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BERICHT/074: IPPNW-Konferenz zu Perspektiven der Friedensbewegung (SB)


Erörterungen zu drängenden Fragen von Krieg und Frieden

Soldatenfriedhof bei Bonn - Foto: © 2011 by Schattenblick

... auch nach dem Tod in Reih' und Glied
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Die beispiellose Akzeptanz des Libyenkriegs in der deutschen Öffentlichkeit stellt die Friedens- und Sozialbewegung vor die Herausforderung, sich entschieden zu positionieren. Wenngleich im Falle deutscher Kriegsbeteiligung in Afghanistan wachsende Teile der Bevölkerung einen Abzug der Bundeswehr befürworten, ist von Kritik an der Intervention in Libyen wenig zu spüren. Das gilt für die politischen Parteien, unter denen nur Die Linke Widerspruch erkennen läßt, wie auch für die Medienlandschaft, die fast unisono nach der Außenminister Westerwelle zur Last gelegten verpaßten Chance, in vorderster Front mitzumischen, nun auf die ökonomische Offensive drängt. Auffallend war nicht zuletzt ein beträchtlicher Schwenk in Kreisen der bundesdeutschen Linken, wo viele die Gelegenheit wahrnahmen, ihr Herz für den "gerechten Krieg" zu entdecken und sich ins Lager der herrschenden Doktrin zu schlagen. Einem nach gängiger Auffassung gescheiterten Waffengang wie jenem am Hindukusch die Zustimmung zu entziehen und den Krieg zur Durchsetzung imperialistischer und hegemonialer Interessen als solchen abzulehnen, ist mithin keineswegs dasselbe. Wenngleich jeder aufkeimende Zweifel an Sinn und Zweck bellizistischer Strategien eine Flamme ist, die es zu hüten und nähren gilt, wäre die Friedensbewegung doch schlecht beraten, um der Verbreitung und Akzeptanz ihres Anliegens willen auf dessen Präzisierung und Einbindung in die Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Verhältnissen zu verzichten.

In diesem Sinne hatte sich die sechste RegioContaktNord der IPPNW seit 2003, die am 8. Oktober 2011 im Ärztehaus Hamburg stattfand, dem Thema "Bestandsaufnahme und Ziele der Sozial- und Friedensbewegungen" gewidmet. Wie Dr. Manfred Lotze von der Hamburger Sektion der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges, der die Veranstaltung organisiert und ihre Moderation übernommen hatte, einführend hervorhob, habe man angesichts der Brisanz des Themas nicht nur die Ärzteschaft eingeladen, die indessen durch Abwesenheit glänzte. Vielmehr wurden auch Friedensgruppen, Sozialbewegungen und Umweltorganisationen angesprochen, um eine öffentliche und breite Diskussion anzustoßen. Dieser Ansatz, Initiativen unterschiedlicher Arbeitsschwerpunkte inhaltlich zusammenzuführen, wie auch die hochwertige Besetzung des Podiums wären es wert gewesen, vor einem größeren Plenum präsentiert zu werden. Daß an diesem Wochenende mehrere Veranstaltungen sozialen und antimilitaristischen Inhalts stattfanden, mag dazu beigetragen haben, daß sich die Resonanz des Treffens im Ärztehaus in Grenzen hielt. Das muß freilich nicht bedeuten, daß der Impuls dieser Zusammenkunft verlorenginge. Es ist der Berichterstattung vorbehalten, die referierten Inhalte einer breiteren Leserschaft zugänglich zu machen, die Analyse zu präzisieren und damit die Diskussion weiterzuführen.

Manfred Lotze - Foto: © 2011 by Schattenblick

Manfred Lotze
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Manfred Lotze stellte in seiner Einführung das Thema der Veranstaltung in den angemessenen internationalen Rahmen und verknüpfte es insbesondere mit den ökonomischen Zwängen neoliberaler Politik. Man hätte sich das Ausmaß des Sozialabbaus in Griechenland, Portugal oder Spanien vor zehn Jahren nicht träumen lassen. Nun sollte man sich keine Illusionen machen, daß diese Zwänge nicht auch im "Wirtschaftswunderland" greifen werden. Strukturanpassungsprogramme in den Ländern der Dritten Welt, die Ende der 70er Jahre einsetzten, zeigten bereits die Verelendungsfolgen neoliberaler Politik. Die Regierung in Berlin erweise sich als parlamentarisch-industrieller Komplex, gegen den man als NGO Widerstand leisten müsse.

Auch das Gesundheitswesen werde neoliberal umgeformt, wobei insbesondere die e-Card als Schlüsselfunktion zu Privatisierung und Profitorientierung abzulehnen sei. Für ihn als Arzt hätten sich alle künftigen Gesundheitsregulierungen an die Grundätze der Menschenrechtserklärungen zu halten: Gesundheit ist ein Gemeingut, das kollektive Verantwortung erfordert. Die Realität sei jedoch eine andere. Die herrschende Marktdynamik und der unkontrollierte Einfluß profitorientierter transnationaler Unternehmen führten mittels der Politik internationaler Finanz- und Handelsinstitutionen wie des IWF, der Weltbank und der WTO zu strukturellen Verletzungen des Rechts auf Gesundheit. Hinzu kämen systematische Verletzungen weiterer Rechte wie Gleichberechtigung der Geschlechter, des Rechts auf Arbeit und Einkommen, des Rechts auf Unterkunft und Bildung. Daher könne das Recht auf Gesundheit nicht isoliert von den sozialen Sicherungssystemen gesehen werden, die ja Schlüsselelemente in einem System menschlicher Entwicklung seien.

Die Hungersnot am Horn von Afrika wie insbesondere in Äthiopien sei weithin bekannt. Wer aber wisse schon, daß im Nachbarland Eritrea keine Hungersnot herrscht und das Gesundheitswesen funktioniert wie wohl nirgendwo sonst in Afrika? Somalia und Äthiopien produzierten in den 80er Jahren Lebensmittelüberschüsse, doch heute herrschen dort Hunger und Elend. Landraub und Spekulation mit Nahrungsmitteln müssen unterbunden werden, da diese menschengemachten Entwicklungen die Naturkatastrophen verschärfen. Sind wir dem Ziel einer menschenwürdigen Gesellschaft ohne Gewalt auf Grund unseres Engagements nähergekommen? Manfred Lotze konnte in den meisten Fällen nur Verschlechterung erkennen und sah die Aufgabe der Veranstaltung deshalb darin, nüchtern und ohne übertriebenen Pessimismus erzielte Erfolge festzuhalten und darüber zu beraten, wie sich die eigenen Vorstellungen von Frieden und Gerechtigkeit durchsetzen lassen. Da Krieg und strukturelle Gewalt die größten Bedrohungen für Leben und Frieden seien, stünden sie im Mittelpunkt der Referate.

