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USA/1351: Snowden-Interview löst Macho-Reflexe bei John Kerry aus (SB)


Snowden-Interview löst Macho-Reflexe bei John Kerry aus

Amerikas führender Whistleblower bringt Washington in die Defensive



Weltweit tobt der Streit um die Bedeutung der Enthüllungen Edward Snowdens, demzufolge der elektronische Nachrichtendienst der USA, die National Security Agency (NSA), praktisch den kompletten Telefon- und Internetverkehr der Menschheit abspeichert, um Verwertbares abzuschöpfen, auf hohem Niveau. In Washington ringen Kongreßabgeordnete und Senatoren seit Monaten um eine Gesetzesnovelle, welche die einst heimliche Praxis eindämmen soll. Wegen des erbitterten Widerstands der Regierung Barack Obamas, die auf die neuen Ausspähmöglichkeiten nicht verzichten will und als Rechtfertigung die alte Leier von der Terrorismusbekämpfung spielt, ist mit keiner neuen Regelung zu rechnen, die dem verfassungsmäßigen Gebot der Unverletzlichkeit der Privatsphäre des Bürgers gerecht wird, sondern eher mit einem faulen Kompromiß. Aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten der USA verzichten in Deutschland Regierung und Parlament auf eine Befragung Snowdens durch den entsprechenden Untersuchungsausschuß, während sich die Generalbundesstaatsanwalt mit den von der NSA begangenen, massenhaften und bis heute noch stattfindenden Verstößen gegen die Rechte der deutschen Bürger schlicht nicht befassen will.

In der amerikanischen Öffentlichkeit hat ein Interview, das die Nachrichtenredaktion des Fernsehsenders NBC als erste US-Medienanstalt vor kurzem mit dem fast ein Jahr im russischen Exil befindlichen Snowden führte und am Abend des 27. Mai ausstrahlte, hohe Wellen geschlagen. Seit Beginn der Enthüllungen versuchen die Obama-Regierung und die Anhänger des nationalen Sicherheitsstaates im Washingtoner Kongreß den 30jährigen Snowden zum rangniedrigen Computertechniker abzustempeln, der aus Geltungssucht bzw. wegen eines psychologischen Minderwertigkeitskomplexes die Überwachungsmethoden der NSA publik gemacht und dadurch die Bekämpfung des internationalen "Terrorismus" à la Al Kaida erschwert habe sowie aller Wahrscheinlichkeit nach vom russischen Geheimdienst zum Landesverrat angestiftet wurde. Im Interview mit Nachrichtenmoderator Brian Williams, das nach NBC-Angaben im Moskauer Hotel Kempinski geführt wurde, ist der Whistleblower, den Abermillionen US-Bürger für einen Helden halten, dieser Version der Geschichte energisch entgegengetreten.

Hatte Obama selbst Snowden abfällig als "Hacker" bezeichnet, der es nicht wert wäre, daß man ihm die US-Luftwaffe hinterherschicke, so stellte der einstige Angestellte des privaten Sicherheitsdienstleisters Booz Allen Hamilton fest, daß er während seiner früheren Aufenthalte in Japan, der Schweiz und auf Hawaii "undercover" für die NSA und die Central Intelligence Agency (CIA) tätig war. Darüber hinaus behauptete er, für die Defense Intelligence Agency (DIA) neue Rekruten in Sachen Computersicherheit unterrichtet zu haben. Snowden begründete die Entscheidung, den Journalisten Glenn Greenwald und die Filmemacherin Laura Poitras im vergangenen Juni in die umstrittenen Überwachungspraktiken der NSA eingeweiht und ihnen dazu zahlreiche geheime Dokumente übergeben zu haben, mit der Sorge über die staatliche Gesetzlosigkeit. Seine patriotische Pflicht und nichts anderes habe ihn dazu veranlaßt, auf sein bisheriges, "sehr komfortables Leben" einschließlich des Kontakts zu seiner Familie und seinen Freunden zu verzichten, behauptete er.

