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BERICHT/063: Eurokrake Sicherheit - Ökonomische Verfügungsgewalt im Staatsprojekt EU (SB)


Staatsprojekt Europa

Workshop auf dem entsichern-Kongreß in Berlin am 29. Januar 2011

Prunkvolle Auslage für Hochzeitswillige - © 2011 by Schattenblick

Thron und Altar ... Glücksversprechen der Klassenherrschaft
© 2011 by Schattenblick

"Frankreich fehlt der Wille, sich vom allumfassenden Sozialstaat zu verabschieden" stellt NZZ Online am 6. März 2011 in der Unterüberschrift eines Artikels fest, in dem die mangelnde Bereitschaft der französischen Regierung beklagt wird, den neoliberalen Reformprozeß fortzusetzen. Als ob es immer noch um die Wacht am Rhein ginge: "Frankreichs Exportwirtschaft ist gegenüber der deutschen Konkurrenz ins Hintertreffen geraten". Festgemacht wird dies an angeblich zu hohen Löhnen und Sozialleistungen, die sich Frankreich zum Preis einer gegenüber Deutschland sinkenden Exportquote leiste. Hatte Finanzministerin Christine Lagarde deutschen Politikern noch vor einem Jahr vorgeworfen, "sie stärkten durch die forcierte Senkung der Produktionskosten und die Drosselung der Binnennachfrage in unfairer Weise und zu Ungunsten der anderen EU-Staaten die eigene Exportwirtschaft", so habe sich dieses Verhältnis inzwischen diametral verändert: "Deutschland ist nicht mehr Buhmann, sondern Vorbild für die Pariser Regierung" [1].

Die für "die Deutschen schmerzhaften Strukturreformen", die die Bundesrepublik seit der sogenannten Wiedervereinigung durchgeführt habe, werden in dem wirtschaftsliberalen Schweizer Blatt nicht nur in diesem Beitrag zum Vorbild einer internationalen Wettbewerbsfähigkeit erhoben, die die Frage nach der Lebensqualität der lohnabhängigen und versorgungsbedürftigen Bevölkerung ebenso ignoriert wie den fragwürdigen Charakter einer Exportorientierung, die zu Lasten der eigenen Binnenwirtschaft und sozialer Leistungen geht. Die Standortlogik der neoliberalen Marktwirtschaft zwingt zur Kostensenkung überall dort, wo nicht die Kapitalakkumulation, sondern die Daseinsvorsorge im Mittelpunkt steht. Global betrachtet stellt der Versuch, andere Volkswirtschaften mit Exportvorteilen niederzukonkurrieren, eine Form der Verdrängung dar, die die Basis des darüber geschaffenen Wachstums zerstört. Wenn alle Staaten nach dem Vorbild der Bundesrepublik die Mehrung des nationalen Produkts durch Warenexport betrieben, reduzierte sich die Zahl kaufkräftiger Abnehmer dementsprechend. Großen Handels- und Leistungsbilanzüberschüssen stehen äquivalente Defizite gegenüber, ist doch im Wettbewerb der Nationalökonomien der eigene Gewinn immer der Verlust des anderen.

Die monetaristische, auf Preisstabilität orientierte Politik der Europäischen Währungsunion (EWU) soll nicht nur den Warenumlauf im Binnenmarkt optimieren. Die Eurozone, die eines Tages alle EU-Staaten umfassen soll, wurde dazu geschaffen, das ökonomische Gewicht der ihr zugehörigen Staaten ins kapitalistische Weltsystem zu projizieren. Die Volkswirtschaften der Mitgliedstaaten sollen sich zu einer wirtschaftlichen Größe addieren, die es in der internationalen Konkurrenz auch mit den USA aufnehmen und sich gegenüber wachstumsstarken Wirtschaftsmächten wie China behaupten kann. Daß dies nur sehr bedingt gelungen ist, liegt zum einen an der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise und zum andern an dem EU-internen Standortwettbewerb, der den der Vorteil, an einer prospektiven Leitwährung teilzuhaben, mit dem Nachteil erheblicher Handels- und Leistungsbilanzdifferenzen belastet.