Angelika Claußen - Foto: © 2011 by Schattenblick

Angelika Claußen
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"Atomausstieg jetzt - Für eine kriegspräventive dezentrale Energiewirtschaft"

Dr. med. Angelika Claußen ist niedergelassene Ärztin für Psychiatrie und Psychotherapie. Seit 1986 ist sie Mitglied in der Ärztevereinigung und seit 2005 Vorsitzende der deutschen IPPNW-Sektion. Schwerpunkte ihres politischen Engagements sind Irak, Uranwaffen, Atomausstieg und Menschenrechte/Flüchtlinge. Sie unterhält Kontakte zur türkischen Menschenrechtsstiftung, zur dortigen Ärztekammer und ist als Prozeßbeobachterin in der Türkei tätig. Angelika Claußen arbeitet in einer Gemeinschaftspraxis für Psychiatrie und Psychotherapie in Bielefeld, eng mit dieser Arbeit verbunden ist ihr spezielles Interesse an durch Folter und Flucht traumatisierten Menschen.

Die Referentin begrüßte den weit gefaßten Friedensbegriff, wie ihn Manfred Lotze entworfen hatte. Es gehe ihres Erachtens nicht nur um politische, sondern auch um soziale Menschenrechte. Man wende sich gegen strukturelle Gewalt sowohl gegen Menschen als auch gegen die Natur. Ausstieg aus der Atomenergie und Kriegsprävention seien ihre Themen bei dieser Veranstaltung. Atomkraftwerke wurden vor allem in den 70er und 80er Jahren errichtet, während ihre Zahl seit den 90er Jahren weltweit fast gleich geblieben ist. Daher handle es sich um Propaganda, wenn die Betreiber von einer Renaissance der Atomenergie sprechen. Deren Bedeutung werde weithin überschätzt: Anfang 2011 gab es weltweit 437 Akw, die für 13 Prozent der Stromerzeugung standen. Schließt man Primärenergieerzeugung ein, sind es nur noch 2 bis 3 Prozent. Auf diesen geringen Anteil könne man ohne weiteres verzichten, so Angelika Claußen.

Mit derselben Technologie werden auch Atombomben gebaut. Wenige Stunden nach dem Atombombenabwurf in Nagasaki rief der US-Präsident die Forscher der Welt dazu auf, nun auch die friedliche Nutzung voranzutreiben. "Atomenergie für den Frieden" lautete die Propaganda in den 50er Jahren. Fast alle Staaten, die Atomkraftwerke bauten, wollten auch die Bombe. Will man Atomwaffen abschaffen, muß man aus der Atomenergie aussteigen - dieser Zusammenhang wurde in der Friedensbewegung weithin verdrängt. Zahlreiche Länder planen derzeit erstmals den Bau von Atomkraftwerken. Darunter befinden sich viele Staaten im Nahen und Mittleren Osten, was im Zusammenhang mit der Bedrohung durch Israel zu sehen ist, das über Atomwaffen verfügt. Internationale Verhandlungen über eine atomwaffenfreie Zone kommen seit Jahrzehnten nicht voran, weil sich Israel dagegen sperrt, überhaupt zu verhandeln, indem geheimgehalten wird, daß es Atomwaffen in Israel gibt. Diverse international tätige Konzerne verkaufen Atomtechnologie, wobei sie mitunter den gesamten Kreislauf der Wertschöpfungskette vom Uranabbau bis hin zur Wiederaufbereitung der Brennstäbe unter Kontrolle haben. Die Folge ist eine nicht selten repressive Durchsetzung dieser Vorhaben gegen den Protest der betroffenen Bevölkerung. Zugleich treten diese Unternehmen als Sponsoren in der Zivilgesellschaft in Erscheinung, um ihr Image zu verbessern.

Die Endlichkeit der Ressourcen Öl, Gas und Kohle wird ebenso seit Jahren thematisiert wie die militärische Perspektive der Ressourcenverknappung. Typische Beispiele sind die drei Irakkriege sowie die Konflikte in der Demokratischen Republik Kongo und im Sudan. Im ersten Golfkrieg starben Schätzungen zufolge 300.000 Iraker und 500.000 Iraner. In dem 1991 mit UN-Mandat geführten Krieg wurden konservativen Schätzungen zufolge bis zu 75.000 irakische Soldaten und 35.000 Zivilisten getötet. Es kam zu schwersten Schäden der Infrastruktur, Krankheiten traten verstärkt auf. Die von den USA und Britannien erwirkten Sanktionen des Weltsicherheitsrats gegen den Irak kosteten mindestens 500.000 Kinder das Leben. Im Golfkrieg von 2003 starben einer irakischen Studie zufolge etwa 655.000 Zivilisten. Über 4.000 US-Soldaten wurden getötet, mehr als 33.000 verwundet und die posttraumatischen Belastungsstörungen gehen in die Hunderttausende. Im Kongo starben seit 1998 geschätzte 5 Millionen Menschen in Folge von Kriegshandlungen.

Nach Darlegung dieser Schreckensbilanz bekräftigte die Referentin noch einmal, daß man Kriege verhindern müsse. Ihr mache Mut, daß die Ideen der Friedens- und Umweltbewegung in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien. So habe der wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung im Frühjahr 2011 ein Gutachten zur "Welt im Wandel" herausgegeben, in dem von einer "großen Transformation" die Rede war. Gefordert wurde unter anderem in der Energieerzeugung eine Abkehr vom fossil-atomaren Wachstumspfad zugunsten einer dezentralen solaren Energieerzeugung in einer Kreislaufwirtschaft. Angelika Claußen sieht eine Alternative in Gestalt erneuerbarer Energie und dezentralen kleinen Einheiten in Bürgerhand.

Hier stellen sich jedoch Fragen, die mit der bloßen Hoffnung auf weitreichende Konsequenzen einer postulierten Wende im Energiebereich nicht angemessen zu beantworten sind, sofern der gesamtgesellschaftliche Kontext ausgeblendet bleibt. Wollen die sozialen und Umweltbewegungen Pioniere des Wandels sein, wie dies die Referentin formulierte, bedarf es einer tiefgreifenden Konfrontation mit den Zwängen einer profitorientierten Wirtschaftsweise und deren staatlicher Verankerung.

In der anschließenden Diskussion kam der Einsatz abgereicherter Uranmunition in Afghanistan zur Sprache. Der Dokumentarfilmer Frieder Wagner, der mit "Deadly Dust - Todesstaub" den Einsatz dieser Munition im Kosovo, in Bosnien und im Irak anprangert, war am Wochenende einer der Teilnehmer eines Treffens im Berliner Haus der Gewerkschaft IG Metall. Wie er berichtete, ruft diese Munition schwere gesundheitliche Schäden bei den Betroffenen hervor. In der afghanischen Provinz Kandahar war die Strahlendosis demnach 400 Mal höher als in Tschernobyl. Auch das Trinkwasser in der Hauptstadt Kabul wird über Jahrhunderte vergiftet sein. Nach den Bombenabwürfen im Jahr 2001 wurden bereits 2002 erhöhte Ablagerungen bei Menschen festgestellt. Man muß davon ausgehen, daß bei Zehntausenden bis Hunderttausenden Menschen das Erbgut geschädigt wurde.

