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BERICHT/071: "Revolution... and no end?" - Diskussion mit ägyptischen Aktivisten in Hamburg (SB)


Revolutionseuphorie und -ernüchterung in Ägypten

Diskussionsveranstaltung in Hamburg am 16. September 2011

Revolutionsfrühling - Menschenansammlung auf dem Tahrir-Platz am 8. Februar 2011 - © by mona 2011, Creative Commons-Lizenz [1]

Revolutionsfrühling - Tahrir-Platz in Kairo am 8. Februar 2011
© by mona 2011, Creative Commons-Lizenz [1]

Als vor einem halben Jahr Massenproteste in arabischen Staaten zu Präsidentenrücktritten, scheinbaren Umstürzen politischer Systeme und sogenannten Revolutionen führten, erlebte der gesamte Raum des Nahen und Mittleren Ostens sowie der nordafrikanischen Maghreb-Staaten eine Welle politischer Euphorie und Begeisterung, aber auch ernsthafter Inangriffnahme bis dahin für unerreichbar gehaltener demokratischer Gestaltungsfragen. Wenn nicht buchstäblich über Nacht, so doch binnen weniger Wochen und Monate wurden politische Schlagworte und Thesen, die hiesige Linke zumeist nur aus historischen Bezügen kennen oder in revolutionstheoretische Diskussionszirkel verorten würden, zu einer gelebten Realität, die ungeachtet der noch völlig offenen Zukunft dieser erst an ihrem Beginn stehenden, tiefgreifenden politischen Entwicklungen aus Sicht derer, die den Status Quo tradierter Herrschaftsstrukturen zu bewahren trachten, nur als Bedrohung empfunden werden konnte.

Die Aussage, der Funke der Revolution würde von einem Land zum nächsten springen und eine Dynamik entfalten, die, sollte sie erst einmal einen bestimmten Siedepunkt überschritten haben, eine unumkehrbare Stufe politischer Emanzipation und Demokratisierung bewirken, schien sich eins zu eins in Deckung bringen zu lassen mit einer Entwicklung in der Region, die in dem Ausdruck "Arabischer Frühling" ihr Äquivalent fand. Zunächst in Tunesien und alsbald auch in Ägypten führte diese Entwicklung zu Rücktritten langjähriger Despoten, die einem Massenprotest weichen mußten, der sich ungeachtet ihrer vorherigen, in Jahrzehnten der Repression scheinbar felsenfest zementierten Herrschaft nicht mehr brechen und zurückdrängen ließ.

In Ägypten gelang einer Jugend- und Protestbewegung, der sich, je größer sie wurde, mehr und mehr Menschen anschlossen und die sich über die sozialen Netzwerke organisierte, das für unmöglich Gehaltene: Präsident Mubarak trat am 11. Februar zurück. Die Euphorie kannte keine Grenzen. Millionen Menschen feierten ihren Sieg auf dem Tahrir-Platz, dem zentralen Platz Kairos und zugleich auch dem Symbol einer "Revolution", wie die Protest- bzw. friedliche Umsturzbewegung von ihren AktivistInnen selbst genannt wurde. Der Jugend Ägyptens flogen nicht nur die Sympathien regierungskritischer Kräfte all jener westlichen Staaten zu, deren Regierungen die repressive Herrschaft Mubaraks in den 30 Jahren ihres Bestehens unterstützt hatten, sondern - erstaunlicherweise - auch der hochoffiziellen Kreise, sprich nämlichen Regierungen, der Europäischen Union und weiteren internationalen Organisationen.