Dies war auch Thema im zweiten Teil des Workshops "Staatsprojekt EU", dessen Inhalt zum Anlaß zusätzlicher Überlegungen zu seitdem erfolgten Entwicklungen genommen werden soll. Am Beispiel Frankreich und Deutschland führte der Referent Jörg Kronauer die Dominanz des in der Bundesrepublik angesiedelten Kapitals aus. Fast ein Drittel aller Exporte in der Eurozone werden von Deutschland getätigt, während der französische Anteil in den letzten zehn Jahren stetig gesunken ist. 2009 hat Deutschland einen Außenhandelsüberschuß von 135 Milliarden Euro erzielt, während Frankreich ein Außenhandelsdefizit von 43 Milliarden Euro hinnehmen mußte. Kronauer hält den Wegfall der europäischen Wechselkurse durch die Währungsunion für einen Hauptvorteil des in Deutschland angesiedelten Kapitals. So stände die Industrie seitdem in direkter Konkurrenz zu den Unternehmen in den anderen Eurostaaten, wie der Referent mit einem Zitat der Wirtschaftswoche vom 18. Januar 2010 illustrierte: "Im gemeinsamen Währungsraum gibt es gegen Angriffe mit sinkenden Lohnstückkosten und Produktivitätsfortschritten keine Gegenwehr".

Die Lohnzurückhaltung der deutschen Arbeiter, vertreten durch Gewerkschaften, denen ein national bestimmtes Interesse wichtiger ist als die Konstitution einer europäischen Arbeiterklasse, geht vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Währung, die das Ausgleichen von Handels- und Leistungsbilanzunterschieden durch Auf- und Abwertungsprozesse ausschließt, zu Lasten ihrer Kolleginnen und Kollegen in Frankreich und anderswo. Problematisch für die deutschen Kapitaleliten wird dieses Mißverhältnis, wenn die Grundlage dieser speziellen Form der Vorteilsnahme, die EWU, durch die nicht mehr gewährleistete Refinanzierbarkeit der Staatsdefizite einiger Mitgliedstaaten wie Griechenland, Irland, Portugal in Frage gestellt wird. Wie Kronauer ausführte, könnte das nicht nur den möglichen Ausstieg dieser besonders mit Schulden belasteten Staaten zur Folge haben. Auch hierzulande wird laut über eine Rückkehr zur DM oder die Aufspaltung der Eurozone in einen reicheren westeuropäischen und einen ärmeren süd- und osteuropäischen Teil nachgedacht. Doch sind diese Überlegungen bislang nicht weit gediehen, statt dessen hat man sich für ein Maßnahmepaket entschieden, bei dem die 17 Eurostaaten die befristete Europäische Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF) mit Garantien in Höhe von 440 Milliarden Euro ausstatten und für den unbefristeten Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) ab 2013 bis zu 500 Milliarden Euro zur Refinanzierung überschuldeter Mitgliedstaaten bereitstellen werden.

Des weiteren sieht der am 11. März 2011 von den 17 Staats- und Regierungschefs der Eurozone beschlossene "Pakt für Wettbewerbsfähigkeit" vor, die Konvergenzkriterien des Euro durch früher greifende Sanktionen zu verschärfen und neoliberale Strukturreformen voranzutreiben. Der nun "Pakt für den Euro" genannte Maßnahmenkatalog nimmt die Steuereinnahmen der Mitgliedstaaten für einen Leistungsbeweis in die Pflicht, der letztlich in der weiteren Auszehrung öffentlicher Haushalte zugunsten der Kapitalverwertung im allgemeinen und der Einlagen der Banken in überschuldeten EU-Staaten im besonderen besteht. Da das nationale Steueraufkommen die einzige Finanzierungsquelle der EU-Staaten ist, wird der Beweis ihrer Kreditwürdigkeit durch die Einspeisung eines wachsenden Teils der erarbeiteten Einkommen in die Sicherung von Kapitalinteressen vollzogen. Zu diesem Zweck verlangt der Pakt für den Euro

"Arbeitsmarktreformen zur Förderung der 'Flexicurity', zur Bekämpfung von Schwarzarbeit und zur Steigerung der Erwerbsbeteiligung; lebenslanges Lernen; Steuerreformen, beispielsweise indem die auf den Faktor Arbeit erhobenen Steuern gesenkt werden, damit sich Arbeit lohnt (...)" [2].

