Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

USA/1312: Obama entschärft den Raketenabwehrstreit mit Rußland (SB)


Obama entschärft den Raketenabwehrstreit mit Rußland

Weißes Haus signalisiert dem Kreml Entgegenkommen - fürs nächste Jahr


Zu den wichtigsten Errungenschaften der Außenpolitik Barack Obamas gehört der sogenannte "Reset" in den Beziehungen der USA zur Russischen Föderation. Nach acht Jahren neokonservativen Unilateralismus unter der Führung des Republikaners George W. Bush hat der Demokrat Obama Rücksicht auf die Interessen Rußlands genommen und mit Moskau 2010 ein neues strategisches Abkommen über eine deutliche Reduzierung des gemeinsamen Bestands an Atomwaffen unterzeichnet. Doch das Festhalten der Obama-Regierung an dem von der Bush-Administration geplanten Raketenabwehrsystem - wenn auch in leicht abgewandelter Form - hat im Kreml den Verdacht aufkommen lassen, die Amerikaner meinten es mit der Partnerschaft auf Augenhöhe nicht ernst, sondern strebten weiterhin eine waffentechnologische Überlegenheit an, die dem Pentagon im Ernstfall die Durchführung eines nuklearen Erstschlags ermöglichte, ohne sich allzu viele Gedanken über russische Vergeltungsmaßnahmen machen zu müssen.

Die Bedrohung, die vom amerikanischen Raketenabwehrsystem für die russische Zweitschlagskapazität ausgeht, hat sich in den vergangenen Jahren zu einer schwerwiegenden Belastung der bilateralen Beziehungen entwickelt. Auf den Bau von Abwehrraketenbatterien in Rumänien und spezieller Radaranlagen in der Türkei hat Moskau in letzter Zeit mit der Ankündigung, den Wehretat Rußlands kräftig aufzustocken und die Ausrüstung seiner Streitkräfte auf den neuesten Stand zu bringen, reagiert. Was die Russen an der Haltung der USA besonders verärgert, ist die kategorische Weigerung Washingtons, seine Beteuerung, das Raketenabwehrsystem richte sich ausschließlich gegen Schurkenstaaten wie den Iran und Nordkorea und werde niemals gegen Rußland benutzt werden, schriftlich aufs Papier zu bringen und Moskau die gewünschte Sicherheitsgarantie zu geben.

Wegen der unterschiedlichen Position in dieser Frage wird es in diesem Jahr am Rande des NATO-Gipfels in Chicago keine NATO-Rußland-Konsultationen geben. Premierminister Wladimir Putin, der am 7. Mai als neuer und alter Präsident Rußlands vereidigt wird, wird 11 Tage später am Treffen der G8 in Camp David, dem Landsitz des US-Präsidenten im Bundesstaat Maryland, teilnehmen, danach aber wieder abreisen und nicht nach Chicago fliegen. Das gab am 23. März die russische Nachrichtenagentur Interfax bekannt. Am selben Tag hat Präsident Dmitri Medwedew, der demnächst das Amt des Premierministers wieder übernimmt, auf einer vom russischen Rat für Auswärtige Angelegenheiten organisierten Sicherheitskonferenz in Moskau, an der unter anderem der ehemalige US-Verteidigungsminister William Perry und der ehemalige US-Abrüstungsunterhändler Richard Burt teilnahmen, den Unmut des Kremls zum Ausdruck gebracht und die Forderung nach einer schriftlichen Garantie erneuert.

Am 26. März, dem ersten Tag des Gipfels für Nuklearsicherheit in der südkoreanischen Hauptstadt Seoul, hat Obama für die Sorgen Moskaus Verständnis gezeigt. In einem vertraulichen Vier-Augen-Gespräch zwischen dem amerikanischen und russischen Präsidenten, das über ein nicht abgeschaltetes Mikrophon von anwesenden Journalisten mitgehört und -geschnitten wurde, erklärte Obama Medwedew, wegen der Präsidentenwahl in diesem Jahr in den USA könne er Moskau im Streit um das Raketenabwehrsystem nicht entgegenkommen. Er stellte jedoch in Aussicht, nach seinem voraussichtlichen Sieg im November "mehr Flexibilität" zu haben, auf daß beide Seiten im kommenden Jahr einen akzeptablen Kompromiß aushandeln könnten. Der US-Präsident bat Medwedew, Putin zu auszurichten, er solle ihm, Obama, in dieser Frage "Raum verschaffen" - will heißen, ihn nicht allzusehr bedrängen. Das russische Staatsoberhaupt äußerte Verständnis für die innenpolitischen Sachzwänge seines amerikanischen Amtskollegen und versprach seinerseits, die wichtige Botschaft an "Wladimir" weiterzuleiten.

In den USA wurde die Unterredung Obamas mit Medwedew nach der Ausstrahlung des entsprechenden Tonabschnitts im Radio und Fernsehen gleich zum Politikum. Der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat der Republikaner, der ehemalige Gouverneur von Massachusetts Mitt Romney, sah im Zwiegespräch von Seoul eine "alarmierende und beunruhigende Entwicklung", so, als würde der Diplomat Obama seine Hauptaufgabe als Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte, das amerikanische Volk vor Gefahren zu schützen, vernachlässigen. Der Vorsitzende des US-Repräsentantenhauses, der Republikaner John Boehner, wollte seinerseits wissen, was Obama mit "Flexibilität" gemeint habe.

Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz am 27. März in Seoul, auf der Einzelheiten eines amerikanisch-russischen Projektes zur Aufräumung eines ehemaligen sowjetischen Atomwaffentestgeländes in Kasachstan bekanntgegeben werden sollten, hat Obama die Kontroverse um seine Zusicherung an Medwedew heruntergespielt. Er habe lediglich sagen wollen, daß eine Einigung im Streit um das Raketenabwehrsystem wegen der diesjährigen Präsidentenwahlen in Rußland und den USA nicht erreichbar wäre. Bis zum kommenden Jahr sollten die Unterhändler beider Seiten die technischen Aspekte einer möglichen Kompromißlösung ausloten, so Obama.

Medwedew stimmte dem Führer der demokratischen Partei der USA zu, feuerte aber gleichzeitig eine Breitseite in Richtung der Republikaner ab. Er warf Romney, der am Tag zuvor Rußland als "geopolitischen Gegner Nummer Eins" der USA bezeichnet hatte, vor, sich billiger "Hollywood-Klischees" zu bedienen. Er empfahl Romney und Konsorten, ihre Kalter-Krieg-Reflexe endlich abzulegen. "Schauen Sie auf Ihre Uhr. Wir haben 2012 und nicht Mitte der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts. Egal, zu welcher Partei man gehört, sollte man die politische Realitäten zu Kenntnis nehmen", so Medwedew.

27. März 2012