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BERICHT/120: Kapitalismus final - Anatomie der Krise (SB)


"Kapitalismus in der Krise - Plädoyer für eine Revolte"

Auftaktveranstaltung am 6. September 2012 in Hamburg-St. Georg

Im Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Winfried Wolf
Foto: © 2012 by Schattenblick

Die Krise, die dem Kapitalismus seit jeher immanent ist, wurde 2007/2008 auf eine Weise manifest, die den vordem gehegten Glauben an eine vornehmlich auf dem Finanzmarkt endlos prozessierende Kapitalakkumulation zutiefst erschütterte. Die Probleme der gesellschaftlichen Reproduktion, der politischen Legitimation, des Klimawandels, der Nutzung fossiler, atomarer und pflanzlicher Energieträger wie des durch agroindustrielle Bewirtschaftung und monopolistische Ressourcenkontrolle anwachsenden Hungers kulminieren in ihrer globalen Synchronizität zu einer Katastrophe, die in den westlichen Metropolengesellschaften zu Unrecht in eine hypothetische Zukunft verlagert wird. Für Milliarden Menschen hat die Krise längst die Qualität einer existenzbedrohenden Notlage angenommen, was in den davon bislang weitgehend verschont gebliebenen Zentren des HighTech-Kapitalismus mit einer dementsprechend aggressiven Kultur der Selbstbehauptung und Ignoranz quittiert wird.

Mit dem historisch bislang ungekannten Problem zu leben, daß der inneren Widersprüchlichkeit des Kapitalismus durch den Verlust äußerer Expansionsmöglichkeiten final erscheinende Grenzen gesetzt sind, heißt in einem linken und humanistischen Sinne, den Widerspruch zwischen der beanspruchten Reformierbarkeit dieses Verwertungssystems und der zusehends katastrophaleren Zerstörungen, die es zeitigt, auf parteiliche Weise in Richtung seiner Überwindung zu entwickeln. Die von einem Bündnis diverser Organisation aus dem linken Spektrum Hamburgs konzipierte Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" soll dazu beitragen, das Verständnis des "Charakters der Krise, die Zusammenhänge zwischen ihren verschiedenen Erscheinungsformen und die möglichen Folgen" zu erweitern, um "emanzipatorische, fortschrittliche Veränderungen" zu initiieren, "die das Ende des Kapitalismus einläuten", anstatt ihm auf fatale Weise zu erliegen [1].

Am Rednerpult - Foto: © 2012 by Schattenblick

Christin Bernhold führt in die Veranstaltungsreihe ein
Foto: © 2012 by Schattenblick

Zu Beginn der Auftaktveranstaltung umriß die Sprecherin der Linksjugend [`solid] Hamburg, Christin Bernhold, Sinn und Zweck der Veranstaltungsreihe, bevor sie das Wort an den Referenten Winfried Wolf abgab. Der Ökonom und promovierte Philosoph arbeitet seit Mitte der 1970er Jahre zu Themen wie Weltwirtschaft, seit Mitte der 1980er Jahre zum Thema Verkehr - Kritik der Autogesellschaft und alternative Verkehrsplanung - und seit dem Jugoslawienkrieg 1998 auch zum Thema Krieg und Frieden wie dem Zusammenhang zwischen Kriegen und Kapitalismus. Wolf ist verantwortlicher Redakteur der Zeitung "Gegen den Krieg" und Chefredakteur der Zeitung "Lunapark21 - Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie". Von 1994 bis 2002 war er Mitglied des Bundestages als Abgeordneter der PDS und deren verkehrspolitischer Sprecher. Heute arbeitet er, ohne Mitglied der Partei Die Linke zu sein, für das Büro der Bundestagsabgeordneten Sabine Leidig, früher Geschäftsführerin von Attac.

Winfried Wolf wies einleitend darauf hin, daß der aktuelle Beschluß des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Bundeswehr auch bei katastrophalen Ereignissen im Inneren eingesetzt werden kann, längst eine Entsprechung auf Ebene der EU hat. Die sogenannte Solidaritätsklausel sieht vor, daß Armeeeinheiten in Griechenland, Portugal, Irland, Spanien, Italien oder anderen Ländern eingesetzt werden können, wenn "von Menschen verursachte Katastrophen" stattfinden und die Regierung des jeweiligen Landes zur Hilfe ruft. Als ein weiteres aktuelles Schlaglicht erwähnte der Referent eine boomende Bunkerindustrie zum Schutz der Reichen in künftigen Kriegen, wobei 90 Prozent der Kunden für sich selbst bauen wollen. Man könne also sagen, daß die herrschende Klasse vorsorgt und der Zynismus dieser Kreise soweit geht, von extremen Klimaveränderungen und neuen Kriegen auszugehen, für die sie Vorsorge zu treffen haben.