Ein anderer Diskussionteilnehmer nannte den Libyenkrieg als Beispiel dafür, daß eine Regierung, die die militärische Nutzung der Atomenergie zugunsten eines erhofften positiven Ausgangs für ihre weitere Zukunft aufgegeben hat, dennoch mit einem Krieg abgestraft wurde. Libyen wurde zunächst entwaffnet und dann überfallen. Man komme folglich um die Frage machtpolitischer Auseinandersetzungen nicht herum.

Folie mit Vortragstitel - Foto: © 2011 by Schattenblick

Foto: © 2011 by Schattenblick

"Die Entwicklung der NATO"

Der Friedenspolitiker Uli Cremer war bis 1999 Sprecher des Fachbereichs Außenpolitik bei den Grünen. Er gründete die grüne Antikriegsinitiative gegen den Jugoslawienkrieg und organisierte den parteiinternen Widerstand gegen den Kriegskurs. Die von ihm 2006 mitinitiierte grüne Friedensinitiative ist Teil der Bewegung gegen den Afghanistankrieg. 1998 veröffentlichte er das Buch "Neue Nato - Neue Kriege" und 2009 "Neue Nato - Die ersten Kriege". Er arbeitet als Manager in der Nahrungsmittelindustrie.

Der Referent gab einen Überblick über die Entwicklung der NATO und arbeitete dabei deren schubweise Veränderung von einem Verteidigungspakt zum weltweit operierenden Aggressor heraus. Wie er ausführte, konzentrierte sich die 1949 gegründete alte NATO als Pendant zur Warschauer Vertragsorganisation auf die Blockkonfrontation und beschränkte das Feld möglicher Kriegseinsätze auf Teile Europas. Im Mittelpunkt ihrer damaligen Doktrin standen diverse Atomkriegsstrategien. Die neue NATO zeichnete sich ab 1991 durch den Aufbau sogenannter Expeditionsstreitkräfte aus, die unter verschiedenen Bezeichnungen wie Krisenreaktionskräfte oder Eingreifkräfte firmierten. Sie ermächtigt sich zu globaler Zuständigkeit und verwandelt sich in einen Nordpakt gegen die Länder des Südens. Damit nahm die NATO eine offensive Ausrichtung an und wurde zu einem Militärpakt, dessen Fokus auf konventionelle Kriege gerichtet ist. Die heutige Zahl von 28 NATO-Staaten läßt gerne vergessen, wie weit der Einfluß des Militärbündnisses tatsächlich reicht, rechnet man die zahlreichen durch verschiedene Vertragsstrukturen eingebundenen Bündnispartner hinzu.

Das aktuelle strategische Konzept der NATO wurde 2010 in Lissabon verabschiedet. Entfielen 1985 noch weniger als 50 Prozent der weltweiten Militärausgaben auf NATO-Staaten, so sind es heute 70 Prozent ohne die Bündnispartner. Damit verfügt der Pakt über eine einzigartige Machtposition. Das strategische Konzept der NATO 2.0 überführte die 1975 entstandene Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) ab 1991 gewissermaßen als Gegenorganisation in die OSZE. Damals wurde der Nordatlantische Kooperationsrat aufgebaut, der alle früheren Warschauer-Pakt-Staaten aufnahm. Später wurde die Bezeichnung Euroatlantischer Partnerschaftsrat etabliert, in dem die meisten Bündnispartner Mitglieder sind. Im 1991 in Rom verabschiedeten Dokument postulierte die NATO neue Bedrohungsszenarien wie die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen, die Unterbrechung der Zufuhr lebenswichtiger Ressourcen sowie Terror- und Sabotageakte. Neue Risiken erforderten neue Mittel in Gestalt der Expeditionsstreitkräfte. Atomwaffen sind daher nicht mehr die alleinige oder entscheidende Machtwährung, so der Referent. Hinzu kommt die Fähigkeit zur weltweiten Intervention mit konventionellen Streitkräften.

Uli Cremer - Foto: © 2011 by Schattenblick

Uli Cremer
Foto: © 2011 by Schattenblick

Im Jahr 1999 definierte das in Washington definierte Strategische Konzept der NATO den Euroatlantischen Raum neu, der nun größer und indifferenter gehalten war. 2002 schließlich fielen alle Grenzen: Truppen sollten fortan dort eingesetzt werden, wo immer sie gebraucht werden. Neben den Kriegen auf dem westlichen Balkan hat das Bündnis zwei weitere begonnen: 2003 übernahm die NATO die Führung im Afghanistankrieg, 2011 fand der Libyenkrieg unter ihrem Kommando statt.

Seit 2002 wurde mit der NATO Response Force (NRF) eine eigene Expeditionstruppe aufgebaut, die kompatibel mit den US-Streitkräften ist. Die NRF sollte konzeptionell unter anderem in der Lage sein, eine Flugverbotszone durchzusetzen und binnen einer Woche eine Truppe von 14.000 Soldaten in ein Einsatzgebiet außerhalb Europas zu verlegen. 2006 war die NRF mit 25.000 Mann einsatzfähig, wofür ein Pool von 75.000 Soldaten erforderlich ist. Nach einer Erosion im Jahr 2007, als nur noch zwischen 5.000 und 10.000 Soldaten verfügbar waren, wurde ab 2009 wieder nachgelegt, bis 2011 insgesamt 14.000 Soldaten einsatzbereit waren. Die NRF steht in Bereitschaft, war aber im Libyenkrieg nicht aktiv. Der Afghanistankrieg hatte den dafür notwendigen Aufbau gestört. Dort sind gegenwärtig 250.000 Soldaten stationiert: 130.000 der ISAF, weitere 10.000 der USA sowie private Sicherheitskräfte. Seinerzeit hatte die Sowjetunion mit 120.000 Soldaten nur halb so viele Soldaten für den Krieg in Afghanistan aufgeboten. In Libyen führt eine "Koalition der Willigen" Krieg, die auf die Infrastruktur der NATO zurückgreifen kann. Es handelt sich überwiegend um einen Luftkrieg seitens der beteiligten NATO-Staaten, von denen einige jedoch Spezialstreitkräfte am Boden im Einsatz haben. Während in den letzten sechs Monaten in Afghanistan 15.000 Lufteinsätze geflogen wurden, waren es in Libyen 25.000, was die weithin verkannte Massivität der Kriegsführung in Nordafrika dokumentiert. Dabei sind die Möglichkeiten mit zwei parallel geführten Kriegen keineswegs ausgereizt, da die NRF zusätzlich mobilisiert werden könnte.