Im Klartext bedeutet dies, die Menschen noch effizienter einer Arbeitsgesellschaft zu unterwerfen, welche den Niedriglohnsektor und prekäre Beschäftigungsverhältnisse ausbaut, die für viele Menschen letzte Möglichkeit, sich anhand von informellen Erwerbsmöglichkeiten über Wasser zu halten, zu vernichten, sie mit dem Diktat der Selbstoptimierung dazu zu nötigen, auf eigene Kosten verwertungstaugliche Fähigkeiten zu erlernen und den Steueranteil der Unternehmen zu Lasten der Sozialtransfers zu senken.

Dabei läuft der Versuch, Standortvorteile durch neoliberale Strukturreformen zu erwirtschaften, auf eine Verallgemeinerung des deutschen Modells hinaus, die im Ergebnis eine Nivellierung der Defizitkonjunktur zur Folge hätte. Sollten die anderen EU-Staaten ihre Leistungs- und Handelsbilanzdefizite gegenüber der Bundesrepublik unter neoliberalen Bedingungen abbauen, so würde das Übergewicht der deutschen Exportwirtschaft zu Lasten einer allgemeinen Verschärfung der Lebensbedingungen der EU-Bürger reduziert. Mit der Einhaltung der verlangten Zurückhaltung bei Lohnabschlüssen im öffentlichen Bereich, den Maßnahmen zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Unternehmen, der Aufhebung der in einigen Eurostaaten gesetzlich verankerten Bindung der Löhne an die Inflationsentwicklung und der gesetzlichen Festschreibung einer Schuldenbremse wäre das Gegenteil der Forderung keynesianischer Ökonomen erreicht, das deutsche Übergewicht durch stärkeren Lohnzuwachs in der Bundesrepublik zu regulieren. Die im Pakt für den Euro verlangte Kopplung der Löhne an die Produktivität bindet die Arbeiter noch enger in die Erwirtschaftung der konjunkturpolitischen und unternehmerischen Ziele ein, was ihre Position in Arbeitskämpfen noch mehr schwächt.

Zwar hat Bundeskanzlerin Angela Merkel sich beim Treffen der Staats- und Regierungschefs am 11. März nicht damit durchsetzen können, den Pakt für Wettbewerbsfähigkeit als verbindliche Maßnahme zu verabschieden [3]. Die nun erfolgte Festlegung auf die eigenstaatliche Durchsetzung dieser Maßnahmen und deren alljährliche Überprüfung durch die Staats- und Regierungschefs der Eurozone weist zwar noch nicht die Eingriffstiefe der Spardiktate auf, die die EU-Kommission und der Internationale Währungsfonds (IWF) Ländern wie Griechenland und Irland, die Kredite des EFSF und IWF in Anspruch nehmen, verordnet haben. Die im Pakt für den Euro festgelegte Bevorteilung des Kapitals geht jedoch in einem Maße zu Lasten der Erwerbsarbeit und Sozialtransfers, daß seine neoliberale Marschrichtung als politisches Bekenntnis der EU-Regierungen für bare Münze genommen werden muß.

Eine Einschränkung nationalökonomischer Vorteile macht für die deutschen Kapitaleliten nur Sinn, wenn die EU als Ganzes in den Stand versetzt wird, Drittstaaten mit niedrigen Lohnstückkosten niederzukonkurrieren und den Weltmarkt in ihrem Sinne ordnungspolitisch zu beeinflussen. Das Gewicht der deutschen Kapitalmacht soll, wenn es schon auf europäischer Ebene verallgemeinert wird, in eine globale Handlungsfähigkeit münden, die die ökonomische und politische Schlagkraft der Bundesrepublik weltweit stärkt. Zu diesem Zweck ist Merkel zu Zugeständnissen bereit, auch wenn sie nicht die Zustimmung aller Politiker der Regierungskoalition findet, wie die Beschwerde über die von ihr zugestandene Möglichkeit zeigt, daß der ESM Staatsanleihen von anderen Eurostaaten aufkauft [3]. Weil dies das vertragliche Verbot aushebelt, laut dem sich Eurostaaten nicht direkt refinanzieren dürfen, läuft diese Maßnahme auf die sogenannte Transferunion hinaus, lautet deren Kritik. Diese sogenannte No-bail-out-Klausel soll gewährleisten, daß die Eurostaaten für ihre finanzpolitischen Entscheidungen allein geradestehen, anstatt einer im Sinne nichteingehaltener Konvergenzkriterien unsoliden Haushaltsführung zu frönen und damit nicht nur die eigene Kreditwürdigkeit, sondern auch die der Gläubigerstaaten zu beschädigen.