Das Thema Kapitalismus in der Krise ist mehrdeutig gestellt: Man könne der Auffassung sein, daß sich der Kapitalismus in der Krise befindet, oder andererseits die Reaktion des Kapitalismus auf eine Krise untersuchen. Nach gängiger Lesart erscheine die Krise wie ein Mysterium, das sich der Ergründung entzieht. Ist es der gierige Mensch, ein Herdentrieb oder die Unwissenheit über die Bewegungsgeschwindigkeit des Geldes und die Industriezyklen, die den Absturz herbeiführen? Dieser Verschleierung hielt Wolf eine Analyse der kapitalistischen Krise entgegen, die sich in sieben Ebenen darstellen läßt.

Winfried Wolf - Foto: © 2012 by Schattenblick

Mit bestimmtem Auftreten schwer durchschaubare Verhältnisse durchdringen
Foto: © 2012 by Schattenblick

Als erste Ebene ist eine Krise der Realwirtschaft zu nennen. In den letzten 200 Jahren waren 25 Krisen der Realwirtschaft zu verzeichnen, die relativ regelmäßig alle sieben bis neun Jahre wiedergekehrt sind. In Westdeutschland gab es nach der Phase des sogenannten Wirtschaftswunders bis 1967 keine großen realwirtschaftlichen Krisen, die dann jedoch 1967, 1974, 1981/1982, 1990/1991, 2001/2002 und 2007/2008 auftraten. Diese Krisen seien dem Kapitalismus immanent und daher nicht auf partikuläres Fehlverhalten zurückzuführen. In den USA werde die künftige Regierung die Sparmaßnahmen verschärfen. Mit Japan stecke die zweitgrößte Ökonomie der Welt seit 1990 in einer Dauerkrise, obgleich Tausende Milliarden Dollar ohne Erfolg keynesianisch in die Ökonomie gepumpt wurden und die japanische Verschuldung inzwischen dreimal so hoch wie die deutsche ist. In China kreuzt sich ein Manchesterkapitalismus mit einer Politbürokratie, die die Wirtschaft kontrolliert. Dies zeitigt ein klassisches kapitalistisches Wachstum, das jedoch seit zwei oder drei Jahren stockt. Da China neben Brasilien und Rußland der weltweit einzig aufnahmefähige Sektor für Waren aus Europa und den USA ist, stellt sich dieser Rückgang sehr bedrohlich für die exportorientierten Industrien dar. In der EU herrscht längst eine neue Rezession in der Eurozone mit Arbeitslosenquoten in Griechenland und Spanien von 25 Prozent, in Italien und Portugal von 15 Prozent, in Frankreich von 12 Prozent und damit die Gefahr extremer sozialer Verwerfungen.

Die zweite Ebene bezieht sich auf die Krise der Branchen. Zentrale Branche ist der Fahrzeugbau, der 2008/2009 massiv eingebrochen ist wie nie zuvor seit 1920er Jahren. Betrug die weltweite Produktion 2007 noch 73 Millionen Fahrzeuge, so brach diese 2008/2009 auf nur noch 58 Millionen ein und lag 2011 immer noch unter dem Stand von 2007. Es kam zu einem Rückgang der Nachfrage in Europa und den USA, hingegen einem Anstieg in Brasilien, Rußland und China. Eine solche Spaltung findet man auch hinsichtlich der Konzerne, wo die Massenhersteller Renault, PSA, Citroen, Fiat, General Motors, Opel und Ford Europe in der Krise sind, während die sogenannten Premiumhersteller insbesondere in Deutschland vorerst noch Oberwasser haben. Aus dieser Konstellation folge, daß auch hier die Krise wieder aufbrechen könne, so Wolf.