Die Lissabon-Strategie sieht zum einen die kollektive Verteidigung nach Art. 5 als Bündnisfall vor, worunter auch der Afghanistaneinsatz fällt. Zum anderen beinhaltet sie Nicht-Artikel-5-Einsätze des sogenannten Krisenmanagements wie den Jugoslawienkrieg. Im Rahmen der Kooperativen Sicherheit werden auch Verbündete wie Marokko oder Mauretanien eingebunden. Für die laufenden Kriege wurden Beratungsforen eingerichtet, in denen unter anderem Japan, Korea und Australien vertreten sind. In den Diskussionen vor und bei Lissabon gab es ein mittel-osteuropäisches Mißverständnis: Nachdem die alte NATO abgeschafft war, verlangten die Osteuropäer Schutz vor Rußland durch Militärbasen. Indessen ist die NATO seit 1994, als der Vertrag "Partnerschaft für den Frieden" geschlossen wurde, mit Rußland verbündet. Moskau unterstützt seit 2001 den Afghanistankrieg, der die russische Südflanke schützt. Ehemalige sowjetische Hubschrauber mit ihren Besatzungen fliegen heute als private Sicherheitsdienstleister im Auftrag der USA Einsätze in Afghanistan. Zudem rollt Nachschub der NATO teilweise über russisches Gebiet. Eine Eisenbahnstrecke in Nordafghanistan dient ausschließlich dem militärischen Nachschub.

Die NATO sieht sich als Sonne im Zentrum eines Geflechts ineinandergreifender Institutionen, womit alle anderen Akteure als untergeordnet betrachtet werden. Zugleich existiert ein operatives Verhältnis zwischen NATO und UNO, das in einem ursprünglich geheimen Abkommen zur Zusammenarbeit festgelegt wurde. Seither wird die UNO von der NATO am Nasenring durch die Arena geführt, wie man das zuletzt im Libyenkrieg erlebt hat, so der Referent. Das traditionelle Gerangel um Zuständigkeiten zwischen NATO und EU endete 2010 vor allem auf Grund eines Positionswechsels Frankreichs. Unter Präsident Sarkozy kehrte Frankreich in die NATO zurück, und 2010 wurde die Vereinbarung von Lancaster über eine militärische Zusammenarbeit mit Britannien geschlossen. Was der Öffentlichkeit als Sparprogramm der beiden Länder verkauft wurde, war ein Pakt, in dessen Rahmen gemeinsame militärisch-industrielle Projekte vereinbart wurden. Es handelte sich um einen Paradigmenwechsel, da Frankreich solche Projekte zuvor mit Deutschland betrieben hatte. Die Konsequenzen zeigten sich im Libyenkrieg, den Frankreich und Britannien in vorderster Front führen. Deutschland fordert hingegen eine Erweiterung des NATO-Rußland-Rats mit dem langfristigen Ziel einer stufenweise Mitgliedschaft Rußlands in der NATO. Selbst Polen hat seine Skepsis inzwischen aufgegeben.

Seit den 90er Jahren baut die NATO zudem die Zivil-Militärische Zusammenarbeit aus, die bereits im Bosnienkrieg praktiziert wurde. Diese wird nun mit Informationsaustausch, gemeinsamer Planung und sogar gemeinsamen Manövern intensiviert, wobei die Details der Öffentlichkeit weitgehend unbekannt sind. Was die Erweiterung der NATO betrifft, fallen Georgien und die Ukraine besonders ins Auge. Beide Prozesse sind zum Erliegen gekommen, was auch für eine mögliche Ostasienerweiterung gilt.

Die Strategie von Lissabon definiert nicht zuletzt die Sicherung lebenswichtiger Ressourcen in den drei Schwerpunkten Aufklärung und Informationsaustausch, Projektion von Stabilität und Schutz kritischer Infrastruktur. Die Sicherung der Seewege wie etwa die Piratenjagd vor Somalia erfolgt unter Federführung der NATO. Die NRF hat offenbar Schutzverantwortung für Ölquellen: 2006 fand auf Kapverdischen Inseln ein Manöver mit rund 7.000 Soldaten unter dem Szenario statt, daß rivalisierende Fraktionen um Ölvorkommen kämpfen.

Für die aktuelle NATO hat deren Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen das Modewort "smart defense" geprägt, worunter angesichts der notwendigen Einsparungen ein effektiverer Einsatz der Mittel zu verstehen ist. Ob man von der NATO 2.1 oder der Nato 3.0 sprechen will, wäre zu diskutieren, wobei man letztere laut Cremer beim vollendeten Nordpakt unter Mitgliedschaft Rußlands ansiedeln könnte. Mit dem Ausblick, daß ein Abzug aus Afghanistan ohne Erfolgsgeschichte zu einer Legitimationskrise der NATO führen könnte, die die Friedensbewegung nutzen sollte, schloß der Referent seinen sehr instruktiven Vortrag.

Lühr Henken - Foto: © 2011 by Schattenblick

Lühr Henken
Foto: © 2011 by Schattenblick

"Bundeswehrreform: humanitäres Bomben für die Wirtschaft?"

Lühr Henken ist Beirat der Informationsstelle Militarisierung (IMI), war viele Jahre im Hamburger Forum für Frieden und Völkerverständigung aktiv und wurde nach seinem Umzug nach Berlin Sprecher des Bundesausschusses Friedenratschlag. Er hat als Friedensforscher zahlreiche Beiträge veröffentlicht.

Der Referent gab in seinem Vortrag Einblick in die Umgestaltung der Bundeswehr, die ihren im Grundgesetz festgelegten Verteidigungsauftrag längst zugunsten einer effizienten Interventionsstreitmacht im Kontext der NATO überschritten hat. Während die Bundeswehr in der Vergangenheit maximal 7.000 Soldaten für längere Auslandseinsätze abstellen konnte, wurde diese Zahl im Zuge der Bundeswehrreform 2010 deutlich erhöht. Wie der Referent erläuterte, sollen mit den sogenannten Eingreifkräften bis zu 50.000 Soldaten für NATO oder EU zur Verfügung gestellt werden, wobei etwa 25.000 gleichzeitig einsetzbar wären. Bislang kamen allerdings nur kleine Teile dieses Kontingents vor allem in Afghanistan operativ zum Zuge. Die Abschaffung der Wehrpflicht war erforderlich, da man Wehrpflichtige nicht in Ausländseinsätze schicken konnte und sie überdies beträchtliche Ausbildungskapazitäten banden. Gegenwärtig ist die Bundeswehr in der Lage, 10.000 Soldaten dauerhaft in Auslandseinsätze zu entsenden. Dies bindet 60.000 Soldaten, da diese im Zeitraum von 24 Monaten höchstens vier Monate ins Ausland geschickt werden dürfen. Änderte man die Einsatzbeschränkung, erhöhte sich jedoch schlagartig die Zahl verfügbarer Soldaten. Dies wurde noch nicht diskutiert, ist aber durchaus möglich, zumal Frankreich und Britannien ihre Soldaten häufiger entsenden. Frankreich kann 23.000 und Britannien 30.000 Soldaten gleichzeitig im Ausland einsetzen, wobei beide Armeen ähnlich groß wie die reformierte Bundeswehr sind.