Dem Einspruch gegen die allmähliche Verwandlung der EU von einer Währungs- in eine Transferunion liegt das Interesse deutscher Kapitaleliten zugrunde, die relative ökonomische Schwäche anderer EU-Staaten auch in Zukunft zu eigenen Gunsten ausnutzen zu können. Eine europäische Integration auch wirtschaftlicher Art hätte letztlich eine einheitliche Fiskal- und Konjunkturpolitik zur Folge, wodurch die individuellen Stärken und Schwächen der einzelnen Volkswirtschaften eingeebnet würden. Damit entfiele ein wesentliches Druckmittel, anhand dessen die Lohnforderungen nationalen Arbeiterschaften gegeneinander ausgespielt werden können. Das Kapitalverhältnis ließe sich nicht mehr wie bisher durch den Übertrag des Standortwettbewerbs auf die Ansprüche der lohnabhängig Beschäftigten regulieren, sondern könnte sich in der gesamten Eurozone als klassischer Antagonismus zwischen Kapital und Arbeit etablieren.

Was anhand der strikten Auflagen, mit der Griechenland und Irland ihre Haushalte sanieren und ihre Standortbedingungen für Investoren attraktiv machen sollen, exemplarisch vorgeführt wird, hat den Charakter einer Disziplinaranstalt, in der die Starken die Schwachen so lange kujonieren, bis diese sich ihren Forderungen unterwerfen. De facto ist eine Transferunion durch die Übertragung der Kreditwürdigkeit wirtschaftlich starker auf ökonomisch schwächere Eurostaaten bereits etabliert. Was ihre deutschen Gegner in den Harnisch bringt, ist die umgekehrte Schwächung der eigenen Bonität durch Defizite, die im ersten Schritt durch den Wettbewerbsvorteil der deutschen Exportwirtschaft entstanden. Diesen zu bewahren, ohne sich für die Behebung der Verluste anderer Eurostaaten verantwortlich zu zeigen, provoziert jedoch das Auseinanderbrechen der Eurozone und damit eine Schwächung des BRD-Einflusses, die ebensosehr vermieden werden soll.

Um die erreichte Hegemonie Deutschlands in der EU zu sichern und zu verhindern, daß den Forderungen der von Lohn und Sozialtransfers abhängigen Menschen Tür und Tor geöffnet wird, macht die Verallgemeinerung des deutschen Modells der restriktiven Arbeitsgesellschaft durchaus Sinn. Die präventive Zerschlagung einer potentiell grenzüberschreitenden Klassenformation der Lohnabhängigen und Versorgungsbedürftigen erfolgt über die generelle Schwächung ihrer Forderungen nach sozial gerechter Daseinsvorsorge und Überlebenssicherung. Neben der Aufrüstung staatlicher Repressionssysteme zur offenen Aufstandsbekämpfung und zu einer informationstechnischen Observation, die die Atomisierung der Bevölkerungen mit der Schärfe eines datenelektronischen, die individuelle Erfassung und Evaluation optimierenden Seziermessers vorantreibt, wird dazu eine Sachzwanglogik ins Feld geführt, die auch unter sozial benachteiligten Menschen Zustimmung zu den sie bedingenden Zwangsverhältnissen generieren soll. Deren materieller Gewaltcharakter wird durch den Begriff des Marktes, der irreduziblen Selbstregulation der "unsichtbaren Hand", verschleiert und durch den Blick auf Weltregionen, in denen Herrschaftsicherung und Mangelregulation mit weniger versteckter Brutalität vollzogen wird, relativiert.