Der Begriff "Revolution", der in staatstragenden Organen und Institutionen vor gar nicht langer Zeit nicht einmal mit spitzen Fingern angefaßt, sondern einzig und allein als inakzeptable Bedrohung aufgefaßt worden wäre, wurde spätestens mit den "Revolutionen" in Tunesien und Ägypten salon- und gesellschaftsfähig, sieht man einmal davon ab, daß diese im Stillen vollzogene begriffliche Umbewertung nicht hier und heute, sondern bereits in den sogenannten "bunten Revolutionen" südosteuropäischer Staaten sowie ehemaliger Sowjetrepubliken ihren Anfang genommen hatte (1999 in Serbien, 2003 in Georgien, 2004 in der Ukraine, 2005 Kirgisien). Es würde an dieser Stelle zu weit führen, im einzelnen der Frage nachzugehen, inwieweit sich die Instrumentalisierung, um nicht zu sagen Initialisierung derartiger "Revolutions"-Prozesse und -Bewegungen durch den Westen widerspruchsresistent nachzeichnen läßt.

Die jüngsten Beispiele, sprich die als erfolgreich geltenden "Revolutionen" in Tunesien und Ägypten, bieten allen Interessierten und beteiligten AktivistInnen die Gelegenheit, anhand eigener Kriterien der Frage nachzugehen, wie es um die Errungenschaften dieser sogenannten "Revolutionen" ein halbes Jahr später bestellt ist. Die mediale Berichterstattung in den westlichen Staaten wie auch die Haltung ihrer Regierungen, die in die anfängliche Euphorie noch mit eingestimmt hatten, spricht hier eine deutliche Sprache, zog doch der internationale Troß scheinbar pro-revolutionärer Kommentatoren nach dem Sturz Mubaraks ungerührt weiter, überließ die zuvor geradezu hofierte Protestbewegung ihrem weiteren Schicksal und klammerte die Frage, ob es denn zu dem erhofften politischen Neubeginn, sprich einer echten Demokratisierung sowie einer grundlegenden Veränderung der sozialen Verhältnisse, tatsächlich kommen würde, konsequent aus.

Daß der Euphorie der ersten Stunden und Tage eine Ernüchterung folgen würde, war nach Stand der Dinge gar nicht anders zu erwarten. Ein halbes Jahr später jedoch läßt sich mit geradezu schmerzlicher Nüchternheit konstatieren, daß die zumeist jungen AktivistInnen wie auch das ägyptische Volk insgesamt um die Früchte ihres mit so hohem Engagement geführten Kampfes betrogen wurden und werden. Allein, in den Schlagzeilen westlicher Medien ist davon wenig bis gar nichts zu vernehmen ganz so, als wären die hierzulande einst in der Rolle eines väterlichen Freundes auftretenden Regierungen auf einen Schlag vollkommen blind und taub gegenüber den politischen Forderungen der ägyptischen Massen geworden. Die Protestbewegung, die, wenn auch nicht mehr in gleicher Zahl, nun gegen den Obersten Militärrat ihre Forderungen durchsetzen will, ist dieser angesichts der dahinter zu vermutenden Absichten ohnehin fragwürdigen Protektion verlustig gegangen.

Die Bundeskoordination Internationalismus (BUKO) hat es sich zur Aufgabe gemacht, der in jüngster Zeit greifbar gewordenen Des- und Fehlinformationspolitik vieler Medien sowie dem nicht minder auffälligen Positionswandel offizieller Stellen durch eine Veranstaltungsreihe zum Thema "Ägypten: Revolution... and no end?" entgegenzuwirken. Auf Informationsveranstaltungen, Filmvorführungen und Diskussionsrunden in Berlin, Dresden und Hamburg wurde unter dem Titel "Ägypten ein halbes Jahr nach der (ersten) Revolution" zu Diskussion und offenem Austausch mit zwei ägyptischen Aktivisten vom Tahrir-Platz geladen. Dem Schattenblick bot sich am 16. September 2011 die Gelegenheit, im Centro Sociale in Hamburg an einem dieser Abende teilzunehmen, hier unterstützt von "Eine Welt Netzwerk Hamburg e.V.", einem fast einhundert Gruppen und Einzelpersonen umfassenden Dachverband entwicklungspolitischer Initiativen.

