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BERICHT/099: Kongreß Kurdischer Aufbruch - Januskopf Europa (SB)


Die Frage der Menschenrechte, der türkisch-kurdische Konflikt und die Suche nach einer kritischen Sozialwissenschaft

Kariane Westrheim, Vorsitzende der European Turkey Civic Commission (EUTCC) - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kariane Westrheim, Vorsitzende der European Turkey Civic Commission (EUTCC)
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die demokratische Kontrolle der Europäischen Union obliegt bekanntlich dem Europäischen Parlament als der demokratischen Basis oder vielmehr dem "guten Gewissen" des im Entstehen begriffenen europäischen Superstaats unter Vormachtstellung Deutschlands. Das Brüsseler Parlament stellt eine ideale Kulisse dar für eine Inszenierung, die dort seit 2004 alljährlich abgehalten wird, um eine höchst brisante Widerspruchslage, deren Potential geeignet wäre, Selbstverständnis, Anspruch und Wirklichkeit der Europäischen Union mit unabsehbaren Folgen auf den Prüfstand zu heben, in moderate Bahnen zu lenken und somit zu entschärfen. Die sogenannte Kurdenfrage würde es nicht geben, wenn die postulierten Werte von Demokratie und Freiheit oder, völkerrechtlich ausgedrückt, das Selbstbestimmungsrecht der Völker etwas anderes wären als administrative Instrumente einer westlich dominierten Hegemonialordnung, die diese legalistischen Abfallprodukte früherer Auseinandersetzungen und Befreiungsbestrebungen ihren Interessen gemäß zu vereinnahmen und einzusetzen seit langem imstande ist.

Dies vermag zu erklären, warum die Unabhängigkeitserklärung der abtrünnigen serbischen Provinz Kosovo vom Februar 2008 von der internationalen Gemeinschaft mehrheitlich anerkannt und am 22. Juli 2010 vom Internationalen Gerichtshof (IGH) als nicht völkerrechtswidrig bestätigt wurde, obwohl, wie der Völkerrechtler Norman Paech bereits 2008 dargelegt hatte [1], die neue serbische Verfassung vom Oktober 2006 dem Kosovo ausdrücklich einen Autonomie-Status mit weitgehenden Selbstverwaltungsrechten zuerkannt hatte, während das kurdische Volk, wenn nicht in seiner Existenz verleugnet, so doch vollständig daran gehindert wird, das ihm zustehende Selbstbestimmungsrecht in Anspruch zu nehmen. Da die Türkei als langjähriger EU-Beitrittskandidat nicht einmal eine Kurdenpolitik betreibt, weil dies die Anerkennung der Kurden und Kurdinnen als eigenes, neben dem türkischen in der Türkei lebendes Volk voraussetzen würde, ist der türkisch-kurdische Konflikt so etwas wie der Strich durch die Rechnung eines Europas, das so gern als demokratisch und fortschrittlich wahrgenommen werden möchte, um die tatsächlich brutale Machtpolitik in Innen- wie Außenpolitik besser kaschieren zu können.

Die heutige kemalistische Türkei ist laut Verfassung, ihrem Staatsverständnis und dessen blutiger Realisierung ein Staat, den es in dieser Form in einer demokratischen Welt nicht geben dürfte. Es ist ein Staat der Türken, womit die Assimilation anderer Völker alternativlos vorgegeben und festgeschrieben ist, da die türkischen Staatsbürger demnach nur türkisch sein können und dürfen. Unter diesen Voraussetzungen und Bedingungen die eigene Identität, Kultur und Sprache und vor allen Dingen auch den Wunsch, sich als ein eigenständiges Volk selbst organisieren zu können, über so viele Jahrzehnte hinweg aufrechterhalten und lebendig gehalten zu haben, muß als ein Erfolg der kurdischen Bewegung respektiert werden. Die offiziellen EU-Gremien allerdings sind meilenweit davon entfernt, den Kurdinnen und Kurden diesen Respekt zu zollen und sie in ihren Bestrebungen, mit der türkischen Regierung zu einer politischen Einigung zu kommen, zu unterstützen.