Je mehr die EU als staatlicher Akteur in Erscheinung tritt, desto mehr erkennen ihre ökonomisch ausgebeuteten und politisch fragmentierten Subjekte den Antagonismus, in dem sie sich ihr gegenüber befinden. Mit fortschreitender europäischer Integration und Föderalisierung, mit der weiteren Kompetenzübertragung von nationaler auf supranationaler Ebene schwindet die bürokratische Anonymität ihres administrativen Apparats und wird angreifbar. Von daher setzt die Vergemeinschaftung repressiver und sozialfeindlicher Strategien bei den Betroffenen unausweichlich emanzipatorische Potentiale frei. Diese auszuhebeln ist die Absicht reformistischer, nationalistischer und sozialrassistischer Doktrine. Die Menschen sollen als Teilhaber des sie bedingenden Widerspruchs gewonnen werden, anstatt sich auf eine Seite desselben zu stellen.

So kann auch die vermeintliche Rückkehr zu keynesianischen Konzepten der staatlichen Alimentierung kein Anlaß zur Genugtuung sein, ist diese doch der Refinanzierung des Finanzkapitals und nicht der Reproduktion sozialer Lebenswelten gewidmet, so daß es sich praktisch um eine keynesianische Bemäntelung neoliberaler Politik handelt. Diese bestimmt den Charakter des Staatsprojekts EU um so mehr als den eines Akteurs in einem sozialdarwinistischen Kampf, in dem die postulierten Werte zu Waffen seiner erfolgreichen Bewältigung mutieren. So hat Bundeskanzlerin Angela Merkel am 13. Mai 2010 bei der Verleihung des Internationalen Karlspreises an den polnischen Premierminister Donald Tusk in Aachen die angebliche Wertegemeinschaft Europäische Union als tatsächliche Verwertungsordnung herausgestellt:

"Der Euro ist unsere Währung. Und er ist doch mehr als eine Währung. Er ist der bisher weitreichendste Schritt auf dem Weg der europäischen Integration. Der Euro steht für die europäische Idee." [4]

Wäre diese Idee tatsächlich demokratischer Art, dann wäre sie in einem langfristigen konstitutionellen Prozeß zustandegekommen, für den das mehrheitliche Interesse der lohnabhängigen und versorgungsbedürftigen Bevölkerungen maßgeblich gewesen wäre. Die EU sozialfreundlich zu gestalten, anstatt zur Beute des Kapitals zu machen, hätte das Aufgehen souveräner Staatssubjekte in einem föderalen Bundesstaat EU vorausgesetzt, was wiederum nur mit der demokratischen Einbindung aller Bürger möglich gewesen wäre. Demgegenüber formierte sich das Staatsprojekt Europa über die kriegerische Zerschlagung eines potentiellen Alternativentwurfs, des multiethnischen, den inneren Ausgleich mit föderalen und sozialistischen Elementen anstrebenden Jugoslawiens, über die Etablierung einer Beitrittsprozedur, die die rechtlichen und institutionellen Voraussetzungen der Expansion des EU-Kapitals sichert, und die Ausrichtung der europäischen Volkswirtschaften auf den globalen Standortwettbewerb, artikuliert durch den Lissabon-Prozeß des Jahres 2000, der die EU innerhalb von zehn Jahren zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der Welt machen sollte. Neben einer investorenfreundlichen Steuerpolitik mit ruinösen Flat-Tax-Auswüchsen sowie der Unterordnung zentraler Grundrechte unter die Niederlassungs-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehrsfreiheit gehört die Agenda 2010 der Bundesregierung unter Gerhard Schröder zur neoliberalen Rezeptur anwachsender Nötigung und Entrechtung aller Menschen, die dem Leistungsprimat der europäischen Einigung nicht genügen.

"Scheitert der Euro, dann scheitert nicht nur das Geld. Dann scheitert mehr. Dann scheitert Europa, dann scheitert die Idee der europäischen Einigung." [4]

Merkels mythische Befrachtung des Euro mit Zwecken und Zielen, die ein Tauschwertäquivalent nicht befördern kann, dient der Verschleierung einer Systemkrise, die sich nicht durch das Laborieren an ihren Kompensationsmechanismen bewältigen läßt. Der innere Widerspruch des durch mikroelektronische Rationalisierungsprozesse beschleunigten Kapitalverhältnisses, durch fortschreitende Produktivkraftentwicklung Erwerbsarbeit zu vernichten, wird durch das Fantasma einer Stärke überblendet, in dem sich der Produktivitätszuwachs sozialrassistisch und imperialistisch artikuliert. Die Krise der Staatsfinanzen ist nicht umsonst keiner unerwarteten ökonomischen Fehlentwicklung, sondern dem politischen Willen, die Bestandssicherung des Kapitals über die manifest werdende Verwertungsproblematik hinauszutreiben, geschuldet.