Verteidigungsminister Thomas de Maizière hat Einsätze der Bundeswehr in Somalia, Pakistan, im Jemen und Sudan nicht ausgeschlossen. Unterdessen wirbt die Bundeswehr um Rückhalt in der Bevölkerung, die an die Kriegsführung gewöhnt werden soll. Die neuen verteidigungspolitischen Richtlinien sind aus den möglichen Einsätzen abgeleitet, so daß Konflikte die Grundzüge der Bundeswehrstruktur bedingen. Neben der Landesverteidigung ist stets von internationaler Konfliktlösung und Krisenbewältigung die Rede. Dabei lautet der Kernsatz, es sei in jedem Fall zu erwägen, inwieweit die Interessen Deutschlands und seine internationale Verantwortung berührt werden und welche Folgen ein Nichteingreifen hätte. Die nationalen Interessen sind also ausschlaggebend, wobei sie im Grunde mit der Wahrnehmung internationaler Verantwortung gleichgesetzt werden. Um deutsche Interessen zu wahren, soll das gesamtes "Handlungsspektrum" einschließlich des Einsatzes von Streitkräften vorgehalten werden. Beansprucht werden insbesondere freier Welthandel, freier Zugang zur hohen See und freier Zugang zu Ressourcen, wobei man geflissentlich ignoriert, daß es sich dabei um grundgesetzwidrige Wirtschaftskriege handelt.

De Maizière hebt die "Befähigung zum Kampf" als Maßgabe für Einsatzbereitschaft hervor und fordert damit offen die Kriegsfähigkeit der Bundeswehr. Über die Verteidigung, also die Abwehr von Eingriffen in eigenes Rechtsgut hinaus hält man mit der Intervention den Eingriff in Rechtsgüter anderer offen. Weil das eigene Interesse dabei die einzige Maßgabe ist, herrscht folglich das Recht des Stärkeren. Da Krieg für die eigene Bevölkerung dennoch als gerechtfertigt ausgewiesen werden soll, zog man als angebliche Lehre aus dem Jugoslawienkrieg das Konzept der Responsibility to Protect (R2P), das zunehmend das Denken in den westlichen Ländern prägt. 2006 nahm die UN-Vollversammlung die Resolution zur sogenannten Schutzverantwortung an: Kann ein Staat seine Bevölkerung nicht gegen Völkermord, Krieg, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ethnische Säuberung schützen, geht die Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über. Damit wird das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten weiter aufgeweicht. In diesem Zusammenhang gilt es kritisch zu prüfen, ob Meldungen über angeblich verübte Greueltaten tatsächlich zutreffen. Lassen sich derartige Taten militärisch verhindern und kann die Hoffnung auf Eingreifen von außen nicht sogar eskalierend auf einen latenten Konflikt wirken? Humanitäre Intervention bietet einen willkommenen Deckmantel für andere Kriegsgründe ökonomischer und geostrategischer Art, unterstrich Lühr Henken.

Auch beim deutschen Rüstungsexport wird vordem Geächtetes in Normalität überführt. In den letzten fünf Jahren ist Deutschland mit einem Weltmarktanteil von 10,6 Prozent zum Exporteuropameister im Rüstungsgeschäft aufgestiegen. Dabei wurde fast doppelt so viel Kriegsgerät exportiert wie von Frankreich und Britannien zusammengenommen. Kriegswaffen in Kriegsgebiete und in die Hände von Folterstaaten zu liefern ist kein Problem mehr. So wurden mehr als 200 Leopard-Panzer insbesondere zur Aufstandsbekämpfung an Saudi-Arabien verkauft, das zudem eine Fabrik zur Fertigung von G36-Gewehren erhielt. Eurofighter gehen nach Indien, Radpanzer an Algerien und Kanonenboote nach Angola. Die deutsche Rüstungsindustrie setzt im Jahr etwa 17 Mrd. Euro um, wobei etwa 70 Prozent in den Export gehen.

Theoretisch wird die Schuldengrenze auch im Verteidigungshaushalt umgesetzt, in dem 8,3 Mrd. Euro eingespart werden sollen. Die Bundeswehr wird von 235.000 auf 75.000 bis 85.000 Soldaten verkleinert und zu einer Berufs- und Zeitsoldatenarmee mit einer kleinen Freiwilligenkomponente. Im Zuge einer Umschichtung der Teilstreitkräfte steigt die Bedeutung der Marine tendenziell an. Vor allem aber wird die Bundeswehr insgesamt schlagkräftiger. Dabei werden die konzipierte Sparziele absehbar nicht umgesetzt. Vielmehr geht man wieder dazu über, Teilbereiche in andere Haushaltspläne auszulagern.

Für essentiell erachtete Komponenten bleiben indessen von Kürzungen verschont. Das gilt beispielsweise für das Satellitenaufklärungssystem SAR-Lupe, das auf Radartechnik basiert und seit Ende 2008 von Bundeswehr und BND genutzt wird. Das System kostet 750 Mio. Euro und ist in der Lage, Tag und Nacht bei jedem Wetter Erdbeobachtungen zu machen und dabei Objekte zu identifizieren, die größer als 50 cm sind. Diese Beobachtung aus dem Weltraum nimmt eine Spitzenposition im Radarbereich ein und ist binnen elf Stunden an jedem gewünschten Ort auf dem gesamten Erdball einsetzbar.

Im Rahmen einer vernetzten Operationsführung kommt dem Einsatz von Drohnen besondere Bedeutung zu. Ein gleichzeitiges Lagebild an allen relevanten Befehlsstellen beschleunigt die Entscheidungsprozesse. Deutschland ist mit fünf Drohnen vom Typ Global Hawk beteiligt, die aus den USA bezogen werden und in die Aufklärung der NATO eingebunden sind. Diese unbemannten Flugkörper operieren in einer Höhe von 20 km und können binnen 24 Stunden ein Gebiet so groß wie Nordkorea scannen. Dabei werden Funksprüche von Befehlscodes und Einsatzbefehlen abgehört, so daß eine Analyse der gesamten Kommandostruktur eines Landes möglich wird. Zudem verfügt die Bundeswehr über 600 Marschflugkörper für Eurofighter und Tornados. Sie tragen 500 Kilo Sprengstoff für Angriffe auf Bunker, Fernmeldezentren, Versorgungseinrichtungen, Brücken, Flugzeuge am Boden, Flugplätze und Luftverteidigungsstellungen.

