet. Was am fraglichen Nachmittag im Gerichtssaal geschah, beschreibt Hearst in seinem bewegenden Artikel wie folgt:

In den letzten Augenblicken bat Mursi den Richter eindringlich darum, Geheimnisse mitteilen zu können, die er bis dahin selbst seinem Anwalt vorenthalten hatte. Mursi erklärte, er müsse unter Ausschluß der Öffentlichkeit die Informationen offenbaren - eine Bitte, die der gestürzte Präsident in der Vergangenheit mehrmals wiederholt hatte, die ihm aber nie gewährt wurde. Vor dem Gericht stehend sagte Mursi, er werde die Geheimnisse für sich behalten bis er sterbe oder Gott treffe. Kurz darauf brach er zusammen.

16. Juli 2019


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