Unter der ebenso fachkundigen wie engagierten Moderation der auch in Kairo lebenden freien Journalistin Juliane Schumacher schilderten zwei ägyptische Aktivisten die Situation in ihrem Heimatland vor, während und vor allen Dingen auch nach der "Revolution". Für Außenstehende hier im Westen ist es sicherlich schwer nachzuvollziehen, daß die bloße Tatsache, "über Politik" zu reden bzw. reden zu können, schon eine "Revolution" darstellt, weil ein dreißigjähriger Dauernotstand, in dem Versammlungen von mehr als fünf Personen ebenso verboten waren wie jegliche Kritik am Militär bestraft wurde (und wird), unweigerlich Folgen zeitigt im Denken, Fühlen und Handeln der dieser Repression ausgesetzten Menschen.

Zur Einführung gab die Moderatorin einen kurzen chronologischen Überblick über die Ereignisse in Ägypten seit der "Revolution". Die erste Phase - wie könnte es anders sein? - nannte sie schlicht "Euphorie". Wenig später kam es dann bereits zum Bruch zwischen der zumeist jugendlichen Protestbewegung und dem Militär, nachdem am 9. März 200 Menschen verhaftet und ins Ägyptische Museum gebracht worden waren. Wie inzwischen bekannt wurde, sind in den zurückliegenden Monaten fast 12.000 Menschen vor Militärtribunale gestellt und abgeurteilt worden. Am 9. April griff das Militär erstmals in der Nacht die in einem Zelt kampierenden Protestierenden an, denen sich Soldaten und 27 Offiziere angeschlossen hatten. Dabei gab es Tote. Als dritte Phase benannte die Journalistin den Bruch der Jugendbewegung mit den islamistischen Gruppen, die sich ihr, wie z.B. die Muslimbruderschaft, wenn auch erst mit einiger Verzögerung angeschlossen hatten. Zum Bruch kam es, als diese mit dem Obersten Militärrat, der nach Mubaraks erzwungenem Rücktritt die Macht an sich genommen hatte, zu kooperieren begonnen hatten. Am 27. Mai fand zum ersten Mal eine Massendemonstration ohne islamische Gruppen statt.

In der Protest- und Demokratiebewegung Ägyptens werden die Kämpfe und Ereignisse im Januar und Februar, die schließlich zum Ende der Mubarak-Ära führten, inzwischen als "erste Revolution" bezeichnet, weil ihr inzwischen, genauer gesagt am 28. Juni, eine zweite folgte. Diesmal wurden die Proteste zunächst von den Familienangehörigen der während des ersten Aufruhrs von Mubaraks Sicherheitskräften getöteten Menschen getragen, die eine Verurteilung nicht nur Mubaraks, sondern auch von Innenminister Habib Al-Adly forderten. Als der Prozeß gegen Al-Adly immer wieder verzögert wurde, begannen die Menschen erneut, sich zu versammeln. Im Juli und August kam es zu zahlreichen Demonstrationen, Kundgebungen und Zeltlagern, bis schließlich das Militär Versammlungen aller Art verbot.

Die anschließende fünfte Phase betitelte Frau Schumacher mit einer "angespannten Ruhe", die allerdings nicht lange währte. Seit dem 9. September, an dem es im Zuge einer abermaligen Massendemonstration auf dem Tahrir zu einem Angriff auf die israelische Botschaft kam, herrscht eine "offene Konfrontation", die Notstandsgesetze wurden zum Entsetzen der AktivistInnen wieder eingesetzt. Auf diese Ereignisse gingen die beiden Aktivisten im Anschluß näher ein. Ihrer Schilderung zufolge war es durch einen "Unfall" im Sinai dazu gekommen, daß sechs ägyptische Offiziere - ein siebter erlag inzwischen seinen Verletzungen - durch das israelische Militär getötet wurden, ohne daß sich die israelische Regierung dafür offiziell entschuldigt hätte.