Das "mehr", das laut Merkel hinter der Währung Euro aufscheint und als "europäische Idee" überdeterminiert wird, findet seinen materiellen Niederschlag in den Verlusten, die die Kapitalakkumulation in anwachsendem Maße produziert. Verlust an Lebensqualität, an natürlichen Ressourcen, an ökonomischer Subsistenz, an kultureller Autonomie, an demokratischer Selbstbestimmung - die synchron verlaufenden globalen Krisen kommen im Bild eines Brandes zu sich selbst, dessen wärmende Hoffnung auf Reichtumsproduktion so nichtig wie seine Veraschung unumkehrbar ist. Das größere Ganze der längst als Not- und Schicksalsgemeinschaft apostrophierten EU erteilt keine Auskunft darüber, wie es den in Arbeitsprozesse und Zwangsverhältnisse, die stets weniger hervorbringen als das, was den davon Betroffenen genommen wurde, gebannten Subjekten ergeht. Um zu ahnen, welche Auswirkungen die kapitalistische Vergesellschaftung im Staatsprojekt EU zeitigen wird, lohnt es sich, genau hinzuhören:

"Und jenseits des Ökonomischen wagen wir nach der gemeinsamen Währung vielleicht weitere Schritte, zum Beispiel den hin zu einer gemeinsamen europäischen Armee. Am Ende geht es um unsere Werte und Grundsätze: Demokratie, Wahrung der Menschenrechte, nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum, eine stabile Währung, sozialer Frieden. Das 21. Jahrhundert kann Europas Jahrhundert werden." [4]

Am Beispiel der Zeitschrift Internationale Politik (IP), herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), neben der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) der einflußreichste Thinktank der Bundesrepublik, führte Kronauer aus, das Merkel zumindest von einem Teil der deutschen Eliten bereits als eine Art EU-Kanzlerin betrachtet wird. Man spricht ihr "Richtlinienkompetenz im Kreis der 27 Staats- und Regierungschefs" zu und stellt fest, daß gerade die Krise des Euro gezeigt habe, daß in der EU ohne Deutschland nichts gehe. Auf dem Treffen in Deauville, bei dem Angela Merkel und Nicolas Sarkozy über die Bewältigung der Euro-Krise berieten, wäre praktisch ein Diktat über die Köpfe der gleichzeitig tagenden EU-Finanzminister beschlossen worden, was dem IP-Autoren zur Untermauerung seiner These dient, die wesentlichen Entscheidungen der EU würden durch Koalitionen zwischen Regierungen getroffen. Diese setzten sich damit zu Lasten anderer EU-Staaten durch, was sich im Falle der Eurokrise daran zeigte, daß Merkel und Sarkozy den südeuropäischen Schuldnerstaaten ihre Politik aufoktroyieren konnten.

Auch für Kronauer spiegelt sich in dieser Machtpraxis das Streben der Bundesrepublik nach weltpolitischer Bedeutung, wozu sie sich seit jeher der europäischen Einigung bediente, die damit zur hegemonialen Trittleiter Deutschlands geworden sei. Der Referent dokumentierte dies mit Zitaten wie dem des Politikberaters und ehemaligen IP-Herausgebers Werner Weidenfeld, der das "integrierte Europa" 2003 als eine in Teilen sogar den USA überlegene "Weltmacht im Werden" bezeichnete. Als wesentlich für diesen Machtanspruch erachtete man in dem von Weidenfeld geleiteten Centrum für angewandte Politikforschung (CAP) den Charakter der EU als "offenes System, das auch im Prozeß der Staatswerdung fähig ist, noch neue Mitgliedstaaten aufzunehmen". Selbst wenn diese Form der kontinuierlichen territorialen Expansion derzeit aufgrund der EU-immanenten Bruchlinien eher zurückhaltend betrieben wird, ändert das nichts an den hegemonialen Absichten der EU. Diese dokumentierte Kronauer mit einem Zitat der Bertelsmannstiftung aus dem Jahr 2006, als dort prognostiziert wurde, in den kommenden Jahren gehe "der unipolare Moment vorüber, in dem die Vereinigten Staaten das alleinige Zentrum der Weltpolitik ausmachten".