Die EU hat in diesem Konflikt voll und ganz Partei für die Türkei ergriffen und deren Standpunkt, demzufolge es keinen Kurdenkonflikt gäbe, sondern einzig und allein ein Terrorismusproblem, übernommen. Kurdische Widerständigkeit wird ungeachtet der eingesetzten Mittel als "terroristisch" bezeichnet. Das geht soweit, daß schon die Forderung nach kurdischsprachigem Unterricht nach Auffassung Ankaras als terroristisch gilt; schließlich habe sich auch die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK für muttersprachlichen Unterricht eingesetzt. Wie aber soll sich die EU verhalten, wenn Menschenrechtsverletzungen durch türkische Sicherheitskräfte oder das Militär zur Sprache gebracht werden, bei denen es sich nach türkischer Lesart selbstverständlich um rechtmäßige Antiterroroperationen handelt?

Für diesen weit über die Grenzen der türkischen Republik hinausreichenden und namentlich auch die Europäische Union unmittelbar betreffenden Konflikt gibt es keine Lösung. Im November 2004 haben sich mehrere europäische Menschenrechtsorganisationen [2] zur "EU Turkey Civic Commission" (EUTCC) zusammengeschlossen, um die Aufnahme der Türkei in die EU voranzubringen und in diesem Zusammenhang die Einhaltung der Menschen- und Minderheitenrechte ebenso zu garantieren wie für eine friedliche, demokratische und langfristige Lösung der kurdischen Frage Sorge zu tragen. Am 7. und 8. Dezember 2011 hielt diese Kommission ihre achte internationale Konferenz im Brüsseler EU-Parlament ab, um in diesem Rahmen Aufklärungsarbeit zu leisten über die aktuelle Situation der Kurden und Kurdinnen in der Türkei sowie die tatsächliche Haltung der EU-Kommission, wobei die europäischen Menschenrechtsaktivisten und -aktivistinnen ihr besonderes Augenmerk auf die Frage legen, ob und inwiefern seitens der EU ihre Möglichkeiten, auf den Beitrittskandidaten Türkei Einfluß zu nehmen bzw. Druck auszuüben, tatsächlich genutzt werden.

Mit dieser Arbeit hat sich die EU Turkey Civic Commission bei der türkischen Regierung bereits mehr als unbeliebt gemacht, wie ihre Leiterin, die Norwegerin Kariane Westrheim, schon am eigenen Leibe erleben mußte. Sie gehört seit 2001 der norwegischen Rafto Foundation an und hat die EUTCC 2004 mitgegründet. Am 24. April 2010 war sie nach Istanbul geflogen, um die Arbeit der Kommission, nämlich zu untersuchen, ob die Menschenrechtssituation in der Türkei den Anforderungen der Europäischen Union entspricht, fortzusetzen. Die türkischen Behörden verwehrten ihr dies. Sie wurde noch am Flughafen von Istanbul festgenommen und in ein Flugzeug zurück nach Skandinavien gesetzt. Ihr wurde vorgeworfen, "Separatisten" zu unterstützen und gegenüber der türkischen Politik sehr kritisch eingestellt zu sein. "Sie haben mir gesagt: 'Sie werden nie, nie, nie wieder in die Türkei einreisen'", hatte Westrheim seinerzeit berichtet [3].

Auf dem Kongreß "Die Kapitalistische Moderne herausfordern - Alternative Konzepte und der kurdische Aufbruch" war die norwegische Wissenschaftlerin, die an der Universität von Bergen lehrt und sich in ihrer Forschungsarbeit auf Kriegs- und Krisengebiete konzentriert und bereits mehrere wissenschaftliche Arbeiten über die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) und den türkisch-kurdischen Konfikt veröffentlicht hat, als Moderatorin des ersten Themenkomplexes - Session 1: Die Suche nach einer neuen Sozialwissenschaft - vorgesehen gewesen. Zu ihrem großen Bedauern hatte sie Hamburg wegen schlechter Flug- und Wetterlage nicht rechtzeitig erreichen können. Am dritten Kongreßtag allerdings holte sie das Versäumte so gut es ging nach und sprach gleich zu Beginn in dem schon am frühen Vormittag gut gefüllten Vorlesungssaal des Pädagogischen Instituts.