Die dritte Ebene betrifft die Verteilungskrise, da die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Die Zahl der deutschen Millionäre ist in den letzten 15 Jahren von 350.000 auf fast eine Million gestiegen, während sich gleichzeitig die Zahl der auf Sozialhilfemaßnahmen angewiesenen Menschen von 2,5 auf 5 Millionen verdoppelt hat. Das sei moralisch empörend und ökonomisch gesehen eine Folge neoliberaler Politik, Löhne zu drücken und öffentliche Haushalte zu reduzieren, um damit höhere Profitmargen zu gewährleisten. Die günstig produzierten Waren können jedoch im Inland kaum abgesetzt werden, weil die Massennachfrage relativ zur Produktionskraft zurückbleibt. Die Lösung im Export zu suchen vereint Europäer, US-Amerikaner und Japaner, was absehbar ein weltweites Ende der Massennachfrage zur Folge haben wird. Zahlreiche Pleiten deutscher Unternehmen finden im Sektor der Massennachfrage statt, was nicht zuletzt mit Regierungspolitik zusammenhängt, die Hilfen vorzugsweise für den Exportsektor bereitstellt.

Die vierte Ebene stellt sich als Nord-Süd-Krise dar. Globalisierung unterwirft alle Winkel der Welt einer Kapitalisierung, wodurch Kleinstökonomien wie Subsistenzwirtschaften, die sich selbst ernähren konnten, in den Weltmarkt integriert und damit ihres Bodens beraubt wurden. Dies hat dazu geführt, daß die Zahl der nach UN-Angaben Hungernden von 250 Millionen im Jahr 1980 auf eine Milliarde im Jahr 2008 angestiegen ist. Eine weltweite Flotte von einer Milliarde Pkw wird teilweise mit Agrokraftstoffen betrieben, was die Endlichkeit der verfügbaren Böden für den Lebensmittelanbau zusätzlich beschleunigt. Ein massiver Anstieg der Preise für Lebensmittel in der Krise ist die zwangsläufige Folge.

Die fünfte Ebene der Krise ist eine ökologische. Kapitalismus richtet sich aufgrund des abstrakten Verwertungsinteresses, das ihn antreibt, letztlich gegen die Lebensinteressen aller auf natürliche Ressourcen angewiesener Organismen. Sklavenhaltung vernichtete allein im Kongo 10 Millionen Menschen, wobei es schon frühzeitig Stimmen gab, die die Vernichtung von Mensch und Natur durch die Kolonialherren verurteilten. Wolf zitierte in diesem Zusammenhang eine Passage von Friedrich Engels, die höchst modern anmutet. 1992 wurde bei der Konferenz zu Umwelt und Entwicklung in Rio das Thema der Umweltzerstörung durch den Kapitalismus thematisiert und die Endlichkeit des Öls auf die Tagesordnung gesetzt. Dessen ungeachtet bestand die Reaktion auf die Krise darin, daß mit Abwrackprämien, neuen Straßenbauprojekten und einer Senkung der Umweltauflagen für Pkw genau das gefördert wurde, was Teil der ökologischen Krise ist. Die Katastrophe von Fukushima wird verdrängt, obgleich sie die japanische Hauptinsel buchstäblich in zwei Hälften spaltet. Hinzu kommen Phänomene wie Facebook, bei denen ein zunächst unbedeutendes Unternehmen binnen kurzer Fristen auf eine Milliarde User angeschwollen ist: Der Stromverbrauch von Facebook übersteigt den Bedarf an Elektrizität von einer Milliarde Menschen in Indien.

Die sechste Ebene bezieht sich auf die Finanzkrise, die die große Krise 2008 ausgelöst hat. Wertpapiere, die angeblich mit Sicherheiten hinterlegt waren, erwiesen sich als Derivate, für die das Gegenteil galt. Der Finanzsektor hatte sich in den letzten 25 Jahren dreimal schneller entwickelt als die Realwirtschaft. Da man in der Realwirtschaft nicht mehr investieren konnte, wechselte man zu Immobilien, Hypotheken und Spekulationsgeschäften. Große Banken wurden faktisch verstaatlicht, während sie ihr Geschäft ungerührt weiterbetrieben. So erhielt die Deutsche Bank zwar keine deutsche, doch indirekt US-amerikanische Hilfe über die Sicherung des weltgrößten Versicherungskonzerns AIG. Die Bankenvertreter brachten de facto ihre eigenen Gesetze ein und entdemokratisierten im Schulterschluß von Regierungspolitik und Finanzkapital die Parlamente. Zwischen 2008 und 2010 sind 1,5 Billionen Dollar Steuergelder an die privaten Banken geflossen. Jetzt soll es auf einmal eine Krise der öffentlichen Haushalte sein, denen man Sparmaßnahmen abverlangt. Goldman Sachs zahlte 2010/2011 pro Jahr an seine 33.000 führenden Angestellten 13 Milliarden Dollar Boni aus, andere Großbanken wie die Deutsche Bank verfuhren ähnlich. Die Banken setzen längst fort, was sie vor der Krise getan haben, diesmal gesponsort mit immensen Steuergeldern.