Dies habe dazu geführt, daß es im Zuge der allgemeinen Demonstrationen auch zu Protesten vor der israelischen Botschaft kam, wobei ein besonders spektakulärer Vorfall darin bestanden habe, daß ein ägyptischer Aktivist ("Spiderman") an der Außenmauer die in einem Hochhaus im 18. Stockwerk gelegene Botschaft erklommen und die dort wehende israelische Fahne durch eine ägyptische ausgetauscht hatte. Einer der Aktivisten erwähnte einen anderen Vorfall bei einem Football-Spiel zwischen Ägypten und Algerien, woraufhin der algerische Botschafter ausgewiesen worden war. Warum war dies nach der Tötung der ägyptischen Offiziere nicht geschehen und warum hat sich der Oberste Militärrat kein Beispiel an der Türkei, die aus ähnlichen Gründen den israelischen Botschafter ausgewiesen hat, genommen?

Eine Woche vor den Ereignissen des 9. September, die den Beginn der aktuellen Konfrontation einleiteten, sei um die israelische Botschaft eine Mauer errichtet worden, die weiteren Anlaß zum Protest geboten hatte. Als am 9. September eine Gruppe, wie über Facebook angekündigt, damit begonnen hatte, diese Mauer niederzureißen (eine Erstürmung der Botschaft sei nie geplant gewesen), hielten sich die allgegenwärtigen und gemeinhin eingriffsbereiten Sicherheitskräfte stundenlang zurück. Die Aktivisten brachten ihr Befremden darüber zum Ausdruck und fragten, warum die israelische Botschaft weder von der Polizei noch vom Militär geschützt worden war.

Zwischen 19 und 23 Uhr hatten dann einige Menschen versucht, in das Gebäude einzudringen. Sie konnten das 18. Stockwerk ungehindert erreichen und warfen schließlich aus einem Raum, der nicht direkt zur Botschaft gehörte, Papiere aus dem Fenster. Einer der Aktivisten stellte diese Situation so dar, daß für niemanden in der israelischen Botschaft eine Gefahr bestanden hätte und daß der Botschafter nicht habe fliehen müssen, weil er sich zu diesem Zeitpunkt an einem ganz anderen Ort befunden habe.

Beide Ägypter beschrieben die Verhängung des Notstandes am darauffolgenden Samstag als einen Schock, stellte dies doch ihrer Meinung nach die endgültige Rückkehr zum alten Regime dar. Das Militär behauptete zwar, daß die Notstandsgesetze nur gegen "thugs" (Gesindel, Verbrecher) eingesetzt werden würden, doch damit seien letztlich einfach nur arme Menschen gemeint gewesen. Diese Gesetze ermöglichen es jedem Polizisten und jedem Soldaten, zu verhaften, wen immer sie verhaften wollen - und wenn sie dem Betroffenen hinterher Drogen unterschieben.

Der zweite Schock am Sonntag bestand in Angriffen auf 16 Medienanstalten. So wurde beispielsweise das Büro der "Jazeera Egypt News", die die Protestbewegung immer unterstützt hatte, durchsucht, wobei über 30 Mitarbeiter verhaftet und Sendeanlagen beschlagnahmt wurden. Einer der Referenten brachte die mehr als ambivalente Haltung des Militärs mit den ironischen Worten zum Ausdruck, dieses wolle zwar gemeinsam mit der Jugend den Wandel, "aber bitte ohne Proteste". Desweiteren behaupte das Militär, die Notstandsgesetze dienten dem Schutz des Landes, schließlich seien die Proteste und vielen Streiks, so auch der Lehrer und Ärzte, "schlecht für die Wirtschaft". Arbeiter dürften streiken, so karikierte einer der jungen Ägypter die Haltung des Militärs, "aber nicht die Arbeit einstellen".