Kariane Westrheim steht am Rednerpult und spricht - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kariane Westhreim spricht einer neuen, kritischen Sozialwissenschaft das Wort
Foto: © 2012 by Schattenblick

Professorin Kariane Westrheim thematisierte bei dieser Gelegenheit nicht die Inhalte ihrer Forschungsarbeit. Ebensowenig ging sie auf die erst wenige Monate zurückliegende Jahrestagung des EUTCC ein oder die Schwierigkeiten, mit denen die Kommission in ihrer Arbeit zu kämpfen hat. Die Wissenschaftlerin konzentrierte sich in der ihr zur Verfügung stehenden Redezeit auf wissenschaftstheoretische und -kritische Themen im Zusammenhang mit der am ersten Kongreßtag aufgeworfenen Frage nach einer neuen Sozialwissenschaft oder einem Paradigmenwechsel. Die akademische Forschung müsse, so Westhreim, ebenso reflektiert betrachtet werden wie die Kurdische Arbeiterpartei und die kurdische Freiheitsbewegung. Als Wissenschaftlerin, die im Bereich der Bildung tätig ist, seien ihr die von international anerkannten Forschern verfaßten Beiträge über die kurdische Bewegung sehr wohl vertraut. Ihrer Einschätzung nach, die sie als ihre "ganz persönliche Meinung" auswies, sind die vorhandenen Werke bzw. deren Autoren und Autorinnen allerdings "zu sehr darauf bedacht, ein Gleichgewicht zwischen den Parteien herzustellen", was zur Folge habe, daß diese Forscher nicht wirklich schauten, was da ganz unten an der Basis passiere.

Damit hat die norwegische Wissenschaftlerin - wenn auch in moderaten Worten - ein brisantes Thema angesprochen, nämlich das des wissenschaftlichen Objektivitätsanspruchs, der selbstverständlich spätestens dann kritik- und fragwürdig wird, wenn man, wie sie sagte, das Gefühl bekäme, daß die Forscher sehr stark davon beeinflußt seien, wie der Staat die Dinge betrachte. Es werde einem beigebracht, zu dem wissenschaftlich behandelten Thema eine Distanz zu wahren und sich selbst nicht - und schon gar nicht emotional - einzubringen. Auch gelte es als unwissenschaftlich, die Menschen persönlich zu kennen, die Gegenstand der Forschungsarbeit sind. Würden diese Normen wissenschaftlichen Arbeitens verletzt, laufe man Gefahr, in der eigenen Wissenschaftsgemeinde ausgegrenzt und ausgeschlossen zu werden, an eine internationale Anerkennung der Forschungsarbeit sei dann gar nicht mehr zu denken. Wenn sich dann noch Wissenschaftler oder Wissenschaftlerinnen wie in ihrem Fall einem Forschungsgegenstand zuwenden wie der als terroristisch eingestuften PKK, sei die Forschungsarbeit selbst mit einem gewissen Risiko behaftet.

Die tatsächlichen Schwierigkeiten in der Forschungsarbeit zur PKK und der kurdischen Freiheitsbewegung bestehen ihren Angaben zufolge darin, daß die türkische Regierung alles daran setze, um eine solche Arbeit zu sabotieren und zu verhindern. Kariane Westhreim erklärte, an ihre Zuhörer und Zuhörerinnen gewandt, daß diejenigen, die so etwas schon einmal versucht hätten, bereits selbst erlebt haben dürften, wie das ist, unter Beobachtung gestellt oder sogar festgenommen zu werden. Eine wichtige und kritische Sozialwissenschaft zu entwickeln, sei unter diesen Umständen eine Art politische Arbeit. Dem wissenschaftlichen Neutralitäts- und Objektivitätsanspruch erteilte sie in diesem Zusammenhang insofern eine Abfuhr, als sie erklärte, daß jeder Wissenschaftler und jede Wissenschaftlerin eine politische Wahl treffen müsse.