Auf die Frage von Williams, warum er ausgerechnet in Wladimir Putins Rußland Zuflucht genommen habe, antwortete Snowden, dazu sollte man besser das Außenministerium in Washington um Aufklärung bitten. Er sei damals auf der Durchreise von China nach Kuba gewesen und am Moskauer Flughafen gestrandet, als ihm das State Department seinen Reisepaß für ungültig erklärt habe; aus Angst vor einem unfairen Prozeß in den USA habe er Asyl in Rußland beantragen müssen, sagte er. An dieser Stelle betonte Snowden erneut, daß er alle in seinem Besitz befindlichen Geheimdokumente Greenwald und Poitras in Hongkong übergeben habe und somit nichts an die russischen Geheimdienste habe "verraten" können.

In einer Stellungnahme anläßlich der bevorstehenden Ausstrahlung des Williams-Snowden-Gespräches und in Reaktion auf vorab veröffentlichte Ausschnitte hat US-Außenminister John Kerry am frühen 27. Mai mit einem Macho-Spruch versucht, den flüchtigen Ex-NSA-Mitarbeiter als Schwächling und Feigling zu diffamieren. Der Vorwurf, das Außenministerium sei für sein russisches Exil verantwortlich, sei "ziemlich dumm"; Snowden sollte sich "endlich wie ein Mann benehmen" und in die USA zurückkehren, um den von ihm losgetretenen Kampf um Privatsphäre auszufechten, wenn ihm das so wichtig sei, so der ehemalige Senator aus Massachusetts.

In den sozialen Medien wie Facebook und Twitter sowie auf den Kommentarseiten der großen US-Medien im Internet hat Kerrys Verhaltensempfehlung an die Adresse Snowdens einen Sturm der Entrüstung und des Hohns ausgelöst. Viele Menschen haben die Verwendung des neusprachlichen Verbs "man up" als frauenfeindlich kritisiert. Wenn Snowden eine Frau gewesen wäre, wozu hätte Kerry ihr geraten, fragten einige. Andere wiederum bezeichneten den Vietnamkriegsveteranen als alternden, patriarchalischen Schwachkopf, der den Kontakt zur heterogenen, gesellschaftlichen Realität der USA von heute verloren habe.

Ben Wizner von der American Civil Liberties Union (ACLU), der Snowden anwaltlich vertritt, hat Kerry der Verlogenheit bezichtigt. Amerikas Chefdiplomat wisse ganz genau, daß Snowden wegen der ganzen Geheimhaltung bei Prozessen im Bereich nationaler Sicherheit nicht die geringste Chance hätte, sich angemessen vor Gericht zu verteidigen, weshalb die Aufforderung, in die USA zurückzukehren, fast einer Einladung zum Selbstmord gleichkomme, so Wizner. Einige linke Publizisten meinten sogar, Snowden hätte erst dann eine Chance auf einen fairen Prozeß, wenn das Justizministerium gegen den Director of National Intelligence James Clapper, der im Frühjahr 2013 bei einer Anhörung den Kongreß über das Ausmaß der NSA-Spionage im Innern belog, Anklage erhebt.

Was die Glaubwürdigkeit betrifft, so schneidet Snowden in der öffentlichen Wahrnehmung weiterhin besser ab als die verschiedenen Vertreter der Obama-Administration. Seit Beginn der Affäre im vergangenen Juni hat die NSA mehrmals bestritten, daß Snowden vor seinem Gang an die Presse auf dem internen, behördlichen Weg seine Bedenken gegen eine ausufernde Überwachung vorgetragen hätte. Nach dem NBC-Fernsehinterview sah sich die NSA zur Veröffentlichung einer elektronischen Korrespondenz zwischen ihrer Rechtsabteilung und Snowden von April 2013 veranlaßt. Letzterer wollte offenbar wissen, ob ein Exekutivbefehl des Präsidenten - die rechtliche Grundlage des großen NSA-Lauschangriffs - schwerer wiege als ein vom Kongreß verabschiedetes Gesetz. Die Antwort des Office of General Counsel der NSA an Snowden war recht schwammig. Bundesgesetze rangieren vor dem Executive Order (EO) des Präsidenten, letzteres kann jedoch in bestimmten Fällen - gemeint ist der alles rechtfertigende globale Antiterrorkrieg - volle Gesetzeskraft erlangen, so die führenden Juristen der NSA.

30. Mai 2014