Im weiteren Verlauf des Gesprächsabends nahmen die rund 50 Teilnehmer der gutbesuchten Veranstaltung die Gelegenheit wahr, Fragen zu stellen oder selbst Stellung zu nehmen. Ein Themenkomplex betraf das Verhältnis zwischen Militär und Bevölkerung. Da es keine Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung gäbe, bestünde eine gewisse Nähe, ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den einfachen Soldaten und den Protestierenden, die vielleicht selbst bald zum Militär müssen oder bereits einen Freund oder Verwandten dort haben. Die Frage, ob das Militär, genauer gesagt die Militärführung, befürchten würde, daß sich Militärangehörige den Protesten anschließen, wurde von den Referenten mit einem klaren Ja beantwortet.

Angesprochen wurde seitens der Teilnehmerrunde auch das Verhältnis zwischen urbaner und ländlicher Bevölkerung wie auch zwischen Jugend- und Arbeiterbewegung. Die ägyptischen Aktivisten gaben darauf zur Antwort, daß die Bewegung mehr und mehr dazu übergegangen sei, die Streiks der Arbeiter zu unterstützen; dies sei im Kampf um soziale Gerechtigkeit ein wichtiger Schritt, um die gemeinsame Schlagkraft zu stärken. Die "Revolution" habe sich aus den Großstädten auf das ganze Land ausgebreitet. In jeder kleinen Stadt habe es eigene Gruppen junger Leute mit eigener Organisation und Agenda gegeben. Bis heute sei es so, daß die Bewegung keine Führer und keine zentrale Leitung habe; gleichwohl gäbe es via Internet und Facebook vielfältige Kontakte zwischen den AktivistInnen in den großen Städten und jenen in den ländlichen Regionen.

Thematisiert wurde auch die Falschberichterstattung des ägyptischen Staatssenders, der, wie einer der Aktivisten schilderte, zur Diffamierung der Protestierenden immer wieder die Behauptung aufstellte, daß die Proteste aus dem Ausland gesteuert seien und daß jeder Aktivist 200 Euro bekäme, was bei weitem das überstiege, was ein Taxifahrer monatlich verdienen könnte. Bei der Berichterstattung über den 9. September habe das Staatsfernsehen erklärt, daß auf dem Tahrir-Platz, der voller Menschen gewesen sei, gar nicht viele Menschen gewesen wären; zum Beweis sei einfach eine leere Ecke gefilmt worden. Zu einem Zeitpunkt, an dem die Menschen in den Moscheen gewesen seien, sei dann der leere Tahrir gefilmt und dieses Bild immer und immer wieder gezeigt worden. Obdachlose und Bettler seien in ihrer einfachen Kleidung gezeigt worden, wie um zu beweisen, daß sich nur "thugs" (Gauner und Verbrecher), gegen die die Notstandsgesetze den Sicherheitsbehörden alle Vollmachten geben, auf dem Tahrir "herumtrieben".

Gefragt wurde aus dem Publikum auch nach den Parteien bzw. der Möglichkeit, eine Partei zu gründen. Dazu wurde erläutert, daß es sehr viele neue Parteien gäbe, daß damit jedoch für die Demokratiebewegung noch nicht viel gewonnen sei. Aus der inzwischen verbotenen ehemaligen Regierungspartei Mubaraks, der NDP, seien acht neue Parteien entstanden. Einer der Aktivisten erklärte, daß die vom Militärrat geschaffenen Wahlgesetze schlecht für die Bewegung seien, weil durch sie die NDP wieder an die Macht käme, weshalb die AktivistInnen Druck auf den Militärrat ausüben wollten, ihnen für die Vorbereitung der Wahlen mehr Zeit zu lassen [2]. Um eine neue Partei zu gründen, seien eine halbe Million ägyptische Pfund erforderlich; um die Namen der Kandidaten in einer Zeitung zu veröffentlichen, was unumgänglich sei, sind noch einmal 150.000 Pfund vonnöten. Gleichwohl gäbe es sehr viele - auch neue - Parteien in Ägypten; viele von ihnen seien allerdings sehr klein und den meisten Menschen nicht bekannt und hätten nur wenige Anhänger.