In der Türkei selbst könnten viele Akademiker und Akademikerinnen ihre Forschungsarbeit überhaupt nicht betreiben, da sei an eine wissenschaftliche Arbeit gemäß den in den europäischen Ländern üblichen Standards nicht zu denken aufgrund der tagtäglichen Sorge um sich und das eigene Leben. Kariane Westrheim erteilte auch einem positivistisch-deskriptivistischen Wissenschaftsverständnis eine Absage und sprach sich explizit dafür aus, die Menschen, die es betrifft, in die Forschungsarbeit mit einzubeziehen. Täte man dies nicht, so erklärte Westrheim, würden sich "die Dinge niemals ändern", eine solche Herangehensweise sei sehr wichtig für die Entwicklung einer kritischen Sozialwissenschaft.

In Hinsicht auf die PKK und die kurdische Freiheitsbewegung sprach die norwegische Professorin von dem Transformationsprozeß, der hier stattgefunden habe und der besonderen Verantwortung, die "wir Akademiker" hätten. Sie sprach sich dafür aus, daß sich auch Forscher außerhalb der kurdischen Bewegung mit den von und in dieser kurdischen Bewegung aufgestellten und zum Teil bereits umgesetzten theoretischen Ansätzen befassen sollten. Wir bräuchten, so erklärte sie, alternative Methoden auch in der Wissenschaft und ein kritisches Bewußtsein zu der Frage, was wir eigentlich mit unseren Beiträgen erreichen wollen. Ein neuer Ansatz in der Sozialwissenschaft sollte etwas bewirken; ein solches Verständnis wäre eine Methode, mit der sich anfangen ließe.

Zum Abschluß machte Kariane Westrheim noch eine Bemerkung dazu, daß die wissenschaftlichen Beiträge über die kurdische Freiheitsbewegung zumeist nur in kurdischer oder türkischer Sprache veröffentlicht werden, und sprach sich dafür aus, sie auch in die Wissenschaftssprache Englisch zu übersetzen, da es ein großes Interesse vieler Forscher an diesen Arbeiten gäbe, und beendete ihre Rede mit einem Appell an die Wissenschaftler, die eine große Verantwortung auch dafür hätten, wie sie ihre Werke präsentierten. In dieser Hinsicht sind auf dem Kongreß selbst schon neue Maßstäbe gesetzt worden, war es hier doch erstmalig gelungen, in einem solch umfangreichen wissenschaftlichen Rahmen eine vollständige Übersetzung aller Rede- und Diskussionsbeiträge in vier Sprachen - neben Kurdisch, Türkisch und Englisch auch Deutsch - zu realisieren, wofür den beteiligten Dolmetscherinnen und Dolmetschern von allen Kongreßteilnehmern an Ort und Stelle der gebotene Respekt nicht versagt wurde.


Anmerkungen:

[1] Warum wird Kurden und Basken verwehrt, was Kosovo-Albaner dürfen? Von Norman Paech, Freitag, 18.01.2008
[2] Bei diesen Menschenrechtsorganisationen handelt es sich um: Bar Human Rights Committee (Großbritannien), Rafto Foundation (Norwegen), Kurdish Human Rights Project (Großbritannien) und Medico International (Deutschland).
[3] Zu Kritisch. Türkei verweigert norwegischer Menschenrechtlerin die Einreise. DAPD, 25.04.2010,
http://www.epochtimes.de/570139_tuerkei-verweigert-norwegischer-menschenrechtlerin-die-einreise-.html


(Fortsetzung folgt)

23. Februar 2012