Als siebte Ebene nannte Wolf die Dollarkrise. Der Kapitalismus zeichnete sich bislang durch drei Hegemonieperioden aus: Den niederländischen Kapitalismus (1620-1760), das britische Empire im gesamten 19. Jahrhundert und das US-Imperium, das Anfang des 20. Jahrhunderts begann. Imperium meint im Kapitalismus die Einheit von Wirtschaftsmacht, Währungsmacht, Militärmacht und Kulturmacht. Die Gold-Dollar-Bindung wurde 1972 aufgehoben, die USA sind gigantisch verschuldet, der Hauptkäufer der US-amerikanischen Schuldverschreibungen ist China, das die eigene Währung zur Verbesserung seiner Exportchancen niedrig hält. Nachhaltig ist diese Konstruktion nicht, wobei die Ablösung des US-Imperiums durch ein anderes natürlich keine wünschenswerte Option sein könne, so der Referent.

Diese sieben Ebenen stellen in ihrer Gesamtheit ein umfassendes Krisenpanorama dar, wobei von einer Bereinigung der Problemlage keine Rede sein kann. Auch Deutschland als vermeintliche Insel der Seligen könnte bald ganz anders aussehen. Der Kapitalismus schleudert die Menschen in existentielle Krisen, wofür Peak Oil und Eurokrise als Beispiele angeführt werden können. Der Begriff Endlichkeit der Rohstoffe fand 1973 Eingang in die öffentliche Debatte, 1992 spielte die Klimakonfernez in Rio eine wichtige Rolle, im Dezember 2009 wurden bei der Klimakonferenz in Kopenhagen die von Menschen gemachten Emissionen definitiv für die Klimaveränderungen verantwortlich gemacht. Dennoch hat die Rettung des weltgrößten Autoherstellers General Motors durch die Obama-Regierung dazu geführt, daß GM heute eine Verdopplung der weltweiten Pkw-Flotte in den nächsten 15 Jahren anstrebt. Die führenden Automobilkonzerne errichten neue Fabriken, um die Produktionszahlen zu steigern, wobei insbesondere die BRICS-Staaten zulegen.

Winfried Wolf - Foto: © 2012 by Schattenblick

Faktengestützte Analyse zeigt Widersprüche auf
Foto: © 2012 by Schattenblick

Was die Eurokrise betrifft, könne man die Funktion des Euro mit einem Boxkampf vergleichen, bei dem zwei Akteure sehr unterschiedlicher Gewichtsklassen in den Ring gelassen werden. Das 2001 eingegangene Euro-Experiment hat schon einmal im Zeitraum von 1979 bis 1993 katastrophal geendet. Damals kettete das Europäische Währungssystem (EWS) nach massiven Auf- und Abwertungen seit dem Zweiten Weltkrieg alle Währungen bis auf die griechische Drachme fest aneinander und räumte ihnen nur eine geringfügige Oszillation ein, wobei die D-Mark der Fixstern war. In dieser Phase gab es mehrere Währungskrisen: Eine Spekulation gegen die skandinavischen Währungen, die 1990 ausscheiden mußten, 1992 die Krise des britischen Pfund und 1993 die Auflösung des EWS. Die Bilanz lautete: Im Jahr 1993 hatten die italienische Lira verglichen mit 1979 um 85 Prozent, die griechische Drachme um 90 Prozent, andere Währungen um 50 bis 60 Prozent abgewertet. Nur wenige Währungen wie der Gulden in den Niederlanden oder der Schilling in Österreich hatten geringfügig gegenüber der D-Mark gewonnen.