Um den hiesigen Zuhörern die Rolle der Parteien und der parlamentarischen Demokratie in Ägypten verständlich zu machen, stellte die Moderatorin klar, daß die Bedeutung der Parteien nicht mit den Verhältnissen hierzulande gleichzusetzen sei. In Hinsicht auf die Demokratisierung sei oftmals viel wesentlicher, was in anderen Institutionen, so beispielsweise der Richterschaft, geschähe. Die Vorstellung, das politische Geschehen würde ganz wesentlich vom Parlament bzw. den dort vertretenen stärksten Parteien bestimmt, träfe so, wie es in westlichen Staaten weitverbreitete Auffassung ist, auf Ägypten nicht zu, weshalb die Gefahr bestehe, die Relevanz dieser Vorgänge in Ägypten zu überschätzen. Daß es inzwischen in Ägypten sehr viele kleine Parteien gäbe, könne nicht unmittelbar als Demokratisierungsprozeß nach westlichen Vorstellungen aufgefaßt werden. So würden beispielsweise in manchen Orten Wahlen nach der Familienzugehörigkeit entschieden.

Ein wesentliches Thema, das im Laufe des Abends immer wieder aufgegriffen wurde, zumal die Ereignisse des 9. September und die anschließende Eskalation zu einem Fanal für die Demokratiebewegung wurden, die sich nun in der Situation sieht, für eine "dritte" Revolution zu mobilisieren, war selbstverständlich die Repression. So schilderten die Aktivisten beispielsweise das taktische Vorgehen der Riot Police (CSF) am Tahrir-Platz. Es habe die Situation gegeben, daß die eine CSF-Einheit gegen die demonstrierenden Menschen vorging und eine andere dies verweigerte. Die Verhafteten wurden ins Ägyptische Museum gebracht und dort auf eine Weise behandelt, die nach Auffassung eines Aktivisten, der selbst drei- bis viermal verhaftet und mißhandelt wurde, einen bestimmten Code erkennen ließ. Wenn ein Offizier gesagt habe, "schlage diesen Mann nicht" oder "hör auf ihn zu schlagen", wurde das genaue Gegenteil getan. Wenn jemand nicht vor Schmerzen schrie, wurde er dafür bestraft durch weitere Schläge. Er selbst habe deshalb geschrien und sei gelaufen, wenn eben dies von ihm verlangt wurde. Bei einer seiner Verhaftungen habe ihm schließlich ein Offizier geholfen zu entkommen, indem er ihn nach draußen schmuggelte, in ein Taxi setzte und auch noch die Fahrt bezahlte.

Aus diesen Schilderungen wurde deutlich, daß auch innerhalb des Militärs Uneinigkeit darüber besteht, wie mit der Protestbewegung und ihren AktivistInnen umzugehen sei. Als ein weiteres Ergebnis der "Revolution" bzw. der vielen Auseinandersetzungen zwischen der Bewegung und den staatlichen Organen in den zurückliegenden Monaten wurde benannt, daß die Polizei ihre Macht verloren habe und daß Polizisten in Situationen der Konfrontation einfach weggelaufen seien. Ein echter Grund zur Freude sei dies allerdings nicht, da man inzwischen Angst davor haben müsse, daß das Militär auf die Menschen schießen würde, sobald es den Befehl dazu erhielte.