Der damit vor allem in den Blickpunkt gerückte Aufstieg Chinas beschäftigt die Regierungsplaner und Politikberater seit langem und ist ein Grund mehr dafür, daß die Bundeskanzlerin ihr Heil und das der sie stützenden Kapitalinteressen in der Europäisierung des eigenen Hegemonialstrebens sucht. Der europapolitische Tenor deutscher Politik, von Kronauer mit dem Zitat Merkels aus dem Frühjahr 2007 belegt, daß die "Idee der europäischen Einigung (...) auch heute noch eine Frage von Krieg und Frieden" sei, ist allemal aggressiver Art. Was mit der europäischen Einhegung Westdeutschlands in der Nachkriegszeit begann, hat sich in ein Instrument der Restauration Deutschlands zur Großmacht verwandelt. Wie zentral dabei die Stellung des Euro in seinem Aufstieg zur internationalen Reservewährung, in der fast 30 Prozent der globalen Devisenreserven angelegt sein sollen, ist, belegt das offensichtlich vordringliche Ziel der Bundesregierung, ihn auch zum Preis einiger Zugeständnisse zu stabilisieren.

Die Überhöhung des Euro zur "europäischen Idee" dementiert alles, was nicht erst seit dem Zweiten Weltkrieg an Visionen zur Aufhebung kriegerischer Überwältigungen und nationaler Differenzen entworfen und vorgedacht wurde. Der humanistische und aufklärerische Gehalt bürgerlicher Emanzipation seit der Französischen Revolution war stets mit der Idee eines Friedens verbunden, der die gewaltsame Unterwerfung anderer Völker und Aneignung ihrer Territorien zumindest für den eigenen europäischen Kulturraum ausschließen sollte. Die zivilisatorische Suprematie, den Rest der Welt zur Beute kolonialer Landnahme zu erklären, und die kapitalistische Transformation der gesellschaftlichen Produktivität als Mittel bürgerlicher Herrschaft führte zur Entstehung revolutionärer Bewegungen, deren Internationalismus neue Horizonte der Überwindung nationalstaatlicher Konkurrenz eröffnete und denen der sozialistische Charakter neuer Staatenbildung selbstverständlich war.

Auch um ein derartiges, insbesondere in den Ländern des Südens vermutetes und in den Revolten des Nahen und Mittleren Ostens manifestes Aufbegehren wirksam zu verhindern, hat die EU ihr außenpolitisches Handlungsvermögen gestärkt. Mit dem Lissabon-Vertrag wurde der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) als eine Art europäisches Außenministerium geschaffen. Laut Jörg Kronauer wurde die britische Politikerin Catherine Ashton zur Hohen Vertreterin der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik, so der offizielle Titel der EAD-Chefin, berufen, weil man sie als besonders schwach eingeschätzt hat, so daß man über ihren Kopf hinweg europäischen Außenpolitik betreiben kann. Kronauer wies anhand der Personalpolitik im EAD und den außenpolitischen Parallelstrukturen zwischen europäischen Nationalstaaten und Europäischer Union institutionelle Widersprüche mit der praktischen Folge einer gerade im Fall der großen EU-Staaten in nationaler Souveränität aufrechterhaltenen Außenpolitik nach. Dies illustrierte er anhand der deutschen Interessen in Zentralasien, die etwa im Falle Usbekistans dazu führen, daß die Bundesregierung der im Rahmen der EU gemeinsam konzipierten Politik den eigenen Stempel aufdrückt. Auch stehe die europäische Außenpolitik in Afrika im Zeichen starker Konkurrenz zwischen Deutschland und Frankreich, was sich unter anderem darin ausdrücke, daß deutsche Konzerne kaum die Möglichkeit besitzen, ihre Geschäftsinteressen in den Staaten der Frankophonie zu verfolgen.