Dieser Praxisversuch zeigte, daß die Länder mit schwächeren Ökonomien bei gleichgehaltenen Währungen der deutschen Exportmaschine nicht standhalten konnten, weshalb sie massiv abwerten mußten. Leichtgewichte haben keine Chance, wenn ihnen die Möglichkeit abzuwerten genommen wird. Dennoch wurde der Versuch unter deutscher Führung wiederholt, worauf Deutschland einen gewaltigen Exportüberschuß erwirtschaftete und die Peripherieländer in die Knie zwang. So erlebte Griechenland eine Deindustrialisierung und den Rückgang der staatlichen Einnahmen infolge der weithin gelobten Steuersenkungen zugunsten des großen Kapitals. Von Großprojekten wie der Olympiade 2004 in Athen, der Brücke über den Isthmus von Korinth, der U-Bahn in Athen oder gigantischen Importen von Rüstungsgütern profitierten deutsche, französische und britische Konzerne.

Wenngleich die griechische Wirtschaft in der Tat von Korruption geprägt ist, wurde diese doch insbesondere von Schmiergeldern deutscher Konzerne befeuert. Eher zufällig kam bei Prozessen gegen Siemens heraus, daß binnen zehn Jahren allein von diesem Konzern 400 Millionen Euro in das kleine Land gepumpt worden waren. Griechenland war immer hoch verschuldet, was im Zuge der Krise wie in allen anderen Ländern zunahm. Das Eingreifen der Ratingagenturen war daher eine Frage gezielter Politik gegen Griechenland, um ein Exempel zu statuieren und mit der Troika ein Instrument direkter Kontrolle zu schaffen. Seither wird im deutschen Bundestag beschlossen, welche Sparmaßnahmen in Griechenland durchzuführen sind. So wurde im Februar ein 700 Seiten starker Katalog durchs Parlament gepeitscht, an dessen vollständige Erfüllung weitere deutsche Zahlungen gekoppelt waren. Iren, Italiener, Spanier betonen, daß sie völlig anders als Griechenland seien. Umgekehrt werde ein Schuh draus, denn was in Griechenland geschieht, sei Vorbild dessen, was in der gesamte EU an Sparmaßnahmen, Entdemokratisierung und Errichtung einer direkten Kapitalherrschaft passieren soll, so der Referent.

Gibt es einen bequemen Ausgang aus der siebenfachen Krise? Green New Deal oder Green Economy propagieren Wohlstand ohne Wachstum, ein kleineres Wirtschaftssystem, eine Balance zwischen Selbst- und Fremdversorgung. Die systemimmanenten Wachstumszwänge des Kapitalismus müßten gemildert werden, heißt es. Nachhaltige Entwicklung wird auch auf UN-Ebene propagiert, wobei die Allokation von Kapital in braunen Industriebereichen zugunsten grüner Sektoren abgebaut werden soll. Der grüne Kapitalismus verfüge, wie seine Verfechter propagieren, über grundlegendes Potential für ein neues gesellschaftliches Verhältnis und schaffe neue Legitimation für die Marktwirtschaft. Hinter diesem grünen Kapitalismus stehen angeblich aufsteigende Kapitalgruppen wie Internet- und IT-Unternehmen einschließlich der großen Energieversorger und selbst Ölkonzerne.

Bei BP, das beispielgebend genannt wird, ist jedoch von einer solchen Trendwende nichts zu spüren. Daher bestehe kein Anlaß, den Großkonzernen eine derartige Strategie anzudichten, meint Wolf. Unter den 500 weltweit führenden Unternehmen, die ihre Profitmasse in den letzten zwölf Jahren verdreifacht haben und von denen direkt oder indirekt Hunderte Millionen Lohnempfänger abhängig sind, findet man 372 westliche Konzerne, die den Weltmarkt weitgehend dominieren. Eigentümer sind vor allem Banken und Hedgefonds, die letztlich in Händen weniger hundert Personen sind. In den letzten zwölf Jahren stärker geworden sind Pharmakonzerne, Stahl- und Maschinenbau, Baukonzerne, Agrobusiness und Gesundheitsindustrie. Schwächer wurden Nahrungs- und Genußmittel, Einzelhandel. Am meisten gewonnen haben jedoch Öl- und Bergbaukonzerne, also die braune Industrie, die heute 22 Prozent der 500 Unternehmen und 30 Prozent der Profitmarge auf sich vereinen. Rechnet man Ölkonzerne, Bergbau, Auto- und Flugzeugindustrie und Energieversorger zusammen, entfallen rund 40 Prozent des Umsatzes dieser 500 Unternehmen auf fossilistisch ausgerichtete Industriesparten. Hohe Ölpreise rechtfertigen Investitionen in den letzten Winkeln der Welt mit verheerenden Folgen für die Umwelt und die massive Förderung von Agrokraftstoffen. Zugleich wird der Verkehr mit Kraftfahrzeugen und Flugzeugen massiv subventioniert, so daß die realen Kosten externalisiert und von späteren Generationen bezahlt werden müssen.