Auf die Frage nach ihrer Einschätzung des NATO-Krieges in Libyen erklärten die Aktivisten, daß die "Revolution" in Libyen im Unterschied zu der ägyptischen die Macht im Staate habe. Auf die direkte Frage, ob sie eine "ausländische Macht ins Land rufen" würden, erklärten die Referenten, daß das nicht der Fall sei und daß sie ihre Probleme selbst lösen könnten. Einer der beiden Ägypter erklärte unmißverständlich: "Wir vertrauen auf unsere Armee, es sind unsere Brüder und Väter, unsere Verwandten und unsere Freunde". In Libyen hingegen hätte Ghaddafi ausländische Söldner angeheuert. Die ägyptische Armee würde nie so sein wie die libysche unter Ghaddafi und auf die eigene Bevölkerung schießen. Auf den Einwand aus dem Publikum, daß dies doch schon geschehen sei, relativierte der Aktivist seine Einschätzung dahingehend, daß er nicht auf die Armee, aber auf die Ägypter in der Armee vertraue. Er sagte allerdings auch, daß er nicht darauf vertrauen würde, daß die Armee die Macht im Staate wieder abgeben würde, sie würde seiner Meinung nach allerdings nie so sein wie die Ghaddafis.

"The bond of fear" - die Fessel der Angst - war ein weiteres, zentrales Thema, das an diesem Abend angesprochen wurde, aber schwerlich abschließend zu klären ist, da zwar einerseits bereits mit der (ersten) "Revolution" Fakten geschaffen wurden, die es unmöglich erscheinen lassen, daß die Menschen in Ägypten, die zu Millionen auf die Straßen gingen, um ihren demokratischen und sozialen Forderungen Nachdruck zu verleihen, sich jemals wieder so einschüchtern lassen würden wie in der Mubarak-Ära. Und doch ist die Repression, die Ägypten jahrzehntelang fest im Griff hatte, keineswegs gewichen, sondern wurde vom Militärrat, wie die hohe Zahl der seitdem Verhafteten und Verurteilen sowie die sogar noch verschärften Notstandsgesetze belegen, seit der ersten "Revolution" noch ausgeweitet.

Zu der Frage, um was es bei der "Revolution" oder vielmehr diesem revolutionären, da keineswegs abgeschlossenen Prozeß neben der Forderung nach einer echten Demokratie sowie sozialen Reformen in einem noch immer von tiefer Armut und wirtschaftlicher Ausbeutung gekennzeichneten Land gehe, erläuterte die Moderatorin, weshalb in diesem Zusammenhang Begriffe wie "Würde" und "Respekt" eine so große Rollen spielten anhand des Beispiels der Proteste gegen die Politik Israels, die am 9. September in der Erstürmung der israelischen Botschaft gipfelten, woraufhin es zu Straßenschlachten und einem Rückschlag durch die erneute Verhängung des Notstands gekommen war.

Ihrer Meinung nach war es bei diesen Protesten um die Frage des Respekts gegangen, weil sich die Menschen in Ägypten in ihrer Würde verletzt sahen durch die Weigerung der israelischen Regierung, sich für die sechs bzw. sieben von der israelischen Armee getöteten ägyptischen Offiziere in aller Form zu entschuldigen. Erschwerend sei die allzu nachgiebige Haltung des Militärrats, der gegenüber Israel nicht auf einer solchen Entschuldigung bestanden hatte, hinzugekommen. Schon zur Zeit Mubaraks sei es durchaus üblich gewesen, Ressentiments gegen Israel in der eigenen Bevölkerung zu nutzen, um vom eigenen Regime abzulenken.

Im Zusammenhang mit den Vorfällen vom 9. September, so erläuterte Frau Schumacher, sei die ägyptische Bevölkerung auch auf die eigene Regierung wütend und enttäuscht gewesen, weil diese sie nicht beschütze. Das Verhältnis zwischen staatlichen Institutionen und Bevölkerung sei in Ägypten ein anderes als beispielsweise hierzulande. Deutsche könnten sich, selbst wenn sie die Regierungspolitik kritisierten, im Ernstfall auf die Unterstützung ihrer Regierung verlassen und täten dies auch. In Ägypten sei dies völlig anders. Um dies zu veranschaulichen, erwähnte sie Beispiele aus der Zeit Mubaraks, der als Präsident einen offenen Zynismus an den Tag gelegt hatte bei Unglücksfällen, durch die arme und seiner Einschätzung nach offenbar wertlose Menschen zu Tode gekommen waren. Als ein Schiff auf dem Weg zwischen Ägypten und Jordanien havarierte und viele Menschen ums Leben kamen, wurden die Todesopfer von Mubarak öffentlich verspottet - eine für hiesige Verhältnisse vollkommen unvorstellbare Reaktion.