Wenngleich das Heer personell deutlich verkleinert wird, gilt das nicht für die "schnellen Kräfte" mit Fallschirmjägern, KSK und dem Tigerregiment (36 Kampfhubschrauber). Auch bleibt ein Kontingent von 11.000 Infantristen unverändert, das sich aus Fallschirmjägern, Gebirgsjägern und Panzergrenadieren zusammensetzt, die mit einer HighTech-Ausrüstung für vernetzte Operationsführung ausgerüstet werden. Die Marine definiert ihr Einsatzgebiet über die Küstenlinie hinaus ins Hinterland und ist somit nicht nur für den Schutz der Schiffahrt, sondern auch für den Landkrieg von See aus konzipiert. Dem liegt die Prognose zugrunde, daß 2020 über 75 Prozent der Weltbevölkerung innerhalb eines nur 60 km breiten Küstenstreifens leben werden. Dem sollen Operationen bis in entfernte Randmeerregionen Rechnung tragen. Dafür erhält die Bundesmarine unter anderem Korvetten mit Tarnkappeneigenschaften, deren Marschflugkörper auch Landziele präzise treffen können. Wie der Referent abschließend bilanzierte, wird am Rüstungshaushalt nicht wirklich gespart, da Reduzierungen für neue Investititionen verwendet werden und die Regierung mit Blick auf künftige Anforderungen von vermehrten Bundeswehreinsätzen ausgeht.

In der Diskussion kam eine Reihe von Fragen zur Sprache, die von einer möglichen Änderung des Grundgesetzes und der mutmaßlichen Zweckentfremdung von Rentenbeiträgen über die Therapie von Soldaten mit posttraumatischen Belastungsstörungen und die Tageszulage im Auslandseinstz bis hin zur weltweiten Kriegsfähigkeit der Bundeswehr und wiedererwachten Großmachtträumen reichte.

Uli Cremer ging in Beantwortung aufgeworfener Fragen vertiefend darauf ein, das heute nicht nur Atomwaffen, sondern auch Kriseninterventionskräfte eine machtpolitische Währung seien. Es handle sich jedoch nicht um deutsche Großmachtträume, sondern eine Integration der Bundeswehr in die NATO durch entsprechende Reformen. Die aktuelle Einsatzfähigkeit deutscher Truppen sei nicht im einzelnen bekannt, doch resultierten unterschiedliche Rechenfaktoren daraus, daß in Deutschland auf Grund gewerkschaftlichen Einflusses dem Einsatz der Soldaten bislang engere Grenzen gesetzt sind, als in anderen führenden europäischen NATO-Staaten. Grundsätzlich lasse sich sagen, daß die Militärhaushalte kaum beschnitten werden. Die Gleichsetzung des Militärbündnisses der NATO mit dem kollektiven Sicherheitssystem der UNO sei irreführend, da kollektive Sicherheit mögliche Gegner einschlösse. Solange das nicht der Fall sei, bleibe die NATO definitiv ein Bündnis gegen andere.

Lühr Henken warnte davor, am Grundgesetz zu rütteln, da dies nur zu einer Verschlechterung führen würde. Das Bundesverfassungsgericht gab grünes Licht für die Neuausrichtung der Bundeswehr und damit einen Kurs rechtswirksamer Absicherung bundesdeutscher Kriegsbeteiligung vor. Was die angesprochene Tageszulage der Soldaten im Einsatz betreffe, sei diese in der Tat attraktiv. Ein Soldat erhalte 92 Euro pro Tag steuerfrei und damit nach einem viermonatigen Einsatz 12.000 Euro bar auf die Hand, was angesichts massiver sozialer Verwerfungen auch in Deutschland zweifellos verlockend ist. Demgegenüber seien die Kriegskosten horrend: Das Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat errechnet, daß die Beteiligung der Bundeswehr am Afghanistankrieg bislang 17 Mrd. Euro verschlungen hat und bis 2014 insgesamt 22 Mrd. und bei Einbezug der Kreditkosten sogar 35 Mrd. Euro aufgewendet werden müssen.

Sabine Schiffer - Foto: © 2011 by Schattenblick

Sabine Schiffer
Foto: © 2011 by Schattenblick

"Medien-Desinformation und Alternativen"

Sabine Schiffer leitet das Institut für Medienverantwortung in Erlangen. Die Arbeiten der Medienwissenschaftlerin und Journalistin zum Islam in deutschen Medien und Medienkompetenz im Bildungswesen sind wesentliche Quellen, um in der Informationsgesellschaft differenzieren zu können. Sie analysiert die vierte Gewalt, wie die Medien auch genannt werden, in ihrer Bedeutung für eine staatstragende Meinungsbildung und entwirft Gegenstrategien.

Wie Sabine Schiffer einleitend hervorhob, seien informierte Menschen in aller Regel kritischer im Hinblick auf zahlreiche gesellschaftliche Phänomene und Komplexe. Deswegen sei der Begriff Desinformationsgesellschaft durchaus treffend. Sie wolle in ihrem Vortrag darauf eingehen, wie die Medien desinformiert werden, um ihrerseits die Bürger effektiver manipulieren zu können. Man könne in diesem Zusammenhang von einem Machtkampf zwischen vierter Gewalt als Idealtypus der Medien und fünfter Gewalt sprechen. Wenngleich Magazinsendungen und andere Beiträge zu bestimmten Themen mitunter dem klassischen Anspruch auf Unabhängigkeit gerecht würden, gelte das nicht für Nachrichtensendungen, die von Konformismus geprägt seien. Medien gerieten aus ökonomischen und politischen Gründen unter starken Druck, wodurch es immer schwieriger werde, fundiert zu arbeiten. Demgegenüber verzeichne die fünfte Gewalt einen enormen Zuwachs: PR im wirtschaftlichen, militärischen und politischen Bereich sowie Lobbygruppen, die über entsprechende finanzielle Mittel verfügen, um Einfluß über Vergabe von Preisen und andere Maßnahmen, die mediale Aufmerksamkeit erregen, zu nehmen.