Daß sich die erforderliche Emphase fundamentaler Kritik an den herrschenden Verhältnissen in Worte fassen läßt, unterstrich Winfried Wolf, indem er die ersten Sätze des Kommunistischen Manifests zitierte:

"Ein Gespenst geht um, das Gespenst des Kommunismus. Alle Mächte des alten Europas haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet. Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor: Der Kommunismus wird bereits von allen europäischen Mächten als eine Macht anerkannt. Es ist hohe Zeit, daß die Kommunisten ihre Anschauungsweise, ihre Zwecke, ihre Tendenzen vor der Welt ganz offen darlegen und dem Märchen vom Gespenst des Kommunismus ein Manifest der Partei entgegenstellen."

Dann schlug der Referent eine zeitgemäße Neuformulierung vor:

"Ein Gespenst geht um die Welt, das Gespenst des Ya Basta, es reicht! Alle Mächte der kapitalistischen Welt haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet. Geeint unter einer Parole, die die Mutter des Neoliberalismus, die britische Premierministerin Margaret Thatcher, formulierte: TINA - there is no alternative. Zweierlei geht aus dieser Tatsache hervor: Der Kampf für eine Alternative zum Kapitalismus wird von allen Mächten im weltweiten Kapitalismus als eine Macht anerkannt. Es ist höchste Zeit, daß diejenigen, die das Weltsystem des Kapitalismus kritisieren und die sogenannte Globalisierung als Zuspitzung aller zerstörerischen Kräfte, die dem Kapital innewohnen, verstehen, ihre Zwecke und Ziele offen darlegen, eine überzeugende Analyse der weltweiten Krise entwickeln und die Zielsetzungen einer allgemeinen gesellschaftlichen Emanzipation verfolgen."
Publikum beim Vortrag - Foto: © 2012 by Schattenblick

Gut gefüllter Saal im Georg-Asmussen-Haus
Foto: © 2012 by Schattenblick

Das Manifest von 1848 holte die Menschen dort ab, wo sie standen, und enthielt auch eine ganze Reihe konkreter Maßnahmen. Auch heute könnte man sich auf notwendige Maßnahmen verständigen, meint Winfried Wolf, der zu diesem Zweck eine Reihe von Forderungen vorschlägt: Den gesamten Finanzsektor unter staatliche Kontrolle stellen, den Reichtum der Milliardäre massiv besteuern, um die gesamten öffentlichen Schulden der Welt auf einen Schlag zu beseitigen, Gleichstellung der Geschlechter, ein alternatives Investitionsprogramm (Kinder, Kultur, Klima), Lohnerhöhungen sowie eine radikale Arbeitszeitverkürzung, die eine Herausbildung gesellschaftlich sinnvoller Tätigkeiten begünstigt.

Mit diesem Vortrag, den der Referent mit großem Engagement hielt, so daß er das hundert Personen umfassende Publikum mühelos in seinen Bann zog, war der Abend im Veranstaltungssaal des Georg-Asmussen-Haus in St. Georg noch nicht beendet. Wolf beantwortete die an ihn gestellten Fragen und tauschte kontroverse Meinungen mit einigen Zuhörern aus, womit der bei derartigen Veranstaltungen meist zu kurz kommende Teil der Diskussion zumindest im Ansatz realisiert wurde. Der Auftakt zu der Veranstaltungsreihe kann als gelungen bezeichnet werden.

Fußnoten:
[1] http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/index.php/ueber-uns

Logo der Veranstaltungsreihe "Kapitalismus in der Krise" - http://www.kapitalismus-in-der-krise.de/images/banners/logo.jpg



24. September 2012