Ein Fazit zu ziehen oder auch nur ziehen zu wollen, verbietet sich angesichts der in dieser Gesprächsrunde aufgeworfenen Fragen, offenbart dieser Wunsch doch in erster Linie das Bestreben, das Gefühl, unangenehm berührt worden zu sein, abzustreifen durch die Perspektive, daß die Probleme der Menschen in Ägypten, die dank der beiden Referenten an diesem Abend in Hamburg spürbar wurden, irgendwie schon gelöst seien. Nichts dergleichen ist der Fall, und so ist das Wenige, was sich zu Ägypten sagen läßt, ohne den Revolutionsbegriff noch weiter überzustrapazieren, eigentlich nur, daß das letzte Wort in dieser noch völlig offenen Auseinandersetzung noch längst nicht gesprochen wurde. Wird es zu einer, wie die AktivistInnen sagen, "dritten Revolution" kommen? Wird sich die Bevölkerung Ägyptens noch einmal so weit mobilisieren lassen, daß sie in der elementaren Kernfrage nach dem Verhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten darauf besteht, eigene Akzente zu setzen und bislang unbekannte Formen demokratischer Politikgestaltung zu entwickeln und sich eben nicht, wie zu befürchten steht, mit dem bloßen Wechsel von Mubarak zu einem vom Militärrat bestimmten "Zivilregime" zufriedenzugeben?

Einer der Aktivisten beendete die Veranstaltung auf die Frage aus dem Publikum, ob er denn in eine Partei gehen wolle, um seine politischen Ziele zu erreichen, mit einer, wie ein Teilnehmer schmunzelnd feststellte, "typisch ägyptischen Antwort". Seine Worte "Ich träume, daß ich im Jahr 2020 Präsident von Ägypten sein werde", lösten eine allgemeine Heiterkeit aus, die der Ernsthaftigkeit und dem Engagement, mit dem hier Interessierte aus Ägypten und Deutschland zusammengetroffen waren, keinerlei Abbruch tat.

Anmerkungen:

[1]Quelle: veröffentlicht von mona unter Creative Commons-Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.en) Link: www.flickr.com/photos/89031137@N00/5427680747/in/photostream

[2] Wie der arabische Nachrichtensender Al-Arabiya am 17. September erklärte, hat die ägyptische Wahlkommission, deren Entscheidungen vom Nationalen Militärrat abgesegnet werden müssen, die ersten Wahltermine bekanntgegeben. Demnach sollen die ursprünglich für September angekündigten "demokratischen Parlamentswahlen" am 21. November beginnen und im ersten Urnengang bis Anfang Januar andauern. In der Zeit zwischen dem 22. Januar und 4. März 2012 soll dann die zweite Kammer des Parlaments gewählt werden. Dieser Terminierung muß der Militärrat noch zustimmen, vorgesehen ist dafür der 26. September. Die vom Militärrat bereits festgelegte Wahlordnung, eine Mischform aus Mehrheits- und Listenwahlrecht, würde es Mitgliedern der früheren Regierungspartei ermöglichen, am politischen Geschehen wieder teilzunehmen. Einen Termin für die Präsidentschaftswahl hat die Wahlkommission noch nicht bekanntgegeben.

Ein Hauch 'Tahrir'? - Die Veranstaltungsräume im Centro Sociale - © 2011 by Schattenblick

Ein Hauch "Tahrir" im Hamburger Centro Sociale?
© 2011 by Schattenblick

21. September 2011