Abschließend ging Kronauer auf die militärische Integration der EU ein, die von den Strategen der großen EU-Staaten fast einhellig gefordert wird. Dabei gehe es vor allem um eine effizientere Form der Aufrüstung im Rahmen industrieller und organisatorischer Zentralisierungsstrategien, aber auch um die Einbeziehung von EU-Staaten, die als Kriegsmächte bislang noch nicht in Erscheinung traten, in den Prozeß der Militarisierung. Getragen wird diese Entwicklung nicht nur von konservativen Parteien, sondern gerade auch sozialdemokratischen Politikern und Think Tanks. Deren weniger intensiv ausgeprägte Verankerung in nationalistischer Ideologie wirkt sich vorteilhaft auf die grenzüberschreitende Zusammenarbeit im militärischen Bereich aus. Die bedeutsame Rolle, die sozialdemokratische Parteien bei europäischen Projekten wie dem Überfall der NATO auf Jugoslawien oder der Einführung des Workfare-Konzeptes gespielt haben, bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erläuterung, um auf die Unentbehrlichkeit sogenannter progressiver Kräfte bei der Durchsetzung kapitalistischer Imperative zu verweisen.

Mit der Kondensierung der Vielfalt menschlicher Lebenswelten auf die Einfalt des Homo oeconomicus wird die europäische Idee zu einem Herrschaftskonzept verkürzt, das die Verwertung des Menschen über das ganze Spektrum vom Innersten seiner physischen Konstitution bis zum äußersten seiner lebensweltlichen Gestalt betreibt. Humangenetisch auf Leistungs- und Risikopotentiale hin evaluiert, sicherheitsechnokratisch vom Kontostand über den Freundeskreis bis auf die Zellstruktur durchleuchtet, wissenstechnisch und beruflich durch die Anforderungen des Arbeitsmarktes fremdverfügt, sozial zur Monade schuldhafter Eigenverantwortung atomisiert, politisch auf den Konsens eines antiextremistisch formierten Pluralismus eingeschworen verkommt der postmoderne Europäer zum Partikel einer Produktivität, die sich in ihrer Verwertungslogik so sehr gegen ihn selbst kehrt, wie sie im industriellen Output mörderischer Waffen nach außen strahlt.

Mehr als die Aussicht auf neue soziale Konflikte hat der disparate Charakter der europäischen Vergemeinschaftung nicht zu bieten. Da die Grundlage staatlicher Gemeinwesen, die sozialen und politischen Werte, die sie konstituieren, in diesem Fall meist ex post bestimmt werden, ist das Ergebnis in besonders großem Ausmaße realpolitischen Interessen unterworfen. "Kerneuropa" läßt grüßen - was Unionspolitiker bereits Anfang der 1990er Jahre gefordert haben und was vertraglich durch die Möglichkeit der Verstärkten Zusammenarbeit einzelner Mitgliedstaaten fixiert wurde, vertieft sich mit der Europäischen Währungsunion (EWU) als sozialökonomische Hierarchie aus Zentrum und Peripherie, deren einzelstaatliche Teile wiederum in hochproduktive Metropolenregionen, auf Ver- und Entsorgung ausgerichtete Durchgangs- und Serviceperipherien sowie weitgehend abgekoppelte Landschaften zerfallen. Das Verwertungsprimat, das diese Asymmetrien konkurrenzadäquat ausdifferenziert, bedarf der Fortentwicklung des Nationalstaats zur qualifizierten Verfügungsgewalt einer supranationalen Ordnung ebensosehr, wie diese ihre sinn- und impulsgebende Kraft aus dem Anspruch schöpft, in einer Welt der Überlebenskonkurrenz auf der Seite der Gewinner zu stehen.

Fußnoten:

[1] http://www.nzz.ch/nachrichten/wirtschaft/aktuell/der_abstand_zu_deutschland_waechst_1.9780339.html

[2] http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/119824.pdf

[3] http://www.german-foreign-policy.com/de/fulltext/58027

[4] http://www.bundesregierung.de/Content/DE/Rede/2010/05/2010-05-13-karlspreis.html

17. März 2011