Dabei wird bevorzugt mit Emotionen und legitim klingenden Spins gearbeitet. Ein prägnantes Beispiel ist das Bild der schwer entstellten 18jährigen Afghanin Aisha, die das US-Wochenmagazin Time am 9. August 2010 unter der Schlagzeile "Was passiert, wenn wir Afghanistan verlassen" präsentierte. Sabine Schiffer hob hervor, daß diese Verstümmelung in einer Region stattfand, die von den Besatzungstruppen kontrolliert wurde, um dem Argument, durch militärische Interventionen ließen sich solche Formen patriarchalischer Gewalt verhindern, den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Das Schicksal dieser Afghanin ist von besonderer Bedeutung, da es dank seiner medialen Vervielfältigung von einiger politischer Wirkung war. Weil Aisha der Unterdrückung durch ihren Mann entfloh, schnitt dieser ihr, angeblich aufgrund der dabei erlittenen Entehrung, Ohren und Nase ab und ließ sie schwer verletzt zurück. Das Mädchen überlebte dennoch und wurde von einem Frauenasyl in Kabul aufgenommen, wo das spektakuläre Titelbild entstand. Bei dem Täter soll es sich um einen Taliban gehandelt haben. Diese wiesen in einer Erklärung die Verantwortung für die Verstümmelung zurück, die allem Anschein nach ebenso wie die Degradierung des Mädchens zu einem Objekt der Streitschlichtung zwischen verfeindeten Clans Ergebnis archaischer Stammespraktiken ist. Doch um eine differenziertere Sicht auf das Zustandekommen derartiger Grausamkeiten oder eine grundsätzliche Kritik nicht nur in Afghanistan verübter patriarchalische Gewalt schien es weder den Herausgebern der Time noch den Kolporteuren der darin angelegten politischen Intention zu gehen.

Mit dieser Exposition eines afghanischen Frauenschicksals wurde der bekannte Merksatz, daß ein Bild mehr als tausend Worte sagt, auf überzeugende Weise als irreführend widerlegt. Die im Titel angelegte Unterstellung, das Schicksal Aishas verallgemeinere sich, wenn die ausländischen Besatzungstruppen abzögen, unterschlägt die Leiden der vielen Frauen, die einer Kriegführung zum Opfer fallen, der die Unterdrückungspraktiken afghanischer Männer bloßer Vorwand für das geo- und bündnisstrategische Kriegskalkül sind. Es wird Stimmung gemacht für die Fortsetzung eines Eroberungskrieges, in dessen Verlauf die Taliban gestürzt wurden, um einheimische Führer an ihre Stelle treten zu lassen, die sich Frauen gegenüber nicht weniger verächtlich und ausbeuterisch verhalten als ihre Vorgänger. Mindestens ein Drittel der Bevölkerung des Landes hungert, doch die Frauen, die ihre Kinder nicht ernähren können, werden keinesfalls mit dem gleichen Engagement aus ihrer mißlichen Lage befreit, mit dem die Propagandaabteilungen der NATO-Staaten vortäuschen, es ginge ihnen um die Beendigung der Unterdrückung von Frauen.

Sabine Schiffer im Vortrag  - Foto: © 2011 by Schattenblick

Tragisches Frauenschicksal für den Krieg instrumentalisiert
Foto: © 2011 by Schattenblick

Unterschlagen werden auch die vielen Bilder, die in den Folterverliesen von Bagram und Guantanamo nicht gemacht wurden, weil sie die Grausamkeit der Staaten dokumentieren, die die Grausamkeiten der Taliban anprangern. Die dort aus Afghanistan verschleppten Männern häufig jugendlichen Alters zugefügten Qualen sind zwar in Berichten und Dokumenten belegt, doch um diese zu studieren reicht ein Blick nicht aus. Diese tausend Worte bringen allerdings die Perfidie einer kulturalistischen Suprematie zum Ausdruck, die aus gutem Grund nicht auf ähnlich exponierte Weise wie die Aufnahme der verstümmelten Aisha thematisiert wird. Das gilt auch für die Folterfotos aus dem irakischen Abu Ghraib - die in diesem Gefangenenlager angewendeten Folter- und Mordpraktiken wurden in den Konzernmedien weder auf den Nenner imperialistischer Kriegführung gebracht, noch wurden hochrangige Politiker und Militärs dafür zur Verantwortung gezogen. Wer die Berichte der Folterungen sogenannter illegaler feindlicher Kombattanten, die in einem Zustand völliger Entrechtung inzwischen bis zu neun Jahren festgehalten werden und nicht wissen, ob sie jemals wieder freikommen werden, studiert hat, ist von der propagandistischen Wirkung des Time-Covers nicht zu erreichen.

Zweifellos werden Frauen in patriarchalischen, an Stammesgesetzen und monotheistischer Religiosität orientierten Gesellschaften auf eine Weise unterdrückt, die in jeder Beziehung inakzeptabel ist. Wenn Frauen in der EU und den USA jedoch meinen, sich einer wiederum von Männern dominierten Kriegsmaschinerie bedienen zu können, um daran etwas zu ändern, dann suchen sie ihr Heil in einer antiemanzipatorischen Ideologie, die sie davon freihält, ihre eigene gesellschaftliche Position zu gefährden. Nach den vielen militärischen Interventionen, denen Länder des Nahen und Mittleren Ostens in kolonialistischen und imperialistischen, unter der Prämisse zivilisatorischer Überlegenheit geführten Kriegen ausgesetzt waren, müßten diese Länder ein Hort der Frauenfreiheit sein.

Die afghanische Politikerin Malalai Joya und die afghanische Frauenrechtlerin Zoysa von der Organisation Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (RAWA) sind sich einig darin, daß ihnen durch die Anwesenheit ausländischer Truppen nicht geholfen ist. Für sie sind die alten wie die neuen Machthaber vom gleichen frauenfeindlichen Schlag, doch ihre Stimmen verhallen im Westen fast ungehört. Wenn eine zum viertgrößten Medienkonzern der Welt, Time Warner, gehörige Zeitschrift sich für Frauenrechte in Afghanistan stark macht, dann erfolgt dies unter dem Primat strategischer Erwägungen, die im Machtgefüge der Gesellschaft verankert sind, die die Basis ihres Gewerbes bildet. Kritische Stimmen aus den Ländern, die zum Wohl der eigenen Nation erobert werden, können da nur stören. [1]

Die Referentin wies in diesem Zusammenhang darauf, daß wenige Tage vor besagter Ausgabe des Time Magazins die Enthüllungsplattform WikiLeaks Dokumente über Kriegsverbrechen der westlichen Besatzungsmächte publik gemacht hatte. Zudem sei kurz zuvor das Red Cell Paper aufgetaucht, in dem es darum ging, in europäischen Ländern den Widerstand gegen den Afghanistankrieg gezielt zu brechen. Darin war davon die Rede, das Bild der unterdrückten Frauen in den Vordergrund zu rücken, um die öffentliche Meinung für den Krieg zurückzugewinnen. Fast jeder deutsche Politiker führe inzwischen das Argument der afghanischen Mädchenschulen als Erfolg an, was die Zeit der sowjetischen Besatzung komplett ausblende, in der Schulbesuch weithin möglich war.

Die Doktrin Menschenrecht vor Völkerrecht legitimierte die Kriege der NATO auf dem Balkan mit der Behauptung, wie sie Außenminister Fischer vortrug, ein neuer Holocaust müsse verhindert werden. Wenngleich in zahlreichen anderen Fällen jede Parallele zum Holocaust als nicht statthaft entschieden zurückgewiesen wird, blieb sie in diesem Fall weithin unwidersprochen. Wollte man den humanitären Anspruch ernst nehmen, müßte man Kriege in vielen weiteren Ländern führen.

Tageszeitungen bestehen nach Angaben der Referentin inzwischen zu 50 bis 60 Prozent aus Firmeninformationen oder PR. Journalisten bekommen diese Mitteilungen auf den Tisch und holen, wenn sie kritisch herangehen, eine zweite Meinung ein. Das heißt jedoch nicht, daß sie die Agenda grundsätzlich in Frage stellen. Entscheidend sei, daß sie mit irrelevanten Informationen zugekleistert werden, die ihre Zeit und Aufmerksamkeit binden. Sie kommen angesichts ihres Arbeitsdrucks kaum noch dazu, die Frage zu stellen, was wichtig ist und was man eigentlich recherchieren sollte. Verfügt man hingegen über die nötigen Geldmittel, kann man eine Agentur damit beauftragen, beispielsweise das Image der Bundeswehr zu verbessern. Führende Agenturen überlassen nichts dem Zufall, um die Aufmerksamkeit zu steuern, und setzen das gewünschte Bild der Soldaten gezielt in Szene.

Welche Alternativen gibt es? Unter Journalisten herrsche, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Konformismus vor, bilanziere die Referentin. Einige Internetmedien versuchten, Gegenöffentlichkeit zu schaffen, doch müsse man dabei zwischen seriösen Webseiten und als diffusen Sammelsurien konzipierten Blogs unterscheiden. Bei letzteren stellte sich oftmals die Frage, ob ihr Erscheinungsbild der Naivität der Betreiber geschuldet oder eine Form gezielter Unterwanderung sei, um Graswurzelbewegungen auszuhebeln. Das Internet biete an sich Möglichkeiten, Gegenöffentlichkeit zu schaffen, doch seien der Zugänglichkeit insbesondere durch die Algorithmen der Suchmaschinen relativ enge Grenzen gesetzt. Erforderlich sei eine systematische Medienbildung an Schulen, um eine kritische Auseinandersetzung mit Prozessen der Meinungsbildung zu fördern. Es gelte zudem, Journalisten und Medien, die gute Arbeit leisten, zu stärken, zumal es keinen Sinn mache, immer wieder neue Medien wie die Genossenschaftszeitung taz zu gründen, die doch wieder systemintegrativ geworden ist und zuletzt für den Libyenkrieg geworben hat.

Die anschließende Diskussion kreiste insbesondere um die Frage, ob die Friedens- und Umweltbewegung die Bedeutung der Medien unterschätze und bestimmte Publikationen unterstützen sollte. Es herrschte zwar Einigkeit darüber, daß sich auch in konservativen Presseerzeugnissen mitunter begrüßenswerte Beiträge bestimmter Autoren fänden. Indessen warnten skeptische Stimmen davor, aus diesem Grund solche Medien zu stärken, deren Ausrichtung man insgesamt ablehne.

Sabine Schiffer bezeichnete es als abträglich, Medien pauschal zu bewerten, da einzelne Artikel auch in Mainstreammedien als bemerkenswerte Ausnahmen für sich stünden. Sie kam noch einmal auf die vorherrschende Selbstzensur zu sprechen und führte dazu als Beispiel den Vorwurf der Frauenunterdrückung an, die doch nicht nur im Islam, sondern überall in der Welt anzutreffen ist: Da könne man unter demselben Vorwand auch einen Krieg gegen Brasilien vom Zaun brechen. Es gelte Rituale zu analysieren, mit denen Journalisten fortgesetzte Unterwürfigkeitsgesten abverlangt werden. Wer beispielsweise den antiislamischen Spin kritisiere, sehe sich des Vorwurfs ausgesetzt, er befürworte den orthodoxen Islam. Man müsse von der Gegenseite lernen, doch dürfe man sich nicht in die Defensive drängen und die Themen reaktiv aufzwingen lassen. Auf den Einwand hin, die IPPNW thematisiere seit geraumer Zeit die Gefahren der Uranmunition, stoße dabei aber auf wenig Resonanz in der Öffentlichkeit, brachte die Referentin verschiedene Vorschläge zur Sprache, auf welche Weise eine aktive Pressearbeit in Angriff genommen werden könne, um der raumgreifenden Uniformität der Medienlandschaft kritische Stimmen entgegenzusetzen.

Abschließend bleibt festzuhalten, daß die Antikriegsbewegung nicht umhin kann, sich der Auseinandersetzung mit der machtpolitischen Durchsetzung herrschender Interessen in der bundesdeutschen Gesellschaft wie auch weltweit zu stellen, will sie nicht an selbstgewählter Wirkungslosigkeit scheitern. Frieden als vermeintliche Antithese zum Krieg unterschlägt die Wechselfolge der beiden Varianten struktureller Herrschaftssicherung durch Unterwerfung, Ausbeutung und Zurichtung. Kriege zu führen ist in diesem Sinne eine systemische Notwendigkeit kapitalistischen Verwertungsdrucks und imperialistischer Expansion. Daher greift eine Kritik zu kurz, die an den Feldzügen der Bundeswehr deren vermeintliche Sinnlosigkeit, Erfolglosigkeit und Kostspieligkeit kritisiert und demgegenüber die Alternative eines Zusammenlebens auf der Grundlage von Friedfertigkeit und Menschlichkeit propagiert. Militärische Waffengewalt ist das Fundament von Staatsräson und Wirtschaftsordnung, die nach innen und außen durchgesetzt wird. Kriegführung und Rüstungsproduktion in Frage zu stellen ohne zugleich an den Fundamenten der Ausbeutung von Arbeitskraft, Ausgrenzung für nutzlos erachteter Bevölkerungsteile und weltweiter Raubstrukturen zu rütteln, käme einer Selbstbeschränkung gleich, deren Reintegration in die herrschenden Verhältnisse vorgezeichnet wäre.

Fußnote:

[1] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/kommen/prop1406.html

Tag der Deutschen Einheit in Bonn 3. Oktober 2011 - Foto: © 2011 by Schattenblick Tag der Deutschen Einheit in Bonn 3. Oktober 2011 - Foto: © 2011 by Schattenblick Tag der Deutschen Einheit in Bonn 3. Oktober 2011 - Foto: © 2011 by Schattenblick Tag der Deutschen Einheit in Bonn 3. Oktober 2011 - Foto: © 2011 by Schattenblick

Mit Katastrophenangst spielen ... Bundeswehr im Werbeeinsatz
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14. Oktober 2011